Restschuldbefreiung – und die Betriebsaufgabe

Die Erteilung der Restschuldbefreiung im Rahmen eines Insolvenzverfahrens stellt für die Ermittlung des Gewinns aus einer Betriebsaufgabe auch dann ein rückwirkendes Ereignis dar, wenn der Betrieb erst nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens aufgegeben worden ist1. Die aus der Restschuldbefreiung resultierenden Steuern sind im Fall der Betriebsaufgabe nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens Masseverbindlichkeiten i.S. des § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO, da sie Folge der Verwaltung durch den Insolvenzverwalter sind.

Restschuldbefreiung – und die Betriebsaufgabe

Die Restschuldbefreiung betrifft nach § 286 der Insolvenzordnung (InsO) die bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens noch nicht erfüllten Insolvenzforderungen der Insolvenzgläubiger i.S. des § 38 InsO2. Grundsätzlich werden diese Forderungen ab dem Zeitpunkt der Rechtskraft des Beschlusses des Insolvenzgerichts gemäß § 300 Abs. 1 Satz 1 InsO, mit dem die Restschuldbefreiung erteilt wird, in unvollkommene Verbindlichkeiten (sog. Naturalobligationen) umgewandelt, deren Erfüllung von da ab -d.h. ex nunc- freiwillig möglich ist, jedoch nicht erzwungen werden kann3. Betriebliche Verbindlichkeiten sind daher bis zum Eintritt der Restschuldbefreiung zum Nennwert zu passivieren. Der Beschluss, mit dem die Restschuldbefreiung erteilt wird, wirkt nach § 301 Abs. 1 Satz 1 InsO gegen alle Insolvenzgläubiger, selbst wenn sie ihre Forderungen nicht angemeldet haben (§ 301 Abs. 1 Satz 2 InsO).

Zwar wirkt die Erteilung der Restschuldbefreiung steuerrechtlich grundsätzlich nicht zurück4. Das gilt jedoch nicht in Bezug auf betriebliche Verbindlichkeiten im Zusammenhang mit einer Betriebsaufgabe. Die Befreiung von solchen Verbindlichkeiten ist auf den Zeitpunkt der Betriebsaufgabe zurückzubeziehen, unabhängig davon, ob diese vor oder nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens lag.

Soweit der Betrieb vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens i.S. des § 16 Abs. 3 EStG aufgegeben worden ist, hat der Bundesfinanzhof dies bereits im Urteil in BFHE 256, 392, BStBl II 2017, 786 klargestellt. Entscheidend ist hierbei, dass die Restschuldbefreiung ausgehend von den zu § 16 EStG entwickelten Grundsätzen zum Wegfall der in der Aufgabebilanz ausgewiesenen betrieblichen Verbindlichkeiten führt.

Nichts anderes kann gelten, wenn die Betriebsaufgabe, wovon die Unternehmer für den Streitfall ausgehen, erst nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens erfolgt ist.

Entscheidend ist auch in diesem Fall, dass die mit der Restschuldbefreiung verbundene rechtserhebliche Sachverhaltsänderung an den einmaligen Vorgang der Betriebsaufgabe anknüpft, die nicht in einer Folgebilanz oder nach den Grundsätzen des Zuflussprinzips in einem späteren Veranlagungszeitraum berücksichtigt werden kann. Mit der Betriebsaufgabe endet die Existenz des Gewerbebetriebs, so dass die einkommensteuerlichen Rechtsfolgen der Ausbuchung der von der Restschuldbefreiung betroffenen betrieblichen Verbindlichkeiten zu diesem Zeitpunkt gezogen werden müssen5. Zur näheren Begründung verweist der Bundesfinanzhof insoweit auf die Ausführungen in seinem Urteil in BFHE 256, 392, BStBl II 2017, 786, Rz 49. Dieses Ergebnis ist unabhängig davon, ob ursprünglich eine Betriebsaufgabebilanz erstellt worden ist oder nicht.

Da im vorliegend entschiedenen Streitfall die Betriebsaufgabe unstreitig im Jahr 2005 liegt, ist es, wie schon das Finanzgericht zutreffend erkannt hat, in Bezug auf die Einordnung der Restschuldbefreiung als rückwirkendes Ereignis gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO ohne Belang, wann genau in diesem Jahr der Gewerbebetrieb des Unternehmers aufgegeben worden ist. Anders als von den Unternehmern angenommen, ergibt sich aus dem zweiten Leitsatz zum BFH, Urteil in BFHE 256, 392, BStBl II 2017, 786 nichts anderes. Vielmehr hat der Bundesfinanzhof diesen erkennbar ausgehend von dem damals konkret zu beurteilenden Sachverhalt formuliert, der allein eine Betriebsaufgabe vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens betraf. Eine Eingrenzung in Bezug auf den Zeitpunkt der steuerlichen Berücksichtigung eines Buchgewinns aus der Restschuldbefreiung ist hierin nicht zu sehen.

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Die Einkommensteuerfestsetzung 2005 konnte aufgrund der in diesem Jahr erfolgten Betriebsaufgabe nach § 174 Abs. 4 Satz 1 AO geändert werden.

Nach § 174 Abs. 4 Satz 1 AO können, wenn aufgrund irriger Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts ein Steuerbescheid ergangen ist, der aufgrund eines Rechtsbehelfs oder sonst auf Antrag des Steuerpflichtigen durch die Finanzbehörde zu seinen Gunsten aufgehoben oder geändert wird, aus dem Sachverhalt nachträglich durch Erlass oder Änderung eines Steuerbescheides die richtigen steuerlichen Folgerungen gezogen werden. Dies gilt auch dann, wenn der Steuerbescheid durch das Gericht aufgehoben oder geändert wird (Satz 2).

§ 174 Abs. 4 AO erfasst dabei auch Sachverhalte, in denen die Finanzbehörde darüber irrt, in welchem Jahr die steuerlichen Folgerungen aus einem bestimmten Sachverhalt zu ziehen sind6. Vorliegend hatte das Finanzamt zu entscheiden, in welchem Jahr die Erteilung einer Restschuldbefreiung zu einem Erlöschen der betrieblichen Verbindlichkeiten des (damaligen) Insolvenzschuldners führt. Über diesen Zeitpunkt hat das Finanzamt geirrt und deshalb zunächst eine Korrektur der Einkommensteuerfestsetzung für das Streitjahr 2011 sowie eine Aufhebung der Verlustfeststellung zum 31.12.2011 vorgenommen. Es hätte jedoch, wie unter IV.01. dargelegt, aufgrund der einkommensteuerrechtlichen Rückwirkung der Restschuldbefreiung auf den Zeitpunkt der Betriebsaufgabe die Einkommensteuerfestsetzung des Streitjahres 2005 gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO ändern müssen. Dabei ist es für die Beurteilung des Sachverhalts unerheblich, ob der für die rechtsirrige Beurteilung ursächliche Fehler im Tatsächlichen (Betriebsaufgabe im Jahr der Eröffnung des Insolvenzverfahrens) oder im Rechtlichen (Rückwirkung der Restschuldbefreiung als Ausnahme bei betrieblichen Verbindlichkeiten eines aufgegebenen Betriebs) liegt7.

Ein Irrtum des Finanzamtes über die zeitliche Berücksichtigung des Befreiungsgewinns ist nicht deshalb zu verneinen, weil die Finanzverwaltung im BMF, Schreiben in BStBl I 2010, 18 angewiesen worden war, die Restschuldbefreiung (nunmehr) erst im Jahr ihrer Erteilung zu berücksichtigen. Zu Recht weist das Finanzgericht darauf hin, es sei allein entscheidend, dass das Finanzamt den Sachverhalt bei Erlass des Einkommensteueränderungsbescheides 2011 kannte, ihn aber fälschlicherweise nicht im Streitjahr 2005 berücksichtigte. Auch ist unerheblich, ob das Finanzamt die Änderung der Einkommensteuerfestsetzung 2011 aufgrund des BMF, Schreibens in BStBl I 2010, 18 vornahm, weil es die dort dargelegte Rechtsansicht für richtig hielt oder nicht. Entscheidend bleibt, dass das Finanzamt die richtige Berücksichtigung des Sachverhalts verkannte und deshalb ein Steuerbescheid erging, der aufgrund der Klage der Unternehmer durch das Finanzgericht aufgehoben wurde. Denn dieser Erfolg des Steuerpflichtigen führt gemäß § 174 Abs. 4 Satz 1 AO auch dann zur Anpassung durch Erlass des die richtigen steuerlichen Folgerungen umsetzenden (anderen) Steuerbescheides, wenn das Finanzamt bei Erlass des fehlerhaften Bescheides dessen Rechtswidrigkeit kannte oder hätte kennen müssen8. Dabei ist nicht nach dem Grund der Fehlerhaftigkeit des rechtswidrig erlassenen und später aufgehobenen Steuerbescheides zu unterscheiden. Folglich kann dahinstehen, ob das Finanzgericht die Aufhebung des Einkommensteueränderungsbescheides 2011 mit der fehlerhaften Anwendung einer Korrekturvorschrift, hier des § 129 Satz 1 AO, oder mit der falschen Beurteilung der materiell-rechtlichen Folgen der Restschuldbefreiung nach einer Betriebsaufgabe begründet hat.

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Die Änderung des Einkommensteuerbescheides 2005 ist nicht wegen Eintritts der Festsetzungsverjährung ausgeschlossen.

Das Finanzgericht hat den fehlerhaft geänderten Einkommensteuerbescheid 2011 mit Urteil vom 21.07.2016 aufgehoben. Dieses Urteil ist durch Rücknahme der Revision – IX R 30/16 am 04.09.2017 rechtskräftig geworden. Der angefochtene Einkommensteueränderungsbescheid 2005 erging am 23.11.2017, also innerhalb der Jahresfrist des § 174 Abs. 4 Satz 3 AO.

Dem steht § 174 Abs. 4 Satz 4 AO nicht entgegen.

Nach § 174 Abs. 4 Satz 4 AO ist der Fristablauf für den Fall, dass die Festsetzungsfrist bereits abgelaufen war, als der später aufgehobene oder geänderte Steuerbescheid erlassen wurde, nur unter den zusätzlichen Voraussetzungen des § 174 Abs. 3 Satz 1 AO unbeachtlich. Der in § 174 Abs. 4 Satz 4 AO genannte „später aufgehobene oder geänderte Steuerbescheid“ ist der auf Rechtsbehelf oder Antrag des Steuerpflichtigen aufgehobene oder geänderte Steuerbescheid, hier also der geänderte Einkommensteuerbescheid 2011 vom 19.03.2015 und der aufgehobene Verlustfeststellungsbescheid zum 31.12.2011 vom gleichen Tag.

Zu diesem Zeitpunkt war in Bezug auf die Änderung der Einkommensteuerfestsetzung 2005 aufgrund der zwischenzeitlich beschlossenen Restschuldbefreiung noch keine Festsetzungsverjährung eingetreten. Denn die Einkommensteuerfestsetzung 2005 hätte zu diesem Zeitpunkt noch gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO geändert werden können. Aufgrund der im Jahr 2011 beschlossenen Restschuldbefreiung mit steuerlicher Rückwirkung begann die Festsetzungsfrist insoweit gemäß § 175 Abs. 1 Satz 2 AO erst mit Ablauf des Kalenderjahres 2011 und endete gemäß § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO mit Ablauf des 31.12.2015. Damit kommt es auf das Vorliegen der Voraussetzungen des § 174 Abs. 3 Satz 1 AO im Streitfall nicht an.

Die Änderung der Steuerfestsetzung 2005 verstößt nicht gegen den Grundsatz von Treu und Glauben.

Die Änderungsmöglichkeit des § 174 Abs. 4 AO beruht auf dem Grundsatz von Treu und Glauben und verlangt deshalb vom Finanzamt als demjenigen, welcher hieraus einen Vorteil zieht, sich nicht selbst treuwidrig zu verhalten. Eine solche Konstellation für eine treuwidrige Änderung gemäß § 174 Abs. 4 AO kann vorliegen, wenn sich die Finanzverwaltung absichtlich eine ansonsten nicht gegebene Voraussetzung einer Änderungsmöglichkeit aus § 174 Abs. 4 AO schafft, wobei allerdings die abstrakte Besorgnis einer Missbrauchsmöglichkeit nicht ausreicht9. Konkrete Indizien, die auf ein treuwidriges Verhalten des Finanzamtes hindeuten könnten, sind hier schon aufgrund des Verfahrensablaufs nicht gegeben.

Eine Treuwidrigkeit in Folge einer rechtswidrigen Änderung der Einkommensteuerfestsetzung 2011 ist im Streitfall bereits deshalb ausgeschlossen, weil das Finanzamt zum Zeitpunkt dieser Änderung die Einkommensteuerfestsetzung des Streitjahres 2005 nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO hätte ändern können.

Die Zweifel daran, dass eine Berichtigung der Einkommensteuerfestsetzung 2011 gemäß § 129 Satz 1 AO rechtlich möglich gewesen sein sollte, sind zwar nach Ansicht des Bundesfinanzhofs berechtigt; sie allein reichen aber bei dem gegebenen Sachverhalt nicht aus, um ein treuwidriges Verhalten des Finanzamtes anzunehmen. Dabei ist der konkrete Verfahrensablauf dieser im Ergebnis erfolglosen Änderung durch das Finanzamt in den Blick zu nehmen. Überzeugt von der Richtigkeit einer Änderungsmöglichkeit, hat das Finanzamt sich nicht nur im Klageverfahren verteidigt, sondern auch gegen das FG, Urteil in EFG 2016, 1871 Revision eingelegt. Dies zeigt deutlich, dass sich das Finanzamt nicht etwa (nur) treuwidrig eine Änderungsmöglichkeit nach § 174 Abs. 4 AO hat schaffen wollen, sondern im konkreten Fall diese Änderung im Streitjahr 2011 für zutreffend hielt und bewusst eine Änderung in diesem Streitjahr anstrebte. Auch die auf das BMF, Schreiben in BStBl I 2010, 18 gestützte fehlerhafte Rechtsansicht des Finanzamtes macht deutlich, dass jedenfalls hier ein treuwidriges Verhalten des Finanzamtes in Bezug auf den Anwendungsbereich des § 174 Abs. 4 AO nicht vorliegen kann.

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Einer Änderung der Einkommensteuerfestsetzung 2005 gemäß § 174 Abs. 4 AO stehen auch nicht die Regelungen des besonderen Vertrauensschutzes aus § 176 AO entgegen.

Soweit die Unternehmer meinen, eine Änderung der Einkommensteuerfestsetzung 2005 scheitere gemäß § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AO bereits daran, dass sich die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs, die bei der bisherigen Steuerfestsetzung von der Finanzbehörde angewandt worden sei, geändert habe, verkennen sie, dass es im Zeitpunkt der ursprünglichen Steuerfestsetzung bzw. Verlustfeststellung an einer höchstrichterlichen Rechtsprechung in Bezug auf die entscheidungserhebliche Rechtsfrage gänzlich fehlte. Erstmals im BFH, Urteil in BFHE 256, 392, BStBl II 2017, 786 hat der Bundesfinanzhof zur Frage der zeitlichen Wirkung einer Restschuldbefreiung im Fall betrieblicher Verbindlichkeiten bei einer Betriebsaufgabe entschieden.

Auch eine Anwendung des § 176 Abs. 2 AO scheidet aus.

Nach dieser Vorschrift darf bei der Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheides nicht zuungunsten des Steuerpflichtigen berücksichtigt werden, dass eine allgemeine Verwaltungsvorschrift der Bundesregierung oder einer obersten Bundes- oder Landesbehörde von einem obersten Gerichtshof des Bundes als nicht mit dem geltenden Recht in Einklang stehend bezeichnet worden ist. Es ist dabei nicht erforderlich, dass der oberste Gerichtshof die Verwaltungsvorschrift ausdrücklich für gesetzwidrig erklärt hat. Es genügt vielmehr, wenn sich die sachlich-rechtlichen Aussagen der Verwaltungsvorschrift einerseits und des Urteils des Gerichtshofs andererseits widersprechen10. Entscheidend ist, dass ein bestimmtes Rechtsproblem nach der (zeitlich vorausgegangenen) allgemeinen Verwaltungsvorschrift auf andere (für den Steuerpflichtigen günstigere) Weise zu lösen ist als nach der (späteren) Gerichtsentscheidung11.

An einem derartigen inhaltlichen Widerspruch fehlt es hier. Denn das BMF, Schreiben vom 22.12.2009 in BStBl I 2010, 18 erging erst nach Erlass des relevanten Einkommensteuerbescheides 2005 vom 14.09.2009. Auch der entscheidende Verlustfeststellungsbescheid auf den 31.12.2005 ist bereits unter dem 03.09.2009 und somit vor dem BMF, Schreiben erlassen worden. Folglich kann die Einkommensteuerfestsetzung 2005 nicht auf dem BMF, Schreiben vom 22.12.2009, welches erst im Jahr 2010 in BStBl I 2010, 18 veröffentlicht worden ist, beruhen. Schon aus diesem Grunde ist der Anwendungsbereich des § 176 Abs. 2 AO nicht eröffnet.

Anders als die Unternehmer meinen, ist § 176 Abs. 2 AO auch nicht deshalb anwendbar, weil die Restschuldbefreiung bei der relevanten Steuerfestsetzung für 2005 im Jahr 2009 wie auch der erstmaligen Verlustfeststellung im Jahr 2008 noch nicht erteilt war. Zum einen ist es gerade den rückwirkenden Ereignissen i.S. des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO immanent, dass diese zum Zeitpunkt der bisherigen Festsetzung noch nicht vorliegen. Zum anderen fordern -im Unterschied zu § 225 Abs. 2 der Reichsabgabenordnung und § 4 Abs. 3 Nr. 2 des Steueranpassungsgesetzes- weder der Wortlaut noch der Bedeutungszusammenhang des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO, dass das spätere Ereignis „im Kern“ bereits im ursprünglichen Vorgang angelegt sein muss, da eine solch einschränkende Auslegung nicht in Einklang mit der Zielsetzung des Gesetzgebers stünde12. Vorliegend ist zudem zu beachten, dass zum Zeitpunkt der erstmaligen Steuerfestsetzung der Antrag auf Restschuldbefreiung bereits gestellt worden war, diese somit „im Kern“ bereits zu diesem Zeitpunkt angelegt war.

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Trotz der dargestellten Einschränkungen verbleibt entgegen der Ansicht der Unternehmer ein Anwendungsbereich für § 176 Abs. 2 AO. Hätte nämlich bei der Erstveranlagung, anders als im Streitfall, eine Verwaltungsanweisung des BMF existiert, in der eine Berücksichtigung der Buchgewinne aus der Restschuldbefreiung zu einem anderen Zeitpunkt vorgeschrieben worden wäre, hätte der Steuerpflichtige hierauf aufgrund des § 176 Abs. 2 AO vertrauen können.

Nicht entscheidend ist, dass die Oberfinanzdirektion Nordrhein-Westfalen13 vor Erlass des BMF, Schreibens vom 22.12.200914 von einer Rückwirkung der Restschuldbefreiung ausging. Da diese keine oberste Landesbehörde ist, scheidet bereits aus diesem Grund die Anwendung des § 176 Abs. 2 AO aus15.

Die materiell-rechtlich zutreffende und verfahrensrechtlich zu Recht geänderte Einkommensteuerfestsetzung 2005 kann in der Folge auch zu den übrigen von den Unternehmern angegriffenen Änderungen führen. Die Änderung der gesonderten Verlustfeststellung zum 31.12.2005 ergibt sich aufgrund der Änderung der Einkommensteuerfestsetzung 2005 aus § 10d Abs. 4 Satz 4 EStG a.F., die Änderungen der Einkommensteuerbescheide 2006 bis 2012 beruhen auf § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO und diejenigen der gesonderten Feststellungen des verbleibenden Verlustvortrags zur Einkommensteuer auf den 31.12.2006 bis zum 31.12.2011 auf § 10d Abs. 4 Satz 4 EStG a.F./n.F. i.V.m. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO. Dabei geht der Bundesfinanzhof wie das Finanzgericht und die Beteiligten davon aus, dass die betrieblichen Verbindlichkeiten, die der Restschuldbefreiung unterworfen sind, mindestens 1.463.000 € betragen. Einwendungen gegen die Höhe dieses Betrags sind nicht vorgetragen worden und hätten, da das Finanzamt die Höhe des Buchgewinns aus der Restschuldbefreiung nach § 163 AO begrenzt hat, zudem im Verfahren gegen diese Billigkeitsentscheidung vorgebracht werden müssen16.

Aufgrund der fehlenden Feststellungen des Finanzgericht zu den Zeitpunkten der Betriebsaufgabe einerseits sowie der Beendigung des Insolvenzverfahrens andererseits kann der Bundesfinanzhof allerdings nicht beurteilen, ob der allein an den Unternehmer gerichtete Einkommensteuerbescheid 2005 vom 23.11.2017 überhaupt wirksam bekanntgegeben wurde. Wäre dies nicht der Fall, wären auch die Folgeänderungen fehlerhaft und daher aufzuheben.

Bei einer möglichen Betriebsaufgabe vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens bestehen keine Zweifel daran, dass der Unternehmer der richtige Inhalts- und Bekanntgabeadressat des Einkommensteueränderungsbescheides 2005 war. Unabhängig von der insolvenzrechtlichen Qualifizierung der aus einer Restschuldbefreiung resultierenden Steuern, handelt es sich bei diesen aufgrund der Betriebsaufgabe vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens stets um solche, die allein der Schuldner zu begleichen hat17.

Sollte demgegenüber der Betrieb des Unternehmers erst nach Insolvenzeröffnung aufgegeben worden sein, lägen insolvenzrechtlich Masseverbindlichkeiten vor. Während der Dauer des Insolvenzverfahrens wäre die Steuer dann durch einen Steuerbescheid festzusetzen gewesen, der (zumindest auch) dem Insolvenzverwalter als solchem hätte bekanntgegeben werden müssen.

Obwohl die Restschuldbefreiung allein Insolvenzforderungen betreffen kann, sind die sich hieraus ergebenden Steuern, wenn der Betrieb nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens aufgegeben wird, Masseverbindlichkeiten i.S. des § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO, die aus der Insolvenzmasse zu erfüllen sind.

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In Bezug auf die Abgrenzung der Masseverbindlichkeiten i.S. des § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO von den Insolvenzforderungen i.S. des § 38 InsO hat der Bundesfinanzhof bereits klargestellt, dass ein insolvenzrechtliches „Begründetsein“ entscheidend ist18. Insoweit hat er darauf abgestellt, „durch wen“ der steuerauslösende (unselbständige) Besteuerungstatbestand i.S. des § 2 Abs. 1 EStG (vollständig) verwirklicht worden ist. Ist ein Verhalten, etwa auch einer dritten Person wie einem Absonderungsberechtigten, nicht dem Bereich des Schuldners oder des Insolvenzverwalters zuzuordnen, bleibt als Anknüpfungspunkt der Umstand bestehen, dass der Vermögensgegenstand Teil der Insolvenzmasse gewesen ist19. Dementsprechend hat der Bundesfinanzhof in dieser Entscheidung die Massezugehörigkeit des Vermögensgegenstandes sowie dessen fehlende Freigabe durch den Insolvenzverwalter als entscheidende Wertungsmomente angesehen.

Vergleichbares muss für die Abgrenzung zwischen Masseverbindlichkeiten und Forderungen gegen das insolvenzfreie Vermögen gelten, wenn für die Entstehung der Einkommensteuer auf den durch die Restschuldbefreiung erhöhten Betriebsaufgabegewinn sowohl das Verhalten des Schuldners als auch des Insolvenzverwalters ursächlich gewesen sind.

Handelt im Fall der Restschuldbefreiung der Schuldner, indem er den relevanten Antrag im Rahmen seines Insolvenzverfahrens stellt, dem später zugestimmt wird, verursacht er dadurch zwar den sich später ergebenden Buchgewinn aus der Restschuldbefreiung. Ohne die nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens vorgenommene Betriebsaufgabe kommt es allerdings nicht zu einer Entstehung des Aufgabegewinns im Jahr der Betriebsaufgabe. Der Betrieb wird durch den Insolvenzverwalter im Rahmen seiner Verwaltung der Masse gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO aufgegeben. Hierdurch und nicht durch das Handeln des Insolvenzschuldners wird der Tatbestand des § 16 Abs. 3 EStG verwirklicht. Die steuerliche Rückwirkung gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO führt zum Wegfall der in der Aufgabebilanz ausgewiesenen betrieblichen Verbindlichkeiten, so dass die gewinnerhöhende Wirkung einer Restschuldbefreiung in den Fällen, in denen der Betrieb erst nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens aufgegeben worden ist, zu einem Zeitpunkt eintritt, in dem die Verwaltung der Masse dem Insolvenzverwalter obliegt. Die steuerlichen Auswirkungen der Restschuldbefreiung beruhen damit auf der Verwaltung bzw. Verwertung einer Insolvenzmasse, die der Insolvenzverwalter nicht freigegeben hat.

Selbst wenn man nicht auf die Betriebsaufgabe als Teil der Verwaltung des Insolvenzverwalters abstellen würde, ist zu berücksichtigen, dass das Verhalten des Schuldners allein ebenfalls nicht entscheidend war. Anknüpfungspunkt für die Folgen aus der Restschuldbefreiung bleibt damit die Zugehörigkeit des Betriebs zur Insolvenzmasse zum Zeitpunkt seiner Aufgabe. Es liegen folglich in Bezug auf die Steuern, die nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstehen, Masseverbindlichkeiten gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO vor.

Verfahrensrechtlich hat das Finanzamt Steuern, die insolvenzrechtlich Masseverbindlichkeiten sind, durch Steuerbescheid festzusetzen. Solange das Insolvenzverfahren noch nicht beendet ist, sind die Bescheide an den Insolvenzverwalter bekanntzugeben. Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist der Insolvenzverwalter als Vermögensverwalter Steuerpflichtiger und damit richtiger Bekanntgabe- und Inhaltsadressat von Steuerbescheiden, mit denen eine Finanzbehörde bestehende Masseverbindlichkeiten geltend macht20. Werden diese Steuerbescheide im noch nicht beendeten Insolvenzverfahren nicht ihm, sondern dem Schuldner bekanntgegeben, so liegt ein Bekanntgabefehler vor, der gemäß § 124 Abs. 1 Satz 1 AO dem Eintritt der Wirksamkeit der Bescheide entgegensteht und auch nicht durch Richtigstellung im weiteren Verfahren geheilt werden kann21. Die Klage hätte in diesem Fall Erfolg.

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Wurde hingegen der Betrieb nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens aufgegeben und ist dieses im Zeitpunkt des Erlasses der Steuerbescheide bereits aufgehoben, kann das Finanzamt diese Steuerbescheide nicht mehr dem Insolvenzverwalter bekannt geben. Denn dessen Amt endet mit der Aufhebung des Insolvenzverfahrens, und die Verfügungsbefugnis über die (verbleibende) Masse fällt gemäß § 259 Abs. 1 InsO an den Schuldner zurück. Wegen aller noch offenen Masseverbindlichkeiten kann ab diesem Zeitpunkt nur noch der Schuldner in Anspruch genommen werden22. Somit wären die angegriffenen Bescheide im Streitfall zu Recht gegenüber den Unternehmern bekanntgegeben worden und ihre Klage wäre unbegründet.

Bundesfinanzhof, Urteil vom 6. April 2022 – X R 28/19

  1. Fortführung von BFH, Urteil vom 13.12.2016 – X R 4/15, BFHE 256, 392, BStBl II 2017, 786[]
  2. vgl. nur Kexel in Graf-Schlicker, Kommentar zur Insolvenzordnung, 6. Aufl., § 286 Rz 6, m.w.N.; Braun/Pehl, Insolvenzordnung, 8. Aufl., § 286, Rz 80[]
  3. so bereits BFH, Urteil vom 03.02.2016 – X R 25/12, BFHE 252, 486, BStBl II 2016, 391, Rz 46[]
  4. BFH, Urteil in BFHE 252, 486, BStBl II 2016, 391, Rz 46[]
  5. so auch der Bericht des Finanzausschusses des Deutschen Bundestages zum Entwurf eines Gesetzes gegen schädliche Steuerpraktiken im Zusammenhang mit Rechteüberlassungen, BT-Drs. 18/12128, S. 33[]
  6. BFH, Urteil vom 25.10.2016 – X R 31/14, BFHE 255, 399, BStBl II 2017, 287, Rz 13, m.w.N.[]
  7. vgl. dazu grundsätzlich auch BFH, Urteil in BFHE 255, 399, BStBl II 2017, 287, Rz 15, m.w.N.[]
  8. BFH, Urteil in BFHE 255, 399, BStBl II 2017, 287, Rz 18 f.[]
  9. vgl. BFH, Urteil in BFHE 255, 399, BStBl II 2017, 287, Rz 36, m.w.N.[]
  10. vgl. nur BFH, Urteil vom 27.08.2014 – II R 43/12, BFHE 246, 506, BStBl II 2015, 241, Rz 27, m.w.N.[]
  11. BFH, Urteil vom 28.10.1992 – X R 117/89, BFHE 170, 11, BStBl II 1993, 261, unter 2.b, m.w.N.[]
  12. vgl. BFH (GrS), Beschluss vom 19.07.1993 – GrS 2/92, BFHE 172, 66, BStBl II 1993, 897, unter C.II. 1.b[]
  13. OFD NRW, Kurzinfo ESt Nr. 46/2014 vom 21.11.2014[]
  14. BStBl I 2010, 18[]
  15. vgl. insoweit nur BFH, Urteil in BFHE 170, 11, BStBl II 1993, 261, unter 2.b[]
  16. vgl. in Bezug auf § 163 AO nur BFH, Urteil vom 21.07.2016 – X R 11/14, BFHE 254, 497, BStBl II 2017, 22, Rz 16[]
  17. vgl. BFH, Beschluss in BFHE 256, 392, BStBl II 2017, 786, Rz 52[]
  18. BFH, Urteil vom 16.05.2013 – IV R 23/11, BFHE 241, 233, BStBl II 2013, 759, Rz 18[]
  19. vgl. weiterführend BFH, Urteil vom 07.07.2020 – X R 13/19, BFHE 270, 24, BStBl II 2021, 174, Rz 32, m.w.N.[]
  20. vgl. nur BFH, Urteil vom 11.04.2018 – X R 39/16, BFH/NV 2018, 1075, Rz 23, m.w.N.[]
  21. BFH, Urteil in BFH/NV 2018, 1075, Rz 25[]
  22. vgl. BFH, Urteil vom 02.04.2019 – IX R 21/17, BFHE 264, 109, BStBl II 2019, 481, Rz 18 f.[]

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