Die durch das Bundesverfassungsgericht1 mit Wirkung bis zum 31. Dezember 2009 ausgesprochene Anordnung der Weitergeltung der für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärten Regelungen über die Abziehbarkeit von Beiträgen zur Krankenversicherung ist weder verfassungswidrig noch liegt darin ein Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention. Es besteht kein verfassungsrechtlicher Anspruch darauf, die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung einkommensteuerlich in voller Höhe oder zumindest im Wege eines negativen Progressionsvorbehalts zu berücksichtigen.

Beiträge zur Krankenversicherung
Die verfassungsrechtlichen Fragen hinsichtlich der begrenzten Abziehbarkeit von Beiträgen zu Krankenversicherungen sind durch den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts in BVerfGE 120, 125 geklärt. Danach war der Gesetzgeber verpflichtet, mit Wirkung zum 1. Januar 2010 eine Neuregelung zu schaffen. Bis zu diesem Zeitpunkt blieben sowohl die für das seinerzeitige Streitjahr 1997 beanstandete Fassung des § 10 Abs. 3 EStG als auch sämtliche Nachfolgeregelungen weiter anwendbar2. In späteren Entscheidungen haben sowohl das Bundesverfassungsgericht3 als auch der Bundesfinanzhof4 hinsichtlich der Beiträge zur Krankenversicherung die weitere Anwendbarkeit des § 10 Abs. 3 EStG in seinen bis einschließlich des Veranlagungszeitraums 2009 geltenden Fassungen bestätigt.
Diese Weitergeltungsanordnung ist für den Bundesfinanzhof bindend, weil sie mit Gesetzeskraft versehen ist (§ 31 Abs. 2 BVerfGG)5; sie ist ihrerseits weder verfassungswidrig noch verstößt sie gegen Regelungen der EMRK.
Das Bundesverfassungsgericht hat als Verfassungsorgan des Bundes hinsichtlich der zeitlichen Geltung seiner Unvereinbarkeitserklärung eine Abwägung getroffen zwischen dem Anspruch des Rechtsuchenden auf Gewährung von Individualrechtsschutz, seinen Aufgaben zur Gewährleistung einer auch objektiven Rechtskontrolle, den Grundsätzen einer geordneten Haushaltsplanung (vgl. zur verfassungsrechtlichen Verankerung dieses Gesichtspunkts Art. 104a ff., Art. 109 GG), der Erwägung, nicht für weit zurückliegende Veranlagungszeiträume Verzerrungen herbeizuführen zwischen denjenigen Steuerpflichtigen, deren Veranlagungen bereits bestandskräftig waren und denjenigen, die ihre Veranlagungen offengehalten haben, sowie der Vorhersehbarkeit normverwerfender Entscheidungen, die solche Vorschriften betreffen, die zuvor jahrzehntelang angewendet und durch die höchstrichterliche Rechtsprechung in ihrer Wirksamkeit bestätigt worden waren6 und erhebliche Breitenwirkung haben. Derartige Abwägungen stehen dem Bundesverfassungsgericht kraft seiner Stellung als Verfassungsorgan zu; die befristete Weitergeltungsanordnung kann verfassungsgerichtsverfahrensrechtlich auf § 35 BVerfGG gestützt werden7.
Der Bundesfinanzhof hält die vom Bundesverfassungsgericht getroffene Weitergeltungsanordnung hinsichtlich der gesetzlichen Regelungen zum Abzug der Krankenversicherungsbeiträge für verfassungsgemäß.
Selbst wenn der Bundesfinanzhof von der Verfassungswidrigkeit der mit Gesetzeskraft versehenen Weitergeltungsanordnung überzeugt wäre, wäre er infolge seiner Gesetzesbindung verfahrensrechtlich auf die konkrete Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG verwiesen. Eine durch das Bundesverfassungsgericht selbst getroffene Anordnung der befristeten Weitergeltung eines Gesetzes, das für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt worden ist, kann jedoch nicht tauglicher Gegenstand einer Richtervorlage sein8.
Die Weitergeltungsanordnung verstößt nicht gegen Vorschriften der Europäischen Menschenrechtskonvention.
Soweit sich die gegenteile Ansicht auf das „Recht auf Freiheit und Sicherheit“ (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 EMRK) beruft, ist nicht ersichtlich, inwieweit dieses Recht durch die Weitergeltungsanordnung des BVerfG verletzt sein soll. Ohnehin versteht Art. 5 Abs. 1 EMRK unter der persönlichen Freiheit nur die körperliche Bewegungsfreiheit, nicht aber die allgemeine Handlungsfreiheit9. Die körperliche Bewegungsfreiheit wird aber weder durch die Besteuerung noch durch die Weitergeltungsanordnung berührt.
Art. 6 Abs. 1 EMRK (Anspruch auf rechtliches Gehör vor einem unabhängigen Gericht innerhalb einer angemessenen Frist) gilt nach seinem klaren Wortlaut nur für gerichtliche Verfahren über zivilrechtliche Ansprüche oder strafrechtliche Anklagen. Im Bereich des – öffentlichrechtlichen – Steuerrechts ist diese Norm von vornherein nicht anwendbar10.
Dem steht das von den Klägern angeführte Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte11 nicht entgegen. Zwar hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dort in Bezug auf ein Verfahren, das Ansprüche gegen die gesetzliche Unfallversicherung betraf, eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK bejaht. Er hat zugleich aber festgestellt, dass es sich bei den Leistungsansprüchen von Arbeitnehmern gegen die gesetzliche Unfallversicherung um „zivilrechtliche Ansprüche“ im Sinne der genannten Konventionsvorschrift handelt12. Dies ist bei Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis indes nicht der Fall.
Der Anspruch auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 Abs. 1 EMRK) ist nicht verletzt. Der bisherigen Rechtsprechung des EGMR ist nicht einmal ansatzweise zu entnehmen, dass die beschränkte einkommensteuerrechtliche Abziehbarkeit von Beiträgen zur Krankenversicherung bei gleichzeitiger Steuerfreiheit der bezogenen Leistungen (vgl. § 3 Nr. 1 Buchst. a EStG) eine Menschenrechtsverletzung darstellen könnte.
Weshalb die Weitergeltungsanordnung eine – nach Art. 14 EMRK verbotene – Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, der Rasse, Hautfarbe, Sprache, Religion, politischen oder sonstigen Anschauungen, nationaler oder sozialer Herkunft, Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder des sonstigen Status darstellen soll, ist nicht ersichtlich.
Die Gegenansicht beruft sich zwar darauf, dass diese Konventionsnorm auch eine Diskriminierung aufgrund des „Vermögens“ verbietet. Art. 14 EMRK dient in seiner Gesamtausrichtung jedoch erkennbar dem Minderheitenschutz. Die Frage der einkommensteuerrechtlichen Abziehbarkeit von Krankenversicherungsbeiträgen betrifft jedoch nicht lediglich eine Minderheit, sondern nahezu die Gesamtheit aller Steuerpflichtigen.
Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass das Einkommensteuergesetz nicht an das Vermögen, sondern an das Einkommen anknüpft. Der bisherigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist nicht zu entnehmen, dass der Europäische Gerichtshof nationale gesetzliche Regelungen über die Einkommensteuer als Diskriminierung aufgrund des Vermögens ansehen könnte.
Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 28. November 198413 betrifft die Vaterschaftsfeststellung und -anfechtung; derartige Sachverhalte sind schon im Ausgangspunkt nicht mit der von den Klägern angegriffenen Weitergeltungsanordnung vergleichbar.
Beiträge zur Arbeitslosenversicherung
Hinsichtlich der Beiträge an die Bundesanstalt für Arbeit (heute: Beiträge zu Versicherungen gegen Arbeitslosigkeit) ist weder ein Sonderausgabenabzug in voller Höhe noch eine Berücksichtigung im Wege des negativen Progressionsvorbehalts verfassungsrechtlich geboten.
Der Gesetzgeber ist verfassungsrechtlich nicht verpflichtet, Beiträge an die Bundesanstalt für Arbeit bzw. zu Versicherungen gegen Arbeitslosigkeit einkommensteuerlich in vollem Umfang zum Abzug zuzulassen14.
In seiner Entscheidung zur Verfassungswidrigkeit der im Jahr 1997 geltenden Regelungen zur Abziehbarkeit von Beiträgen zu privaten Kranken- und Pflegeversicherungen hat das Bundesverfassungsgericht „streng auf das sozialhilferechtlich gewährleistete Leistungsniveau als eine das Existenzminimum quantifizierende Vergleichsebene“ abgestellt. Es hat entgegen eine verfassungsrechtliche Pflicht, unter dem Gesichtspunkt der „Zwangsläufigkeit“ Ausgaben bis zur Höhe der Pflichtsozialversicherungsbeiträge zum Abzug von der einkommensteuerlichen Bemessungsgrundlage zuzulassen, ausdrücklich verneint. Denn das Prinzip der Steuerfreiheit des Existenzminimums gewährleiste dem Steuerpflichtigen lediglich den Schutz des Lebensstandards auf Sozialhilfeniveau, nicht aber auf dem Niveau, das durch die Leistungen der gesetzlichen Sozialversicherung erreicht werden könne15.
Der gesetzliche Leistungskatalog der Sozialhilfe enthielt aber weder im Jahr 1997 eine Verpflichtung der Sozialhilfeträger zur Übernahme von Beiträgen an die Bundesanstalt für Arbeit noch ist im gegenwärtigen Sozialhilferecht nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch eine Verpflichtung zur Übernahme von Beiträgen zu Arbeitslosenversicherungen vorgesehen. Vielmehr wird das Risiko der Arbeitslosigkeit und des damit verbundenen Wegfalls des Erwerbseinkommens bereits durch die SozialhilfeRegelsätze berücksichtigt. Das dadurch quantifizierte Existenzminimum wird einkommensteuerrechtlich indes in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise16- durch den Grundfreibetrag steuerfrei gestellt. Damit unterscheidet sich die sozialhilferechtliche Rechtslage hinsichtlich der Beiträge zu Arbeitslosenversicherungen grundlegend von den insoweit geltenden Regelungen zur Kranken- und Pflegeversorgung, nach denen sozialhilferechtlich entweder die Übernahme der zu zahlenden Beiträge oder aber die Gewährleistung von Kranken- und Pflegeversorgung zusätzlich zum SozialhilfeRegelsatz vorgesehen war und ist (vgl. für das Jahr 1997 §§ 13, 36 ff., 68 ff. BSHG; heute §§ 32, 47 ff., 61 ff. SGB XII).
Unzutreffend ist die Auffassung, aus dem ohnehin erst nach den Streitjahren in Kraft getretenen- Zweiten Buch Sozialgesetzbuch folge, dass mit den Beiträgen an die Bundesanstalt bzw. Bundesagentur für Arbeit ausschließlich Leistungen finanziert würden, die das Niveau der Existenzsicherung nicht überschritten. Diese Auffassung bezieht sich insoweit auf die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II („Hartz IV“). Dabei verkennen sie, dass diese Leistungen gerade nicht aus Beitragsmitteln, sondern – ebenso wie die Sozialhilfe und die frühere Arbeitslosenhilfe – vom Bund finanziert werden (§ 46 Abs. 1 SGB II)17. Nichts anderes folgt aus dem Hinweis auf die Vorschrift des § 46 Abs. 4 SGB II. Denn der dort genannte Finanzierungsanteil der Bundesagentur für Arbeit betrifft lediglich Leistungen zur Eingliederung in Arbeit sowie entsprechende Verwaltungskosten. Dabei handelt es sich aber nicht um existenzsichernde Geldleistungen, sondern um arbeitsmarktpolitische Maßnahmen.
Die Kläger haben keinen verfassungsrechtlichen Anspruch darauf, dass ihre Beiträge an die Bundesanstalt für Arbeit im Wege des negativen Progressionsvorbehalts zu einer zusätzlichen einkommensteuerlichen Entlastung führen.
Anders als das Finanzgericht offenbar meint, kennt das Einkommensteuerrecht auch einen negativen Progressionsvorbehalt18.
Dieser beschränkt sich indes auf den Bereich der Betriebsausgaben und Werbungskosten sowie der negativen Einnahmen. Dies folgt aus § 32b EStG. Denn in § 32b Abs. 1 Nr. 2 EStG 1990 (ab 1996 § 32b Abs. 1 Nr. 2 und 3 EStG; heute § 32b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 bis 5 EStG) ist ausdrücklich der Begriff der „Einkünfte“ verwendet, auf deren Höhe sich Sonderausgaben gemäß § 2 Abs. 4 EStG nicht auswirken. In § 32b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG findet sich dieser Begriff zwar nicht unmittelbar; dort sind aber ausschließlich Lohn- und Einkommensersatzleistungen19 enumerativ aufgeführt, die ihrem Wesen nach grundsätzlich zu den steuerbaren Einnahmen gehören (vgl. auch § 24 Nr. 1 Buchst. a EStG). Dies zeigt, dass neben negativen Einnahmen- nur Aufwendungen im Bereich der Einkunftserzielung einen negativen Progressionsvorbehalt auslösen können20.
Die von den Klägern gezahlten Beiträge stellen jedoch weder negative Einnahmen dies ist unstreitig- noch Werbungskosten dar. Denn der Gesetzgeber hat die Vorsorgeaufwendungen mit konstitutiver Wirkung und Vorrang gegenüber der allgemeinen Regelung des Einleitungssatzes des § 10 Abs. 1 EStG- den Sonderausgaben zugewiesen und ihren Abzug nur in den Grenzen der in § 10 Abs. 3 EStG 1990/1997 bestimmten Höchstbeträge zugelassen. Zur näheren Begründung verweist der Bundesfinanzhof auf seine zu Altersvorsorgeaufwendungen ergangenen Entscheidungen vom 1. Februar 2006((BFH, Beschluss vom 01.02.2006 – X B 166/05, BFHE 212, 242, BStBl II 2006, 420, unter II.05; und in BFHE 227, 137, BStBl II 2010, 282, unter B.I.02.b bb)). Diese auch hinsichtlich der Beiträge zur Bundesanstalt für Arbeit geltende und verfassungsrechtlich nicht zu beanstandende gesetzgeberische Zuordnungsentscheidung liefe leer, wenn denjenigen Steuerpflichtigen, bei denen der Abzug dieser Beiträge durch § 10 Abs. 3 EStG 1990/1997 begrenzt ist, ersatzweise ein Wahlrecht auf Anwendung des negativen Progressionsvorbehalts zustehen würde.
Im Übrigen folgt aus der Systematik des § 32b EStG, dass ein negativer Progressionsvorbehalt überhaupt nur dann in Betracht kommen kann, wenn ein Abzug der entsprechenden Aufwendungen zum Regeltarif bereits dem Grunde nach nicht möglich ist. Das ist hinsichtlich der von den Klägern gezahlten Beiträge nicht der Fall. Auch stellt § 32b EStG keinen Auffangtatbestand für den Abzug solcher Aufwendungen dar, die bei Ermittlung der tariflichen Einkommensteuer zwar dem Grunde nach abziehbar sind, deren Berücksichtigung im Einzelfall jedoch daran scheitert, dass ein im Gesetz bestimmter Höchstbetrag überschritten ist.
Der Hinweis auf die neuere Rechtsprechung des VI. Senats des Bundesfinanzhofs, wonach im Bereich der Berufsausbildungskosten (§ 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG) aufgrund des Einleitungssatzes des § 10 Abs. 1 EStG der Werbungskostenabzug vorrangig vor dem Abzug als Sonderausgaben sei21, steht dem nicht entgegen. Denn der Vorschrift des § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG verbleibt auch bei Zugrundelegung der Auslegung des VI. Senats noch ein gewisser eigener Anwendungsbereich, weil von ihr auch solche Ausbildungskosten erfasst werden, die der Steuerpflichtige ohne die Absicht, hieraus später steuerpflichtige Einnahmen zu erzielen, trägt. So weist der VI. Semat ausdrücklich darauf hin, dass der Gesetzgeber durch die Einfügung des § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG Abzugsmöglichkeiten habe schaffen wollen, die nach der seinerzeitigen Rechtslage im Bereich der Betriebsausgaben bzw. Werbungskosten nicht bestanden hätten22. Demgegenüber verbliebe für den vom Gesetzgeber für die Beiträge zur Bundesanstalt für Arbeit ausdrücklich vorgesehenen Sonderausgabentatbestand keinerlei Anwendungsbereich mehr, wenn diese Beiträge den Werbungskosten zuzuordnen wären. Eine solche Auslegung würde aber den klaren Willen des historischen Gesetzgebers missachten23. Auch der VI. Senat hat die Rechtsprechung zu den Vorsorgeaufwendungen unberührt lassen wollen, was sich schon daran zeigt, dass die Rechtsprechung zu den Ausbildungskosten ohne Divergenzanfrage ergangen ist.
Mit dem Argument, der Bundesfinanzhof weiche von der Rechtsprechung seines IX. Senats zu Versorgungsausgleichszahlungen zwischen Ehegatten ab24, hat sich der Bundesfinanzhof bereits25 auseinandergesetzt.
Keine Aaussetzung des Verfahrens
Ein Ruhen oder Aussetzen des Verfahrens kommt nicht in Betracht.
Für das von den Klägern beantragte Ruhen des Verfahrens gilt dies schon deshalb, weil hierfür gemäß § 251 ZPO i.V.m. § 155 FGO ein übereinstimmender Antrag beider Beteiligten erforderlich wäre, an dem es jedoch fehlt.
Eine Aussetzung des Verfahrens in analoger Anwendung des § 74 FGO im Hinblick auf die von den Klägern angeführten Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist ebenfalls nicht angebracht. Diese Verfahren betreffen lediglich Teilaspekte des vorliegend zu beurteilenden Streitstoffs. Allein der Umstand, dass gegen bestimmte Entscheidungen des Bundesfinanzhofs Verfassungsbeschwerden eingelegt worden sind, begründet noch kein überwiegendes Interesse anderer Rechtsmittelführer an der Aussetzung26. Gleiches gilt für den Umstand, dass gegen eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eine Beschwerde beim Europäischen Gerichshof für Menschenrechte eingelegt worden ist.
In Bezug auf das beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anhängige Verfahren weist der Bundesfinanzhof zudem darauf hin, dass die Entscheidungsbefugnis des EGMR nicht so weit reicht wie die des BVerfG. Das BVerfG kann auch im Verfahren der Urteilsverfassungsbeschwerde ein Gesetz, auf dem die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Entscheidung beruht, für nichtig erklären (§ 95 Abs. 3 Satz 2 BVerfGG). Diese Nichtigkeitserklärung hat Gesetzeskraft (§ 31 Abs. 2 BVerfGG) und wirkt damit unmittelbar für und gegen alle. Demgegenüber kann der EGMR im Falle einer Verletzung der EMRK lediglich dem Beschwerdeführer im anhängigen Einzelfall eine „gerechte Entschädigung“ zusprechen (Art. 41 EMRK); eine Verwerfung von Normen des nationalen Rechts mit Wirkung für und gegen alle ist dem EGMR nicht möglich. Die analoge Anwendung des § 74 FGO in Fällen anhängiger Musterverfahren vor dem BVerfG ist damit begründet worden, dass allein das BVerfG „verbindlich über die umstrittene Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Regelung entscheiden kann“27. Diese Begründung hebt ersichtlich auf die negative Gesetzkompetenz des Bundesverfassungsgerichts ab. Fehlt den Entscheidungen eines Obergerichts hingegen diese „Interomnes-Wirkung“, kommt eine auf eine analoge Anwendung des § 74 FGO gestützte Aussetzung des Verfahrens nicht in Betracht28.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 16. November 2011 – X R 15/09
- BVerfG, Beschluss vom 13.02.2008 – 2 BvL 1/06, BVerfGE 120, 125, unter E.II.2.[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss in BVerfGE 120, 125, unter Nr. 2 des Tenors sowie unter E.II.02. der Gründe[↩]
- BVerfG, Beschluss vom 13.02.2008 2 BvR 1220/04, 410/05, BVerfGE 120, 169, unter B.II.[↩]
- BFH, Beschluss vom 26.11.2008 – X R 20/04, BFH/NV 2009, 382, Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen durch BVerfG, Beschluss vom 09.07.2009 – 2 BvR 92/09; BFH, Beschluss vom 11.12.2008 – X B 179/08, BFH/NV 2009, 573, unter 2.b bb, Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen durch BVerfG, Beschluss vom 14.09.2010 – 2 BvR 329/09[↩]
- vgl. hierzu ausführlich BFH, Beschluss vom 24.11.2010 – II B 9/10, BFH/NV 2011, 441, unter 1.a, mit zahlreichen weiteren Nachweisen[↩]
- z.B. BFH, Urteil vom 16.10.2002 – XI R 41/99, BFHE 200, 529, BStBl II 2003, 179[↩]
- BVerfG, Beschluss vom 11.10.1994 2 BvR 633/86, BVerfGE 91, 186, unter C.III.01.[↩]
- vgl. ausführlich BFH, Urteil vom 21.07.2004 – X R 72/01, BFH/NV 2005, 513, unter II.03., Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen durch BVerfG, Beschluss vom 25.09.2009 – 2 BvR 2299/04[↩]
- Renzikowski in Internationaler Kommentar zur EMRK, Art. 5 Rz 1, 15 f., Stand Juni 2004[↩]
- vgl. ausführlich EGMR, Urteil vom 12.07.2001 – 44759/98, NJW 2002, 3453; ferner BFH, Urteile vom 13.12.1995 – XI R 4345/89, BFHE 179, 353, BStBl II 1996, 232, unter I.; und vom 21.03.1996 – XI R 82/94, BFHE 180, 316, BStBl II 1996, 518, unter II.B.04.; BFH, Beschlüsse vom 27.02.2002 – VII B 294/01, BFH/NV 2002, 942, und vom 31.07.2003 – IX E 6/03, BFH/NV 2003, 1603[↩]
- EGMR, Urteil vom 29.05.1986 – 9/1984/81/128, NJW 1989, 652[↩]
- EGMR, Urteil in NJW 1989, 652, Rz 71 ff.: Unfallrente als Verlängerung des dem Arbeitnehmer entgehenden zivilrechtlichen Anspruchs auf Vergütung[↩]
- EGMR, Urteil vom 28.11.1984 – 9/1983/65/100, EGRZ 1985, 511[↩]
- ebenso im Ergebnis bereits BFH, Urteil vom 18.11.2009 – X R 6/08, BFHE 227, 137, BStBl II 2010, 282, unter B.II.03.b cc[↩]
- zum Ganzen BVerfG, Beschluss in BVerfGE 120, 125, unter D.II.03.[↩]
- BFH, Urteil vom 18.11.2009 – X R 34/07, BFHE 227, 99, BStBl II 2010, 414, unter B.III.[↩]
- vgl. hierzu auch BVerfG, Beschluss vom 08.11.2011 1 BvR 2007/11, Die Sozialgerichtsbarkeit 2012, 25[↩]
- vgl. u.a. BFH, Beschluss vom 13.11.2002 – I R 13/02, BFHE 201, 73, BStBl II 2003, 795; zuletzt BFH, Urteil vom 09.06.2010 – I R 107/09, BFHE 230, 35, unter B.I.04.[↩]
- so zutreffend Probst in Herrmann/Heuer/Raupach, § 32b EStG Rz 60, Stand Januar 2005[↩]
- ebenso BFH, Urteil vom 03.11.2010 – I R 73/09, BFH/NV 2011, 773, unter II.03.[↩]
- BFH, Urteil vom 28.07.2011 – VI R 38/10, NJW 2011, 2909, unter II.01.c; vgl. aber § 4 Abs. 9 und § 9 Abs. 6 EStG in der Fassung des Gesetzes zur Umsetzung der Beitreibungsrichtlinie sowie zur Änderung steuerlicher Vorschriften, BGBl – I 2011, 2592[↩]
- BFH, Urteil vom 17.12.2002 – VI R 137/01, BFHE 201, 211, BStBl II 2003, 407, unter II.03.c[↩]
- so bereits BFH, Beschluss in BFHE 212, 242, BStBl II 2006, 420, unter II.05.b[↩]
- z.B. BFH, Urteil vom 08.03.2006 – IX R 107/00, BFHE 212, 511, BStBl II 2006, 446[↩]
- BFH, Urteil in BFHE 227, 99, BStBl II 2010, 414[↩]
- vgl. BFH, Beschluss vom 08.11.2007 – VIII B 170/06, BFH/NV 2008, 580, unter II.02., m.w.N.[↩]
- BFH, Beschluss vom 07.02.1992 – III B 24, 25/91, BFHE 166, 418, BStBl II 1992, 408, unter 2.b[↩]
- vgl. zur Berufung auf Musterverfahren, die vor dem BFH anhängig sind: BFH, Entscheidungen vom 18.09.2002 – XI B 126/01, BFH/NV 2003, 189; und vom 23.07.2003 – I R 80/02, BFHE 203, 114, BStBl II 2003, 926, unter II.01.[↩]