Mindestbesteuerung

Die sog. Mindestbesteuerung gemäß § 10d Abs. 2 EStG ist „in ihrer Grundkonzeption“ einer zeitlichen Streckung des Verlustvortrags nach Ansicht des Bundesfinanzhofs doch nicht verfassungswidrig.

Mindestbesteuerung

Die Einkommen- und Körperschaftsteuer soll die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Steuersubjekts abschöpfen. Ihre Bemessungsgrundlage ist deshalb das „Nettoeinkommen“ nach Abzug der Erwerbsaufwendungen. Fallen die Aufwendungen nicht in demjenigen Kalenderjahr an, in dem die Einnahmen erzielt werden, oder übersteigen sie die Einnahmen, so dass ein Verlust erwirtschaftet wird, ermöglicht es das Gesetz, den Verlustausgleich auch über die zeitlichen Grenzen eines Bemessungszeitraums hinweg vorzunehmen (sog. überperiodischer Verlustabzug). Seit 2004 ist dieser Verlustabzug begrenzt: 40 % der positiven Einkünfte oberhalb eines Schwellenbetrags von 1 Mio. € werden auch dann der Ertragsbesteuerung unterworfen, wenn bisher noch nicht ausgeglichene Verluste vorliegen (sog. Mindestbesteuerung). Damit wird die Wirkung des Verlustabzugs in die Zukunft verschoben.

Ob diese Regelung verfassungsgemäß ist, hatte der Bundesfinanzhof in einem 2010 entschiedenen Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes für ernstlich zweifelhaft gehalten für Fälle, in denen eine sog. Definitivwirkung im Raum stand, also der vom Gesetzgeber lediglich beabsichtigte zeitliche Aufschub der Verlustverrechnung in einen endgültigen Ausschluss der Verlustverrechnung hineinzuwachsen drohte1. Beispiele: Im Folgejahr einer Mindestbesteuerung bei einer Kapitalgesellschaft kommt es zu einer Anteilsübertragung, die einen Ausgleich eines noch offenen Verlustvortrags endgültig ausschließt. Oder: Der Steuerpflichtige verstirbt im Folgejahr, die Erben können den noch offenen Verlustausgleich des Erblassers nicht nutzen.

Im Urteilsfall machte eine Kapitalgesellschaft mit mehr als tausend Gesellschaftern, die die Verwaltung von Vermögensanlagen betrieb, im Streitjahr 2004 geltend, dass sie den wegen der Mindestbesteuerung nicht ausgleichfähigen Verlust in der Zukunft nicht mehr würde ausgleichen können. Denn sie werde in den nächsten 20 Jahren bis zu ihrer dann geplanten Liquidation infolge der sachlichen Steuerbefreiung von Dividendenerträgen kein ausgleichsfähiges Einkommen erzielen, so dass die Verluste bei ihr zwangsläufig definitiv würden. Überdies sei die Mindestbesteuerung infolge des durch den aufgeschobenen Verlustausgleich entstehenden Zinsschadens verfassungswidrig.

Der Bundesfinanzhof ist dem nun nicht gefolgt und hat die Mindestbesteuerung nicht als verfassungswidrig angesehen, da die in ihrer Grundkonzeption angelegte zeitliche Streckung des Verlustvortrags den vom Gesetzgeber zu gewährleistenden Kernbereich eines Verlustausgleichs nicht beeinträchtigt.

Ob dies in Definitivsituationen anders zu würdigen ist, konnte offenbleiben, weil sich der spätere Ausschluss einer steuerlichen Ausgleichsmöglichkeit für die klagende Kapitalgesellschaft im Streitjahr nicht hinreichend sicher prognostizieren ließ. Für Sachverhalte, in denen sich eine solche Prognose treffen lässt, steht die Antwort auf die Frage nach der Verfassungswidrigkeit der Mindestbesteuerung nach wie vor aus.

Mit dem Gesetz zur Umsetzung der Protokollerklärung der Bundesregierung zur Vermittlungsempfehlung zum Steuervergünstigungsabbaugesetz ließ der Gesetzgeber zwar den zuvor eingeschränkten innerperiodischen Verlustausgleich im Rahmen von § 2 Abs. 3 EStG 2002 n.F. wieder uneingeschränkt zu, er verschärfte aber die Beschränkung des überperiodischen Verlustabzugs nach § 10d Abs. 2 EStG 2002 n.F.: Verluste, die weder im Veranlagungszeitraum ihrer Entstehung noch im Wege des Verlustrücktrags ausgeglichen werden konnten, sind ab dem Veranlagungszeitraum 2004 im Rahmen des Verlustvortrags nur noch begrenzt verrechnungsfähig. Gemäß § 10d Abs. 2 Satz 1 EStG 2002 n.F. können sie nur noch bis zu einem Gesamtbetrag der Einkünfte von 1 Mio. EUR unbeschränkt abgezogen werden. Darüber hinausgehende negative Einkünfte aus früheren Veranlagungszeiträumen sind nur noch in Höhe von 60 % des 1 Mio. EUR übersteigenden Gesamtbetrags der Einkünfte ausgleichsfähig. Im Ergebnis werden 40 % des positiven Gesamtbetrags der laufenden Einkünfte eines Veranlagungszeitraums unabhängig von etwaigen Verlusten in früheren Perioden der Besteuerung unterworfen, soweit sie die Schwelle von 1 Mio. EUR überschreiten.

Weiterlesen:
Mantelkaufregelungen teilweise verfassungswidrig

Diese Neuerungen im Bereich der Einkommensteuer (sog. Mindestbesteuerung) sind auch bei der Veranlagung zur Körperschaftsteuer im Streitjahr zu beachten (§ 8 Abs. 1 KStG 2002), ebenso die gleichlautende Einschränkung des gewerbesteuerrechtlichen Verlustvortrags bei der Ermittlung des Gewerbesteuermessbetrags durch § 10a Sätze 1 und 2 GewStG 2002 n.F.

Dabei begegnet es keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken, dass auf dieser Grundlage der Abzug (auch) solcher bisher nicht ausgeglichener Verluste betroffen ist, die vor dem Inkrafttreten der Neuregelung entstanden sind. Dass der zum 31.12.2003 festgestellte nicht ausgeglichene (Gewerbe-)Verlust in den sachlichen Anwendungsbereich der Neuregelung fällt, stellt sich –wie der Bundesfinanzhof in einer vergleichbaren Konstellation schon entschieden hat2– als eine tatbestandliche Rückanknüpfung dar, die nicht gegen das Vertrauensschutzgebot verstößt3. Das Vertrauen in den Fortbestand einer bestimmten Ausgestaltung einer Verlustabzugsregelung muss schon angesichts der Ungewissheit, ob und wann es tatsächlich zur Möglichkeit einer Verlustverrechnung kommt, gegenüber einem gesetzgeberischen Änderungsinteresse zurücktreten. Denn es fehlt an einer rechtlichen Verfestigung der wirtschaftlichen Position der Verlustausgleichsmöglichkeit im Augenblick der Gesetzesänderung4.

Die sog. Mindestbesteuerung verstößt in ihrer Grundkonzeption nicht gegen Verfassungsrecht.

Die normative und systematische Grundlegung sowie die einschlägige Rechtsprechung des BVerfG und des BFH und die Auseinandersetzung im Schrifttum stellen sich wie folgt dar:

Aus dem generellen verfassungsrechtlichen Maßstab des Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) lässt sich für die direkten Steuern sowohl ein systemtragendes Prinzip ableiten –die Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Steuersubjekts– als auch das Gebot, dieses Prinzip bei der Ausgestaltung des einfachen Rechts folgerichtig umzusetzen5. Zur Ermittlung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Steuersubjekts bedarf es eines Ausgleichs zwischen den vom ihm erwirtschafteten besteuerbaren Einnahmen und den zur Erzielung dieser Einnahmen aufgewendeten Ausgaben. Das damit beschriebene („objektive“) Nettoprinzip ist jedenfalls einfachgesetzlich in § 2 Abs. 2 EStG 2002 angelegt6 und auf der Grundlage der Verweisung in § 8 Abs. 1 KStG 2002 auch im Bereich der Körperschaftsteuer anzuwenden7. Für die Gewerbesteuer gilt infolge der Verweisung in § 7 Satz 1 GewStG 2002 auf die Grundsätze der ertragsteuerrechtlichen Gewinnermittlung als Grundlage für die Ermittlung des Gewerbeertrags (vor Hinzurechnungen bzw. Kürzungen) nichts anderes8.

Das Periodizitätsprinzip des § 2 Abs. 7 Sätze 1 und 2 EStG 2002 (bzw. des § 7 Abs. 3 Sätze 1 und 2 KStG 2002, § 14 Satz 2 GewStG 2002) beschränkt das Nettoprinzip des § 2 Abs. 2 EStG 2002 nicht: Ein Abzug von Erwerbsaufwendungen ist auch dann zuzulassen, wenn die Erwerbsaufwendungen nicht im Veranlagungs- oder Erhebungszeitraum des Zugangs der Erwerbseinnahmen anfallen9. Dies kommt einfachgesetzlich in Regelungen zum sog. periodenübergreifenden Verlustausgleich zum Ausdruck (§ 10d EStG 2002, § 10a GewStG 2002). Die Möglichkeit des periodenübergreifenden Verlustausgleichs begründet aber nicht ihrerseits eine Bedingung der (Ertrags-)Besteuerung in der Weise, dass jene erst dann gerechtfertigt ist, wenn das Steuersubjekt gemessen an der Gesamtdauer seines einkommensbezogenen Tätigwerdens bzw. seiner wirtschaftlichen Existenz tatsächlich einen Zuwachs wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit erzielt10. Eine solche Bedingung würde einem sachangemessenen Ausgleich der widerstreitenden Prinzipien (im Sinne einer wechselseitigen Begrenzung von Periodizitäts- und Nettoprinzip11) nicht entsprechen12.

Soweit unabhängig von dieser Grundfrage auf einen Vorrang des Nettoprinzips verwiesen wird, der aus dem Umstand der jährlichen Verlustfeststellung (§ 10d Abs. 4 EStG 2002, § 10a Satz 6 GewStG 2002) abzuleiten sei, ist dem nicht zu folgen. Denn die (Verlust-)Feststellung löst das Spannungsverhältnis zwischen Abschnittsbesteuerung und Nettoprinzip nicht in einer eindeutigen Weise auf: Sie schafft zwar durch einen feststellenden Verwaltungsakt zeitnah Rechtssicherheit zur Höhe des in der jeweiligen Ermittlungsperiode erzielten Verlustes, berührt aber die Frage nach der sachangemessenen Ausgestaltung der ertragsteuerlichen Regelungen entsprechend der Maßgabe des „materiell-rechtlichen Prinzips“ der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit nicht.

Weiterlesen:
Steuerfreie ausländische Gewinnausschüttungen - und der Betriebsausgabenabzug

Die sog. Mindestbesteuerung beschränkt die Wirkung des periodenübergreifenden Verlustausgleichs (nur) „der Höhe nach“. Die Begründung zum Regierungsentwurf des § 10d Abs. 2 EStG 2002 n.F.13 weist zwar darauf hin, dass durch die sog. Mindestbesteuerung „keine Verluste endgültig verloren“ gingen, seine eigentlichen Beweggründe für die Regelungsänderung offenbart der Gesetzgeber dann aber darin, dass „der Grund für die Beschränkung … in dem gewaltigen Verlustvortragspotential der Unternehmen zu sehen (sei), das diese vor sich herschieben. Um das Steueraufkommen für die öffentlichen Haushalte kalkulierbar zu machen, ist es geboten, den Verlustvortrag zu strecken. Nur so ist auf Dauer eine Verstetigung der Staatseinnahmen gewährleistet.“ Damit ist dem Regierungsentwurf zu § 10d Abs. 2 EStG 2002 n.F.14 eine ausschließlich fiskalischen Interessen geschuldete Begründung beigestellt worden15.

Das BVerfG hat sich bereits mehrfach –wenn auch noch nicht mit Blick auf § 10d Abs. 2 EStG 2002 n.F.– zu Einschränkungen des periodenübergreifenden Verlustausgleichs bzw. der Verlustverrechnung geäußert. Danach ist ein uneingeschränkter Verlustvortrag verfassungsrechtlich nicht garantiert. Die Beschränkung des Verlustvortrags auf bestimmte Einkunftsarten und damit der Ausschluss anderer Einkunftsarten von jeglichem Verlustvortrag war ebenso wenig verfassungsrechtlich zu beanstanden16 wie die Beschränkung des Verlustvortrags auf bestimmte, durch Betriebsvermögensvergleich ermittelte Betriebsverluste17. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bestanden ferner unter Berücksichtigung des verfassungsrechtlichen Grundsatzes der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit keine Bedenken gegen eine Beschränkung des Verlustabzugs auf einen einjährigen Verlustrücktrag und einen fünfjährigen Verlustvortrag18. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht19 den völligen Ausschluss der Verlustverrechnung bei laufenden Einkünften aus der Vermietung beweglicher Gegenstände (§ 22 Nr. 3 Satz 3 EStG 1983) für verfassungswidrig erklärt.

Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs20 bestehen im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 GG grundsätzlich insoweit keine Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit einer Verlustausgleichsbeschränkung, als der Verlustausgleich nicht versagt, sondern lediglich zeitlich gestreckt wird. Eine Verlagerung des Verlustausgleichs auf spätere Veranlagungszeiträume ist im Hinblick darauf nicht zu beanstanden, dass das Grundrecht seine Wirkung grundsätzlich veranlagungszeitraumübergreifend entfaltet. Es genügt, wenn die Verluste überhaupt, sei es auch in einem anderen Veranlagungszeitraum, steuerlich berücksichtigt werden. Insbesondere erstarkt die bei ihrer Entstehung gegebene bloße Möglichkeit, die Verluste später ausgleichen zu können, nicht zu einer grundrechtlich geschützten Vermögensposition (Art. 14 Abs. 1 GG)21. Immerhin hat der Bundesfinanzhof22, eine Beschränkung des Verlustvortrags grundsätzlich gebilligt, wenn der Vortrag zeitlich über mehrere Veranlagungszeiträume gestreckt wird, und hierbei ausgeführt, dass damit nicht zugleich über die Konstellation entschieden sei, dass „negative Einkünfte aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen“ in einem solchen System „nicht mehr vorgetragen werden können“. Darüber hinaus hat der Bundesfinanzhof in seinem Vorlagebeschluss an das Bundesverfassungsgericht23 hervorgehoben, dass die sog. Mindeststeuer durchaus den Schutzbereich des Art. 3 Abs. 1 GG berühre; auch wenn in mehreren summarischen Verfahren nach § 69 Abs. 2 und 3 FGO wegen der die Veranlagungszeiträume übergreifenden Wirkung des Art. 3 Abs. 1 GG die Norm als verfassungsgemäß angesehen worden sei, sei nicht zu verkennen, dass die Begrenzung des vertikalen Verlustausgleichs (im dortigen Streitfall durch § 2 Abs. 3 EStG 2002) trotz der Streckung der Verlustverrechnung nicht nur bei einer kleinen Zahl von Steuerpflichtigen mit gleicher wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit zu nennenswerten Belastungsunterschieden führen könne. Auch bestehe naturgemäß keine Gewissheit, die Verluste in Zukunft verrechnen zu können.

Weiterlesen:
Zeitpunkt der Verlustzurechnung bei einem stillen Gesellschafter

In der Literatur wird die sog. Mindestbesteuerung teilweise für verfassungskonform gehalten24: Die im Einzelfall eintretende Einschränkung des objektiven Nettoprinzips habe der Gesetzgeber ohne Verstoß gegen das allgemeine Willkürverbot in vertretbarer Weise ausgestaltet, da sich Beschränkungen des Verlustvortrags in betragsmäßiger oder zeitlicher Hinsicht jedenfalls im Grundsatz als verfassungskonform erwiesen hätten. Dem wird von anderer Seite entgegengehalten, die durch die „Deckelung“ des Abzugsbetrags bewirkte zeitliche Streckung des Verlustvortrags sei schon „als solche“ verfassungswidrig25. Andere Literaturstimmen nehmen einen Verfassungsverstoß der sog. Mindestbesteuerung nur in den Fällen an, in denen ein Verlust nicht nur zeitlich gestreckt, sondern von einer Wirkung auf die Ermittlung des Einkommens endgültig ausgeschlossen wird („Definitiveffekte“)26, wobei insoweit auch eine verfassungskonforme Reduktion des Wortlauts des § 10d Abs. 2 Satz 1 EStG 2002 n.F. für möglich gehalten wird27. Solche Effekte können im Unternehmensbereich insbesondere bei der Liquidation körperschaftsteuerpflichtiger Unternehmen auftreten, soweit es sich um zeitlich begrenzt bestehende Projektgesellschaften handelt, aber auch etwa bei bestimmten Unternehmensgegenständen (z.B. bei langfristiger Fertigung) und in Sanierungsfällen28.

Der Bundesfinanzhof hat bereits29 hervorgehoben, dass die Abzugsfähigkeit von Verlusten nicht in ihrem Kernbereich betroffen und gänzlich ausgeschlossen sein darf30. Er hält daran fest. Diesem Maßstab wird § 10d Abs. 2 EStG 2002 n.F. unter Berücksichtigung der beschriebenen Ausgangslage und vor dem Hintergrund der dargestellten Rechtsprechung und des einschlägigen Meinungsbildes im Schrifttum jedenfalls dann gerecht, wenn nicht ein sog. Definitiveffekt eintritt.

Die Grundkonzeption der zeitlichen Streckung des Verlustvortrags entspricht auch angesichts des Zins- bzw. Liquiditätsnachteils den verfassungsrechtlichen Anforderungen. Insoweit entnimmt der Bundesfinanzhof der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine Unterscheidung zwischen temporären und endgültigen Steuereffekten31. Wenn sich danach der maßgebliche Zeitpunkt der einkommensteuerrechtlichen Berücksichtigung eines gewinnmindernden Aufwands, also das Wann, nicht das Ob der Besteuerung, nicht mit Hilfe des Maßstabs wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit oder des objektiven Nettoprinzips bestimmen lässt, ist eine „Verluststreckung“ verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Dabei liegt es auch innerhalb der gesetzgeberischen Typisierungsbefugnis32, dass die zeitliche Streckung des Verlustvortrags das Risiko für den einkommenswirksamen Abzug des Verlustes erhöht, da „naturgemäß keine Gewissheit besteht, die Verluste in Zukunft verrechnen zu können“33. Diesem Ergebnis steht auch die Existenz verschiedener gesetzlicher Regelungen nicht entgegen, die als Rechtsfolge eine „Vernichtung“ von Verlustvorträgen in bestimmten Fallsituationen vorsehen (z.B. im Zuge einer Anteilsübertragung: § 8c KStG 2002 n.F.). Dies gilt sinnentsprechend z.B. auch für die Situation der Beendigung der persönlichen Steuerpflicht angesichts der fehlenden Möglichkeit der „Verlustvererbung“34.

Der Gesetzgeber hat durch das Grundkonzept der Mindestbesteuerung die Grenzen seiner Gestaltungsfreiheit nicht willkürlich überschritten; er kann sich für diese Ausgestaltung des Verlustabzugs vielmehr auf den im Gesetzgebungsverfahren erteilten Hinweis auf eine Verstetigung des Steueraufkommens35 infolge der Dämpfung der Steuerauswirkungen konjunktureller Schwankungen berufen36. Denn damit hat der Gesetzgeber nicht nur auf den (nicht in ausreichender Weise rechtfertigenden) Einnahmezweck (Erzielung von Steuermehreinnahmen), sondern auf einen in der Konzeption der Regelung angelegten „qualifizierten Fiskalzweck“37 verwiesen38. Daher kann –mit Blick auf § 10a GewStG 2002 n.F.– offenbleiben, ob die Beschränkung (auch) dadurch gerechtfertigt werden kann, dass auf diese Weise die kommunale Finanzhoheit (Art. 28 Abs. 2 Satz 3 GG) sichergestellt werden konnte39.

Weiterlesen:
Fahrtkosten und Verpflegungsmehraufwand des Bezirkschornsteinfegermeisters

Die Grenze zum notwendigen Kernbereich einer Verlustverrechnung könnte zwar überschritten sein, wenn auf der Grundlage eines inneren Sachzusammenhangs bzw. einer Ursachenidentität der sog. Mindestbesteuerung im Einzelfall („konkret“) die Wirkung zukommt, den Verlustabzug gänzlich auszuschließen40. Diese Frage kann allerdings im Streitfall offenbleiben. Denn eine sog. Definitivsituation (als endgültiger Ausschluss der Verlustnutzungsmöglichkeit) liegt im Streitfall nicht vor.

Die Klägerin hat sich insoweit darauf berufen, dass ihr Geschäftsmodell eine Verlustnutzung ausschließe. Denn 2/3 der erzielten Erträge seien zu 95 % steuerfrei und die steuerpflichtigen Erträge würden durch betriebliche Aufwendungen in ungefähr derselben Höhe kompensiert. Insoweit werde sich bis zum Abschluss ihrer Geschäftstätigkeit (in voraussichtlich 20 Jahren) keine Möglichkeit einer Verlustverrechnung ergeben; vielmehr werde es bei der Liquidation der Gesellschaft zu einer Verlustvernichtung kommen.

Der Bundesfinanzhof folgt dieser Einschätzung nicht. Dabei lässt er offen, ob das „Definitivwerden“ von Liquidationsverlusten den Abschluss des entsprechenden Liquidationsverfahrens erfordert41; er lässt ebenfalls offen, ob –wie vom Finanzamt und vom BMF in der mündlichen Verhandlung betont– die Situation der Liquidation einer Kapitalgesellschaft wegen der auf einem Willensentschluss (der Organe) des Steuersubjekts beruhenden Entscheidung zur Liquidation („gewillkürte Maßnahme“) von einer Berücksichtigung auszuschließen sei42. Schließlich kann auch offenbleiben, ob die auf einen 20-jährigen Zeitraum bzw. die Restdauer ihrer wirtschaftlichen Existenz bezogene Prognose der Klägerin schon insoweit zeitlich zu weit greift, als sie einen Ausgleich zwischen Periodizitäts- und Nettoprinzip43 vollständig vermissen lässt.

Der Prognose der Klägerin ist schon allein aus dem Grund nicht zu folgen, dass sie nicht ausreichend berücksichtigt, dass es sowohl zu Änderungen des Geschäftsfelds kommen kann als auch insbesondere zu Änderungen der steuerrechtlichen Regelungslage. Und beides kann einen Einfluss auf den Umfang der Steuerfreistellung der erzielten Einnahmen haben. So ist eine Einschränkung des sachlichen Umfangs der Steuerbefreiung in § 8b Abs. 1 und 2 KStG 2002 zur Zeit wieder44 Gegenstand politischer Beratungen45. Der Bundesrat fordert vor dem Hintergrund der infolge des Urteils des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 20. Oktober 201146 zu erwartenden Einbußen bei der Kapitalertragsteuer, dass die Steuerfreiheit von Dividenden und Veräußerungsgewinnen nach § 8b KStG für Streubesitzanteile (Anteile von weniger als 10% am Nennkapital) aufgehoben wird. Auf dieser Grundlage lässt sich daher eine „Definitivsituation“ unter Annahme einer fortgeltenden Wirkung des § 8b Abs. 1 und 2 KStG 2002 nicht zuverlässig prognostizieren.

Bundesfinanzhof, Urteil vom 22. August 2012 – I R 9/11

  1. BFH, Beschluss vom 26.08.2010 – I B 49/10[]
  2. BFH, Urteil vom 11.02.1998 – I R 81/97, BFHE 185, 393, BStBl II 1998, 485; s.a. BFH, Beschluss vom 08.10.2008 – I R 95/04, BFHE 223, 105, BFH/NV 2009, 500[]
  3. s.a. z.B. Heuermann in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 10d Rz A 288; Hallerbach in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, § 10d EStG Rz 12[]
  4. Heuermann, FR 2012, 435, 442; s. allgemein zum fehlenden Schutz eines sog. Kontinuitätsvertrauens: BVerfG, Beschluss vom 07.07.2010 – 2 BvL 14/02, 2 BvL 2/04, 2 BvL 13/05, BVerfGE 127, 1; BFH, Urteil vom 17.06.2010 – III R 35/09, BFHE 230, 523, BStBl II 2011, 176, jeweils m.w.N.[]
  5. s. nur BVerfG, Beschluss vom 12.10.2010 – 1 BvL 12/07, BVerfGE 127, 224 Rz 50 f., m.w.N.[]
  6. s. BVerfG, Beschluss vom 12.05.2009 – 2 BvL 1/00, BVerfGE 123, 111 Rz 27 f.[]
  7. BVerfG, Beschluss in BVerfGE 127, 224 Rz 57 f.; s.a. Hey, DStR 2009, Beihefter zu Nr. 34, 109, 110; Heger, ebenda, S. 117, 118; Heuermann, FR 2012, 435, 436[]
  8. BFH, Beschluss vom 27.01.2006 – VIII B 179/05, BFH/NV 2006, 1150, zu II.02.a bb; Hey, DStR 2009, Beihefter zu Nr. 34, 109, 115; Kube, DStR 2011, 1781, 1789; Desens, FR 2011, 745, 746; Röder, Das System der Verlustverrechnung im deutschen Steuerrecht, 2010, S. 232; s.a. FG Hamburg, Beschluss vom 29.02.2012 – 1 K 138/10, EFG 2012, 960 Rz 99, 101[]
  9. BVerfG, Beschlüsse vom 22.07.1991 – 1 BvR 313/88, HFR 1992, 423; vom 30.09.1998 – 2 BvR 1818/91, BVerfGE 99, 88[]
  10. s. Desens, FR 2011, 745, 746 f.; s.a. BFH, Beschluss vom 17.12.2007 – GrS 2/04, BFHE 220, 129, BStBl II 2008, 608; Heuermann in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, a.a.O., § 10d Rz A 86; derselbe, FR 2012, 435, 440 f.; Drüen, Periodengewinn und Totalgewinn, 1999, S. 103 f.[]
  11. s. insbesondere BVerfG, Beschluss in HFR 1992, 423[]
  12. Desens, FR 2011, 745, 747 f.; Heuermann, FR 2012, 435, 436 ff.; Drüen, a.a.O., S. 96 ff.[]
  13. BT-Drs. 15/1518, S. 13[]
  14. ebenso zu § 10a GewStG 2002 n.F.: BT-Drs. 15/1517, S.19[]
  15. s.a. Dorenkamp, Systemgerechte Neuordnung der Verlustverrechnung – Haushaltsverträglicher Ausstieg aus der Mindestbesteuerung, in Institut „Finanzen und Steuern“, Schrift Nr. 461, 2010, S. 27 ff.[]
  16. BVerfG, Beschluss vom 08.03.1978 – 1 BvR 117/78, HFR 1978, 293[]
  17. BVerfG, Beschluss in HFR 1978, 293; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 30.10.1980 – 1 BvR 785/80, HFR 1981, 181[]
  18. BVerfG, Beschluss in HFR 1992, 423[]
  19. BVerfG, Beschluss in BVerfGE 99, 88[]
  20. vgl. dazu die Nachweise im BFH, Urteil vom 01.07.2009 – I R 76/08, BFHE 225, 566, BStBl II 2010, 1061, und in dem BFH, Beschluss in BFH/NV 2006, 1150; s.a. BFH, Beschluss vom 26.08.2010 – I B 49/10, BFHE 230, 445, BStBl II 2011, 826[]
  21. s. BVerfG, Beschluss in HFR 1992, 423; dies relativierend BFH, Beschluss in BFHE 220, 129, BStBl II 2008, 608, zu D.II.2.[]
  22. BFH; Beschluss vom 29.04.2005 – XI B 127/04, BFHE 209, 379, BStBl II 2005, 609[]
  23. BFH, Beschluss vom 06.09.2006 – XI R 26/04, BFHE 214, 430, BStBl II 2007, 167[]
  24. z.B. Lambrecht in Kirchhof, EStG, 11. Aufl., § 10d Rz 4; Schneider/Krammer in Littmann/Bitz/Pust, Das Einkommensteuerrecht, Kommentar, § 10d Rz 6; Müller-Gatermann, Die Wirtschaftsprüfung 2004, 467, 468; Heuermann in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, a.a.O., § 10d Rz A 85, 88, und derselbe, FR 2012, 435, 439 ff.[]
  25. s. z.B. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl., § 9 Rz 66; Lang/Englisch, StuW 2005, 3, 21 ff.; Röder, a.a.O., S. 263 ff., 355 ff., und derselbe, StuW 2012, 18, 22 ff.; Mönikes, Die Verlustverrechnungsbeschränkungen des Einkommensteuergesetzes im Lichte der Verfassung, 2006, S. 223 ff.; Hey, StuW 2011, 131, 140 f.; Dorenkamp, a.a.O., S. 12; Raupach in Lehner [Hrsg.], Verluste im nationalen und Internationalen Steuerrecht, 2004, S. 53, 60 f.; Eckhoff in von Groll [Hrsg.], Verluste im Steuerrecht, Veröffentlichungen der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft –DStJG– Band 28 [2005], S. 11, 34; Lüdicke, DStZ 2010, 434, 436; Kaminski in Korn, § 10d EStG Rz 30.9; Wissenschaftlicher Beirat Steuern der Ernst & Young GmbH, DB 2012, 1704, 1707; Esterer/Bartelt, Unternehmensbesteuerung 2012, 383, 392; s.a. die Stellungnahme des Bundesrats im Gesetzgebungsverfahren, BT-Drs. 15/1665, S. 2[]
  26. s. z.B. Hallerbach in Herrmann/Heuer/Raupach, a.a.O., § 10d EStG Rz 13; Wendt, DStJG, Band 28, S. 41, 74 ff.; Fischer, FR 2007, 281, 283 ff.; Desens, FR 2011, 745, 748 ff.; Klomp, GmbHR 2012, 675, 676 f.; wohl auch Kempf/Vogel in Lüdicke/Kempf/Brink [Hrsg.], Verluste im Steuerrecht, 2010, S. 81; Blümich/Schlenker, EStG/KStG/GewStG, § 10d EStG Rz 6, 24; Drüen, ebenda, § 10a GewStG Rz 21, 112; Kube, DStR 2011, 1781, 1789 ff.; Buciek, FR 2011, 79; Schmieszek in Bordewin/Brandt, § 10d EStG Rz 147; s.a. BMF, Schreiben vom 19.10.2011, BStBl I 2011, 974[]
  27. z.B. Wendt, DStJG, Band 28, S. 41, 78; Fischer, FR 2007, 281, 285 f.[]
  28. s. Lang/Englisch, StuW 2005, 3, 21 ff.; s.a. Dorenkamp, a.a.O., S. 33 f.; Orth, FR 2005, 515, 530; BMF-Bericht der Facharbeitsgruppe „Verlustverrechnung und Gruppenbesteuerung“ vom 15.09.2011, S. 52 mit Fußn. 57[]
  29. BFH, Urteil in BFHE 185, 393, BStBl II 1998, 485[]
  30. s.a. BFH, Urteil vom 05.06.2002 – I R 115/00, BFH/NV 2002, 1549; BFH, Beschluss in BFHE 230, 445, BStBl II 2011, 826[]
  31. s. den BVerfG, Beschluss in BVerfGE 123, 111; s.a. das BFH, Urteil vom 25.02.2010 – IV R 37/07, BFHE 229, 122, BStBl II 2010, 784; zustimmend Dorenkamp, a.a.O., S. 61 f.; Desens, FR 2011, 745, 747; Heuermann, FR 2012, 435, 439; Lang, GmbHR 2012, 57, 61; ablehnend Röder, StuW 2012, 18, 24 f.[]
  32. zu dieser z.B. BVerfG, Beschluss vom 17.11.2009 – 1 BvR 2192/05, BVerfGE 125, 1, BGBl I 2010, 326[]
  33. BFH, Urteil in BFHE 225, 566, BStBl II 2010, 1061; BFH, Beschluss in BFHE 214, 430, BStBl II 2007, 167[]
  34. BFH, Beschluss in BFHE 220, 129, BStBl II 2008, 608[]
  35. s.a. BMF, Bericht der Facharbeitsgruppe „Verlustverrechnung und Gruppenbesteuerung“, vom 15.09.2011, S. 18[]
  36. zur Steueraufkommenswirkung s. BT-Drs. 17/4653, S. 17; bzw. BMF, Bericht der Facharbeitsgruppe „Verlustverrechnung und Gruppenbesteuerung“, vom 15.09.2011, S. 43 f.[]
  37. Desens, FR 2011, 745, 749; s.a. Kube, DStR 2011, 1781, 1789 und 1790[]
  38. s.a. BFH, Beschluss in BFH/NV 2006, 1150; Heuermann in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, a.a.O., § 10d Rz A 85; ablehnend Hey, StuW 2011, 131, 141 f.; Röder, StuW 2012, 18, 25 f.; Wissenschaftlicher Beirat Steuern der Ernst & Young GmbH, DB 2012, 1704, 1707[]
  39. FG Hamburg, Urteil vom 02.11.2011 – 1 K 208/10, EFG 2012, 434; s.a. BFH, Beschluss in BFH/NV 2006, 1150[]
  40. s. dazu BFH, Beschluss in BFHE 230, 445, BStBl II 2011, 826; a.A. Heuermann, FR 2012, 435, 440 f.[]
  41. s. insoweit FG Düsseldorf, Urteil vom 12.03.2012 – 6 K 2199/09 K, EFG 2012, 1387[]
  42. s.a. Gosch, BFH/PR 2011, 10, 11[]
  43. s.a. Klomp, GmbHR 2012, 675, 678 f.; Heuermann, FR 2012, 435, 441 f.[]
  44. s. Patzner/Frank, Internationales Steuerrecht 2008, 433; Gosch, KStG, 2. Aufl., § 8b Rz 62 – zum Entwurf eines Jahressteuergesetzes 2009[]
  45. s. dazu die Stellungnahme des Bundesrats [zum Entwurf eines Jahressteuergesetzes 2013, BRDrucks 302/12] vom 06.07.2012, DStR 2012, Heft 28, S. VI[]
  46. EuGH, Urteil vom 20.10.2011 – C-284/09 [Kommission / Deutschland], DStR 2011, 2038[]
Weiterlesen:
Verlustverrechnung bei privaten Veräußerungsgeschäften mit Aktien - und die Übergangsregelung