Freibetrag bei der Betriebsveräußerung – und der Erbfall

Nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO ist ein Steuerbescheid zu erlassen, aufzuheben oder zu ändern, soweit ein Grundlagenbescheid (§ 171 Abs. 10), dem Bindungswirkung für diesen Steuerbescheid zukommt, erlassen, aufgehoben oder geändert wird. Grundlagenbescheide in diesem Sinne sind u.a. Feststellungsbescheide nach Maßgabe des § 182 Abs. 1 Satz 1 AO.

Freibetrag bei der Betriebsveräußerung –  und der Erbfall

Diese Korrekturvorschrift enthält eine Berechtigung sowie eine Verpflichtung der Finanzbehörde zur Änderung des Folgebescheids, soweit die Bindungswirkung des Grundlagenbescheids reicht. Der Umfang der vorzunehmenden Anpassung des Folgebescheids folgt mithin der Reichweite der Bindungswirkung des Grundlagenbescheids. Die sog. „Gesamtaufrollung“ des Folgebescheids ist unzulässig. Allerdings beschränkt sich die Bindungswirkung nicht auf die bloße mechanische Übernahme von Zahlen. Vielmehr hat die Finanzbehörde den Folgebescheid vollständig und zutreffend an den Regelungsinhalt des Grundlagenbescheids anzupassen und dabei einen für das Folgeverfahren relevanten Sachverhalt in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht erneut selbständig zu würdigen1.

Für die Frage, inwieweit ein Feststellungsbescheid für die nach § 16 Abs. 4 EStG zu gewährenden Freibeträge Bindungswirkung entfaltet, ist folglich zwischen der Zurechnung des Veräußerungsgewinns und den für den Freibetrag maßgebenden persönlichen Verhältnissen zu differenzieren2. Soweit die Entscheidungen teilweise zu früheren Fassungen des § 16 Abs. 4 EStG ergangen sind, betreffen die Änderungen der Vorschrift diese Differenzierung nicht.

Die sachlichen Voraussetzungen, ob ein Veräußerungsgewinn in bestimmter Höhe entstanden und wem dieser Veräußerungsgewinn zuzurechnen ist, sind Gegenstand des Feststellungsverfahrens und damit für das Einkommensteuerverfahren bindend3. Das gilt nicht nur für die Frage, ob ein Veräußerungsgewinn bei einem bestimmten Steuerpflichtigen überhaupt anzusetzen ist, sondern auch im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen des Freibetrags nach § 16 Abs. 4 EStG. Für eine nur partielle Bindungswirkung in der Weise, dass die Höhe des dem Steuerpflichtigen zugerechneten Veräußerungsgewinns für den Ansatz dem Grunde nach bindend wäre, für die Berechnung eines etwaigen Freibetrags hingegen nicht, gibt es keinen Anlass und keine Rechtfertigung. Hingegen sind die persönlichen Voraussetzungen des Freibetrags (Alter, Berufsunfähigkeit, Objektbeschränkung) nicht Bestandteil der gesonderten Feststellung. Hierüber ist im Folgeverfahren zu befinden4. Dem entsprechend ist bei der Änderung eines Feststellungsbescheids der Folgebescheid soweit anzupassen, als Höhe und Zurechnung des Veräußerungsgewinns dies verlangen. Hingegen ermöglicht § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO keine Korrektur von Fehlern, die vom Regelungsinhalt des Grundlagenbescheids nicht, auch nicht als Folgewirkung, berührt werden.

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Nachdem der geänderte Feststellungsbescheid sowohl die Zurechnung als auch damit einhergehend die Höhe des Veräußerungsgewinns bei der Erbin geändert hatte, war nach diesen Maßstäben das Finanzamt berechtigt und verpflichtet, den Einkommensteuerbescheid hinsichtlich des Freibetrags nach § 16 Abs. 4 EStG diesen Änderungen anzupassen und den Freibetrag nunmehr auf der Grundlage des für die Erbin und nur für diese festgestellten Veräußerungsgewinns zu bestimmen. Aufgrund der Bindungswirkung des Feststellungsbescheids ist dabei rechtlich unerheblich, ob die Zurechnung und die Höhe materiell-rechtlich zutreffend waren. Im Streitfall bestehen indes keine Bedenken gegen die materielle Richtigkeit des Feststellungsbescheids des Betriebs-Finanzamt, da die Entstehung des Veräußerungsgewinns -was prinzipiell zwischen den Beteiligten unstreitig ist- an das dingliche Erfüllungsgeschäft anknüpft.

Für die Berücksichtigung von zwei Freibeträgen in der Person der Erbin besteht keine Rechtsgrundlage. Eine (fiktive) Aufteilung des Veräußerungsgewinns auf einen eigenen und einen derivativ erworbenen Anteil für Zwecke der Freibetragsberechnung kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil nur die Erbin nach dem bindenden -und zutreffenden- Inhalt des Feststellungsbescheids einen einheitlichen Veräußerungsgewinn erzielt hat, unabhängig davon, auf welchem Wege sie den Kommanditanteil erworben hat. Im Übrigen wäre die Gewährung zweier Freibeträge an eine Person mit § 16 Abs. 4 Satz 2 EStG nicht vereinbar.

Schließlich ist es auch nicht möglich, der Erbin zusätzlichen zu ihrem eigenen Freibetrag einen solchen des Erblassers zu gewähren.

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Für den Erblasser ist im vorliegenden Fall schon deswegen weder ein Veräußerungsgewinn noch ein Freibetrag zu berücksichtigen, weil der Feststellungsbescheid diesem keinen Veräußerungsgewinn zugerechnet hat. War aber in der Person des Erblassers kein Freibetrag entstanden, so konnte er auch nicht durch Erbfolge auf die Erbin übergehen. Eine gedankliche Aufteilung des Veräußerungsgewinns widerspräche dem bindenden Inhalt des Feststellungsbescheids.

Etwas anderes ergibt sich nicht aus der Entscheidung in BFHE 178, 444, BStBl II 1995, 893. Der Bundesfinanzhof hat auch in jener Entscheidung nicht etwa über einen Freibetrag des Erblassers, sondern über Freibeträge der Erben entschieden. Er hat auch nur den Erben Freibeträge gewährt. Insbesondere hat er nicht den Erben Freibeträge zugerechnet oder zugestanden, die dem Erblasser zustehen oder ursprünglich dem Erblasser zugestanden hätten, wenn er die Entstehung des Veräußerungsgewinns noch erlebt hätte. Der Bundesfinanzhof hat im Rahmen der Frage, ob den Erben -und nur diesen- der erhöhte Freibetrag nach § 16 Abs. 4 Satz 3 EStG i.d.F. des Gesetzes zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft und zur Einschränkung von steuerlichen Vorteilen (Steuerentlastungsgesetz -StEntlG- 1984) zusteht, die noch in der Person des Erblassers verwirklichten, auf die persönlichen Voraussetzungen bezogenen Tatbestandsmerkmale -und nur diese- den Erben zugerechnet.

Der Bundesfinanzhof kann dahingestellt sein lassen, ob diese zu § 16 Abs. 4 EStG i.d.F. des StEntlG 1984 aufgestellten Grundsätze auf die heutige Rechtslage übertragbar sind. Sie betreffen einen im Streitfall unerheblichen Gesichtspunkt, da die Erbin die persönlichen Voraussetzungen des Freibetrags in eigener Person erfüllte, weswegen ihr das Finanzamt zutreffend einen Freibetrag gewährt hat. Auf die Frage, ob ihr die persönlichen Voraussetzungen des E zugerechnet werden können, kommt es nicht an. Der zweite Freibetrag ist im Streitfall vielmehr bereits deshalb zu versagen, weil keine Rechtsgrundlage dafür existiert, einem Steuerpflichtigen, der einen Veräußerungsgewinn erzielt hat, zwei Freibeträge zuzusprechen. Ein allgemeiner Rechtssatz des Inhalts, dass dem Erben zusätzlich zu seinem eigenen Freibetrag ein weiterer Freibetrag zusteht, der dem Erblasser zustünde, wenn er die Realisierung des Veräußerungsgewinns noch erlebt hätte, mit der weiteren Folge, dass die Abschmelzung nach § 16 Abs. 4 Satz 3 EStG gemildert würde, ist weder dem Gesetz noch dem Urteil in BFHE 178, 444, BStBl II 1995, 893 zu entnehmen.

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Bundesfinanzhof, Urteil vom 9. Juni 2015 – X R 6/13

  1. vgl. bereits BFH, Urteil vom 11.04.1990 – I R 82/86, BFH/NV 1991, 143; BFH, Urteil vom 29.06.2005 – X R 31/04, BFH/NV 2005, 1749, sowie die beiden BFH, Beschlüsse vom 06.11.2009 – VIII B 38/09, BFH/NV 2010, 177; und vom 30.08.2012 – X B 97/11, BFH/NV 2013, 13, jeweils m.w.N. zur ständigen Rechtsprechung; Koenig/Koenig, Abgabenordnung, 3. Aufl., § 175 Rz 21; Klein/Rüsken, AO, 12. Aufl., § 175 Rz 27 f; Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, § 175 AO Rz 11, jeweils m.w.N.[]
  2. vgl. BFH, Urteile vom 14.04.1988 – IV R 219/85, BFHE 153, 285, BStBl II 1988, 711, unter II. 2.a; vom 01.12 1992 – VIII R 57/90, BFHE 170, 320, BStBl II 1994, 607, unter IV.02.a; in BFHE 178, 444, BStBl II 1995, 893, unter 2.a; Blümich/Schallmoser, § 16 EStG Rz 703 f; Schmidt/Wacker, EStG, 34. Aufl., § 16 Rz 588; ebenso R 16 Abs. 13 Sätze 1, 2 EStR 2013[]
  3. ständige Rechtsprechung, vgl. nur BFH, Urteile vom 07.05.2008 – X R 21/05, BFH/NV 2008, 1436; vom 19.07.2011 – IV R 42/10, BFHE 234, 226, BStBl II 2011, 878; vom 10.04.2014 – III R 20/13, BFHE 244, 530, BFH/NV 2014, 1295[]
  4. vgl. BFH, Urteil in BFHE 178, 444, BStBl II 1995, 893[]