Abzweigung von Kindergeld an einen Sozialleistungsträger

Begehrt ein Sozialleistungsträger die Auszahlung von zugunsten des Berechtigten festgesetztem Kindergeld und legt er dabei die Anspruchsgrundlage für dieses Begehren nicht eindeutig oder unzutreffend dar, ist im Wege der Auslegung zu ermitteln, ob Abzweigung nach § 74 Abs. 1 Satz 4 EStG oder Erstattung nach § 74 Abs. 2 EStG begehrt wird. Die nach § 102 FGO vorzunehmende gerichtliche Prüfung, ob die Familienkasse bei der Entscheidung über die Abzweigung nach § 74 Abs. 1 Satz 4 EStG ihr Ermessen ordnungsgemäß ausgeübt hat, erstreckt sich auch darauf, ob die Familienkasse ihre Entscheidung auf der Grundlage des einwandfrei und erschöpfend ermittelten Sachverhalts getroffen und dabei die Gesichtspunkte tatsächlicher und rechtlicher Art berücksichtigt hat, die nach Sinn und Zweck des § 74 Abs. 1 Satz 4 EStG maßgeblich sind. Insoweit ist bei einer von dem Sozialleistungsträger behaupteten Unterhaltspflichtverletzung des Kindergeldberechtigten gegenüber seinem behinderten Kind u.a. erforderlich, dass für den konkreten Streitzeitraum die von dem Kindergeldberechtigten getätigten Aufwendungen im Zusammenhang mit dem Grundbedarf und dem behinderungsbedingten Mehrbedarf des Kindes festgestellt und erforderlichenfalls geschätzt werden.

Abzweigung von Kindergeld an einen Sozialleistungsträger

Auslegung des Antrags

Für den Fall, dass ein Sozialleistungsträger das Begehren auf Auszahlung des zugunsten des Berechtigten festgesetzten Kindergelds erhebt, die Anspruchsgrundlage für dieses Begehren jedoch nicht eindeutig oder unzutreffend darlegt, hat der BFH bereits entschieden, dass im Wege der Auslegung zu ermitteln ist, ob eine Abzweigung nach § 74 Abs. 1 Satz 4 EStG oder eine Erstattung nach § 74 Abs. 2 EStG begehrt wird1. Zu berücksichtigen ist dabei in verfahrensrechtlicher Hinsicht, dass der Erstattungsanspruch ohne Durchführung eines Vorverfahrens im Wege der nicht fristgebundenen allgemeinen Leistungsklage geltend gemacht werden kann2.

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Zu beachten ist auch, dass der Erstattungsanspruch nach § 104 SGB X kraft Gesetzes entsteht und daher im Gegensatz zur Abzweigung nach § 74 Abs. 1 Satz 4 EStG keine Ermessensentscheidung der Familienkasse erforderlich ist. Zudem hat der Kläger seinen Auszahlungsanspruch nicht auf den gesamten monatlichen Kindergeldbetrag gerichtet, sondern ihn auf den von dem Beigeladenen nach § 94 Abs. 2 SGB XII geforderten Unterhaltsbeitrag in Höhe von zunächst 46 EUR pro Monat beschränkt. Liegt ein solcher von § 104 Abs. 1 Satz 4, Abs. 2 SGB X erfasster Fall der Geltendmachung eines Aufwendungsersatzanspruchs bzw. der Erhebung eines Kostenbeitrags vor, kommt hinzu, dass nach § 104 Abs. 1 Satz 4 2. Halbsatz SGB X anders als bei dem Erstattungsanspruch nach § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X- auch die Erfordernisse der Gleichartigkeit und Nachrangigkeit der von dem Sozialleistungsträger erbrachten Leistungen gegenüber dem Kindergeld nicht erfüllt sein müssen. Dies spricht unter Berücksichtigung der Interessenslage des Klägers dafür, den Antrag dahin auszulegen, dass das Auszahlungsbegehren nicht nur auf den Abzweigungsanspruch nach § 74 Abs. 1 EStG, sondern jedenfalls auch wenn nicht sogar primär- auf den Erstattungsanspruch nach § 74 Abs. 2 EStG i.V.m. § 104 Abs. 1 Satz 4, Abs. 2 SGB X oder gegebenenfalls auch i.V.m. § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X gestützt wird. Entsprechend hat der Kläger in seinen Schreiben selbst teils von Abzweigung und teils von Erstattung gesprochen.

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Erstattungsanspruch nach § 74 Abs. 2 EStG i.V.m. § 104 Abs. 1 Satz 4, Abs. 2 SGB X

Voraussetzung für diesen Erstattungsanspruch nach § 74 Abs. 2 EStG i.V.m. § 104 Abs. 1 Satz 4, Abs. 2 SGB X ist nur, dass der Kläger gegenüber dem Beigeladenen einen Kostenbeitrag festgesetzt hat3 und der Beigeladene diesen nicht oder nicht in vollem Umfang erbracht hat.

Liegt ein solcher bestandskräftiger Bescheid vor, sehen im Übrigen bereits die einschlägigen Verwaltungsanweisungen eine Erstattungspflicht der Familienkasse in dem Umfang vor, in dem der Kostenbeitrag nicht geleistet wurde bzw. wird4.

Erstattungsanspruch nach § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X

Alternativ käme auch ein Erstattungsanspruch nach § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X in Betracht. Hierbei wäre jedoch zu berücksichtigen, dass für den Erstattungsanspruch nach § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X die Gleichartigkeit der gewährten Sozialleistungen und die Nachrangigkeit der von dem Kläger gewährten Sozialleistungen gegenüber dem von der Familienkasse gewährten Kindergeld erforderlich sind. Insoweit wäre die genaue Zusammensetzung der für T von dem Kläger gewährten Leistungen noch durch das Finanzgericht festzustellen. Auf die insoweit ergangenen Entscheidungen des BFH zur Sozialhilfe5 und zur Eingliederungshilfe für behinderte Menschen6 wird verwiesen.

Abzweigungsanspruch

Schließlich käme auch ein Abzweigungsanspruch nach § 74 Abs. 1 Satz 4 EStG in Betracht. Insoweit ist das Finanzgericht bei der Prüfung, ob die Familienkasse ihr Ermessen im Rahmen der durch die Einspruchsentscheidung vom 03.11.2006 erfolgten Ablehnung der Abzweigung ordnungsgemäß ausgeübt hat, von anderen Rechtsgrundsätzen ausgegangen, als sie der Bundesfinanzhof in dem nach der FG-Entscheidung ergangenen- Urteil vom 9. Februar 20097 zugrunde gelegt hat. In dieser Entscheidung hat der Bundesfinanzhof die aus seinem Urteil vom 23. Febraur 20068 zu ziehenden Folgerungen nochmals erläutert. Danach hängt die Entscheidung über die Abzweigung davon ab, ob und in welcher Höhe den Eltern den Grund- und den behinderungsbedingten Mehrbedarf betreffende- Aufwendungen für das Kind entstanden sind. Dabei sind auch im Verhältnis zu den Kosten des Sozialleistungsträgers geringe Aufwendungen für das Kind miteinzubeziehen. Zu berücksichtigen sind jedoch nur die den Eltern im Zusammenhang mit der Betreuung und dem Umgang mit dem Kind tatsächlich entstandenen und glaubhaft gemachten Aufwendungen. Dagegen dürfen keine fiktiven Betreuungskosten berücksichtigt werden und es kann auch nicht grundsätzlich auf eine Bezifferung oder gegebenenfalls eine Schätzung des den Eltern entstandenen Aufwands verzichtet werden.

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Im vorliegenden Streitfall hat das Finanzgericht dagegen nur ausgeführt, die Entscheidung der Familienkasse sei nicht ermessensfehlerhaft, da der Beigeladene mitgeteilt habe, dass er T praktisch zu 50 % der Zeit betreue, und dies durch Kalendermarkierungen glaubhaft gemacht habe. Insofern hätte das Finanzgericht jedoch im Rahmen der nach § 102 Satz 1 FGO durchzuführenden Überprüfung feststellen müssen, ob die Familienkasse ihre Entscheidung auf der Grundlage des einwandfrei und erschöpfend ermittelten Sachverhalts getroffen und dabei die Gesichtspunkte tatsächlicher und rechtlicher Art berücksichtigt hat, die nach Sinn und Zweck der Norm, die das Ermessen einräumt, maßgeblich sind9. Hierzu wäre erforderlich gewesen, dass für den konkreten Streitzeitraum die Anzahl der Fahrten des Beigeladenen und die Aufenthaltstage der T bei dem Beigeladenen ermittelt worden wären und festgestellt bzw. erforderlichenfalls geschätzt worden wäre, welche Kosten dem Beigeladenen insoweit entstanden sind. Sofern der Beigeladene andere Aufwendungen im Zusammenhang mit dem Grund- und/oder dem behinderungsbedingten Mehrbedarf der T geltend macht, wäre ebenfalls festzustellen gewesen, ob und gegebenenfalls inwieweit der Beigeladene tatsächlich solche Kosten getragen hat.

Bundesfinanzhof, Urteil vom 19. April 2012 – III R 85/09

  1. vgl. Urteil vom 25.09.2008 – III R 16/06, BFH/NV 2009, 164[]
  2. BFH, Urteil vom 26.01.2006 – III R 89/03, BFHE 212, 1, BStBl II 2006, 544, m.w.N.[]
  3. vgl. BFH, Urteil vom 25.05.2004 – VIII R 21/03, BFH/NV 2005, 171, m.w.N.[]
  4. vgl. DA 74.02.1 Abs. 3 der Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des Einkommensteuergesetzes, Stand 2011, BStBl I 2009, 1033, BStBl I 2011, 21, 716[]
  5. vgl. Urteil vom 14.05.2002 – VIII R 88/01, BFH/NV 2002, 1156[]
  6. vgl. Urteil vom 07.12.2004 – VIII R 57/04, BFH/NV 2005, 862[]
  7. BFH, Urteil vom 09.02.2009 – III R 37/07, BFHE 224, 290, BStBl II 2009, 928[]
  8. BFH, Urteil vom 23.02.2006 – III R 65/04, BFHE 212, 481, BStBl II 2008, 753[]
  9. vgl. BFH, Urteile vom 22.02.1972 – VII R 80/69, BFHE 105, 220, BStBl II 1972, 544, und vom 22.06.1990 – III R 150/85, BFHE 161, 4, BStBl II 1991, 864; Kruse in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 102 FGO Rz 5[]
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