Schätzung des Wareneinkaufs

Die Schätzung der Höhe der durch einen Wareneinkauf entstandenen Betriebsausgaben setzt voraus, dass sich das Finanzamt bzw. das Finanzgericht die volle Überzeugung davon verschafft hat, ob und ggf. in welchem Umfang ein Wareneinkauf durch den Steuerpflichtigen stattgefunden hat. Hierbei sind die allgemeinen Beweisregeln, einschließlich der Regeln über die Beweisnähe, Beweisvereitelung und Beweislast anzuwenden.

Schätzung des Wareneinkaufs

Gemäß § 162 Abs. 1 Satz 1 AO hat die Finanzbehörde Besteuerungsgrundlagen zu schätzen, soweit sie sie nicht ermitteln oder berechnen kann. Zu schätzen ist insbesondere dann, wenn der Steuerpflichtige über seine Angaben keine ausreichenden Aufklärungen zu geben vermag oder weitere Auskunft oder eine Versicherung an Eides statt verweigert oder seine Mitwirkungspflicht nach § 90 Abs. 2 AO verletzt (§ 162 Abs. 2 Satz 1 AO). Das Gleiche gilt u.a. dann, wenn der Steuerpflichtige Bücher oder Aufzeichnungen, die er nach den Steuergesetzen zu führen hat, nicht vorlegen kann (§ 162 Abs. 2 Satz 2 AO).

Nach der Rechtsprechung des BFH wird bei einer Schätzung von der Verwirklichung der tatbestandsmäßigen Voraussetzungen für die Besteuerung ausgegangen, weshalb § 162 Abs. 1 und 2 AO nur die Schätzung quantitativer Größen erlauben, nicht aber die Schätzung rein qualitativer Besteuerungsmerkmale1. Voraussetzung einer Schätzung ist somit die Gewissheit, dass überhaupt ein steuerlich bedeutsamer Sachverhalt vorliegt2. Erst damit ist die Basis für Wahrscheinlichkeitsüberlegungen in Form einer Schätzung geschaffen3. Dies gilt sowohl für steuererhöhende als auch für steuermindernde Umstände4.

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Bei der Prüfung, ob und in welchem Umfang ein zu Betriebsausgaben führender Wareneinkauf durch den Unternehmer stattgefunden hat, können sämtliche Erkenntnisse aus der Betriebsprüfung einschließlich des Benennungsverlangens verwertet werden5. Die Berücksichtigung des in der Betriebsprüfung gewonnenen Wissens in diesem Sinne beruht nicht auf § 160 AO und ist unabhängig von den Voraussetzungen und Rechtsfolgen dieser Vorschrift möglich und geboten. Es handelt sich um Sachverhaltsermittlungen, die bereits durch § 88 Abs. 1 Satz 1 AO gerechtfertigt sind. § 160 Abs. 1 Satz 1 AO verbietet diese nicht, was § 160 Abs. 1 Satz 2 AO ausdrücklich klarstellt. Die Ergebnisse dieser Ermittlungen können im Rahmen des Festsetzungsverfahrens auch nach Bestandskraft eines Bescheids verarbeitet werden, wenn und soweit dies durch die entsprechenden Änderungsvorschriften gedeckt ist. Allein der Umstand, dass die entsprechenden Nachfragen ihrerseits auch als Benennungsverlangen nach § 160 AO qualifiziert werden können, ändert hieran nichts6.

Insoweit hätte sich das Finanzgericht zunächst bei der Prüfung der Änderungsvoraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO anhand der dem Finanzamt nachträglich bekannt gewordenen Tatsachen durch konkrete Feststellungen auch die volle Überzeugung davon verschaffen müssen, ob und ggf. in welchem Umfang überhaupt dem Grunde nach ein Wareneinkauf durch den Unternehmer stattgefunden hat (etwa durch Ankauf von Kabelresten oder Ankauf von Schrottautos oder nur kostenfreie Abholung defekter Elektrogeräte und Entsorgung von Fahrzeugen). Hierbei wären die allgemeinen Beweisregeln einschließlich der Regeln über die Beweisnähe, Beweisvereitelung und Beweislast anzuwenden gewesen7. Eine sich zugunsten des Steuerpflichtigen auswirkende Beweismaßreduktion ist nicht angezeigt, wenn das mit zumutbaren finanzbehördlichen Mitteln nicht zu überwindende Aufklärungsdefizit in die Beweisrisikosphäre des Steuerpflichtigen fällt8. Dies kann dazu führen, dass im Falle der Nichtaufklärbarkeit des Sachverhalts die Feststellungslast (objektive Beweislast) dafür, dass dem Grunde nach überhaupt steuermindernde Betriebsausgaben vorliegen, den Steuerpflichtigen trifft.

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Sofern bei der Überzeugungsbildung auf die Anwendung spezieller Erfahrungssätze zurückgegriffen wird, etwa dass bei bestimmten Formen des Schrotthandels bestimmten Einnahmen auch bestimmte Ausgaben für den Wareneinkauf gegenüberstehen müssen, wäre ein solcher spezieller Erfahrungssatz hinreichend zu begründen9. Gegen einen dahingehenden allgemeinen, d.h. jedermann zugänglichen und durch keine Ausnahmen durchbrochenen Erfahrungssatz10 würde dagegen bereits sprechen, dass auch Fälle denkbar wären, in denen der Wareneingang eines Schrotthändlers z.B. über die Durchführung von Entrümpelungen im Wesentlichen nur mit Arbeitsaufwand oder sogar mit Betriebseinnahmen verbunden ist.

Erst wenn das Finanzgericht unter Beachtung dieser Rechtsgrundsätze zur Überzeugung gelangt ist, dass ein Wareneinkauf in bestimmtem Umfang stattgefunden hat und damit Aufwand entstanden ist, bestünde Raum, diesen der Höhe nach durch eine Schätzung näher zu bestimmen11, wenn er anderweitig nicht zu ermitteln ist. Bei der Wahl der Schätzungsmethode genießt die Anknüpfung an objektiv feststellbare Tatsachen Vorrang gegenüber abstrakten Überlegungen, sofern sich daraus plausible Schätzungsergebnisse ergeben12.

Im Rahmen dieser Schätzung sind dann auch die Korrekturvoraussetzungen und -grenzen der jeweiligen Änderungsnorm zu beachten.

Im Streitfall können die Überzeugungsbildung darüber, ob und ggf. in welchem Umfang überhaupt ein Wareneinkauf durch den Unternehmer stattgefunden hat, und eine sich ggf. anschließende Schätzung der Höhe der Aufwendungen dazu führen, dass mit den Ausgangsbescheiden bereits anerkannte Betriebsausgaben zu reduzieren oder ganz zu streichen sind. Eine solche zu Ungunsten des Unternehmers durchgeführte Änderung muss sich im Rahmen des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO halten. Sie darf nur die nachträglich bekannt gewordenen Tatsachen (z.B. fehlende Einkaufsnachweise) berücksichtigen. Eine darüberhinausgehende Kürzung des Betriebsausgabenabzugs wegen der fehlenden Benennung des Empfängers der zu berücksichtigenden Zahlungen nach § 160 Abs. 1 Satz 1 AO ist dagegen innerhalb des Korrekturrahmens des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO ausgeschlossen13.

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Kommt das Finanzgericht hingegen zur Überzeugung, dass über die in den Ausgangsbescheiden bereits anerkannten Betriebsausgaben hinaus weitere Betriebsausgaben zu berücksichtigen sind, hat es die Korrekturvoraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 2 Sätze 1 und 2 AO und § 177 Abs. 1 AO zu prüfen.

Bundesfinanzhof, Urteil vom 19. Januar 2017 – III R 28/14

  1. z.B. BFH, Urteile vom 03.11.2010 – I R 4/10, BFH/NV 2011, 800, Rz 18; und vom 10.06.1999 – V R 82/98, BFHE 188, 460, unter II.; BFH, Beschlüsse vom 10.02.2015 – V B 87/14, BFH/NV 2015, 662, Rz 11; und vom 20.07.2010 – X B 70/10, BFH/NV 2010, 2007, Rz 16; zustimmend z.B. Buciek in Beermann/Gosch, AO § 162 Rz 22; teilweise abweichend [nur Ausschluss der Schätzung des sog. Grundsachverhalts] Trzaskalik in HHSp, § 162 AO Rz 14 ff.; Seer in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 162 AO Rz 20[]
  2. BFH, Beschluss in BFH/NV 2015, 662, Rz 11; Trzaskalik in HHSp, § 162 AO Rz 15; Buciek in Beermann/Gosch, AO § 162 Rz 22; Frotscher in Schwarz/Pahlke, AO, § 162 Rz 14[]
  3. Trzaskalik in HHSp, § 162 AO Rz 15[]
  4. Buciek in Beermann/Gosch, AO § 162 Rz 22[]
  5. BFH, Urteil in BFHE 253, 299, BStBl II 2016, 815, Rz 30[]
  6. BFH, Urteil in BFHE 253, 299, BStBl II 2016, 815, Rz 31[]
  7. Frotscher in Schwarz/Pahlke, AO, § 162 Rz 14[]
  8. Seer in Tipke/Kruse, a.a.O., § 162 AO Rz 25[]
  9. BFH, Urteil vom 06.11.1987 – III R 178/85, BFHE 151, 425, BStBl II 1988, 442, unter II. 1.a[]
  10. s. hierzu etwa BFH, Urteil vom 05.06.2012 – I R 51/11, BFH/NV 2012, 1800, Rz 13[]
  11. BFH, Urteil in BFHE 253, 299, BStBl II 2016, 815, Rz 35, m.w.N.[]
  12. BFH, Beschluss vom 20.06.2005 – I B 181/04, BFH/NV 2005, 2062; Buciek in Beermann/Gosch, AO § 162 Rz 152[]
  13. s. dazu ausführlich BFH, Urteil in BFHE 253, 299, BStBl II 2016, 815, Rz 32 ff.[]
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