Änderung des Solidaritätszuschlags bei bestandskräftiger Veranlagung

Einwendungen gegen die Berechnung der modifizierten Einkommensteuer nach § 3 Abs. 2 SolZG sind im Rechtsbehelfsverfahren gegen die abgelehnte Änderung der Festsetzung des Solidaritätszuschlags und nicht im Verfahren gegen die abgelehnte Änderung der Einkommensteuerfestsetzung geltend zu machen.

Änderung des Solidaritätszuschlags bei bestandskräftiger Veranlagung

Die nachträgliche Festsetzung von Kindergeld führt zu keiner Änderung des bestandskräftig festgesetzten Solidaritätszuschlags nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO. Die Festsetzung und/oder Zahlung von Kindergeld sind keine Merkmale des Tatbestands von § 3 Abs. 2 SolZG i.V.m. § 32 EStG. Dem nachträglichen Eintreten dieser Umstände kommt daher keine Rückwirkung im Sinne des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO für die Festsetzung des Solidaritätszuschlags zu.

Den Einkommensteuerbescheiden kommt, soweit das Klagebegehren reicht, auch keine Grundlagenfunktion für die Festsetzung des Solidaritätszuschlags zu. Nach § 3 Abs. 2 SolZG ist Bemessungsgrundlage für den Solidaritätszuschlag die Einkommensteuer, die abweichend von § 2 Abs. 6 EStG unter Berücksichtigung von Freibeträgen gemäß § 32 Abs. 6 EStG in allen Fällen des § 32 EStG festzusetzen wäre. Zwar ist der Solidaritätszuschlag nach Maßgabe von § 3 Abs. 1 Nr. 1 SolZG Folgesteuer zu der als Maßstabsteuer dienenden Einkommensteuer. Insoweit stehen der Einkommensteuerbescheid und die Festsetzung des Solidaritätszuschlags im Verhältnis Grundlagen-/Folgebescheid (vgl. § 1 Abs. 5 SolZG1). Soweit jedoch § 3 Abs. 2 SolZG Modifikationen bei der Berechnung der maßgeblichen Einkommensteuer vorsieht, die ausschließlich der Bemessung des Solidaritätszuschlags dienen und für die Festsetzung der tatsächlichen Einkommensteuer keine Bedeutung haben, hat der Einkommensteuerbescheid diese Grundlagenfunktion nicht. Einwendungen, die sich gegen die Berechnung der modifizierten Einkommensteuer nach § 3 Abs. 2 SolZG richten, sind nicht im Rechtsbehelfsverfahren gegen den Einkommensteuerbescheid, sondern in jenem gegen die Festsetzung des Solidaritätszuschlags geltend zu machen2.

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Die nachträgliche Festsetzung von Kindergeld begründet für die Kläger keinen Anspruch aus § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO auf Änderung des festgesetzten Solidaritätszuschlags.

Nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO ist ein Steuerbescheid zu ändern, soweit ein für ihn bindender Grundlagenbescheid (§ 171 Abs. 10 AO) erlassen, aufgehoben oder geändert wird. Grundlagenbescheide sind gemäß § 171 Abs. 10 Satz 1 AO Feststellungsbescheide, Steuermessbescheide oder sonstige für eine Steuerfestsetzung bindende Verwaltungsakte. Für die Annahme einer Bindungswirkung ist nach der Rechtsprechung des BFH grundsätzlich eine gesetzliche Regelung erforderlich3. Hieran fehlt es im Streitfall; eine Bindungswirkung des Kindergeldbescheids für die Festsetzung des Solidaritätszuschlags ist gesetzlich nicht vorgesehen.

Auch eine Änderung nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO ist im Streitfall nicht möglich.

Nach dieser Vorschrift ist ein Steuerbescheid zu ändern, soweit ein Ereignis eintritt, das steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat (rückwirkendes Ereignis). Ein rückwirkendes Ereignis i.S. von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO liegt vor, wenn sich nach Ergehen eines Steuerbescheids der rechtserhebliche Sachverhalt in der Weise ändert, dass nunmehr der veränderte anstelle des zuvor verwirklichten Sachverhalts der Besteuerung zugrunde zu legen ist. Eine andere rechtliche Beurteilung des unverändert bleibenden Sachverhalts genügt insoweit nicht. Eine Gerichtsentscheidung ist daher nur dann ein rückwirkendes Ereignis i.S. des § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO, wenn sie den Tatbestand, an den das Steuergesetz anknüpft, rückwirkend verändert4. Entsprechendes gilt für Merkmale, auf welche das Steuergesetz abstellt und die durch eine behördliche Entscheidung rückwirkend umgestaltet werden5. Ob ein Ereignis in die Vergangenheit zurückwirkt, ist den Normen des materiellen Steuerrechts zu entnehmen6.

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Nach diesen Maßstäben sind weder der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts in BVerfGE 112, 1647 noch die nachträgliche Festsetzung und/oder Zahlung von Kindergeld ein rückwirkendes Ereignis für die Festsetzung des Solidaritätszuschlags.

Die nach § 3 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 SolZG als Bemessungsgrundlage des Solidaritätszuschlags dienende „fiktive“ Einkommensteuer ist die Einkommensteuer, die abweichend von § 2 Abs. 6 EStG unter Berücksichtigung von Freibeträgen nach § 32 Abs. 6 EStG in allen Fällen des § 32 EStG festzusetzen wäre. Diese Bemessungsgrundlage berücksichtigt also stets die Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG8, unabhängig davon, ob sie bei der Veranlagung zur Einkommensteuer in Abzug gebracht worden sind oder ob die nach § 31 EStG für die Einkommensteuerfestsetzung vorzunehmende Vergleichsrechnung ergeben hat, dass sich das Kindergeld für den Steuerpflichtigen günstiger auswirkt9. Der Abzug der Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG ist, wie § 3 Abs. 2 SolZG ausdrücklich regelt, jedoch nur möglich in den Fällen des § 32 EStG. D.h., dass die Regelungen des § 32 EStG zu prüfen sind und deren Voraussetzungen vorliegen müssen10; anderenfalls können bei der Berechnung der fiktiven Einkommensteuer für Zwecke der Festsetzung des Solidaritätszuschlags keine Freibeträge i.S. von § 32 Abs. 6 EStG abgezogen werden.

Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts11 hat die Tatsache, dass für die Kinder der Kläger Beiträge zur gesetzlichen Sozialversicherung abgeführt wurden, nicht verändert. Der Beschluss führt lediglich zu einer anderen rechtlichen Beurteilung des unverändert bleibenden Sachverhalts dergestalt, dass solche Beiträge nunmehr bei der Ermittlung der Einkünfte und Bezüge des Kindes gemäß § 32 Abs. 4 Sätze 2 ff. EStG abzuziehen sind.

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Ebenso sind die nachträgliche Festsetzung und/oder Zahlung von Kindergeld keine rückwirkenden Ereignisse, weil der Tatbestand von § 3 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 SolZG und von § 32 EStG weder an eine Kindergeldfestsetzung noch an die Zahlung von Kindergeld, sondern an das Vorliegen der Voraussetzungen des § 32 EStG anknüpft. Der nachträglich ergangene Kindergeldfestsetzungsbescheid entfaltet auch keine Tatbestandswirkung in dem Sinne12, dass das Finanzamt bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 32 EStG oder § 3 Abs. 2 SolZG erfüllt sind, das Ergebnis der Familienkasse übernehmen müsste; die Tatbestandswirkung des Kindergeldfestsetzungsbescheids beschränkt sich auf seinen verfügenden Teil („Tenor“), umfasst aber nicht seine Begründung13. Das Finanzamt hat daher selbständig und ohne Bindung an die im Kindergeldfestsetzungsbescheid enthaltene Begründung das Vorliegen der Voraussetzungen des § 32 EStG zu prüfen.

Schließlich scheidet auch eine Korrektur nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO aus.

Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts11 stellt schon deshalb keine nachträglich bekanntgewordene Tatsache dar, weil er lediglich eine geänderte rechtliche Beurteilung der Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen enthält und solche rechtlichen Schlussfolgerungen, insbesondere juristischen Wertungen und Subsumtionen, keine Tatsachen sind14. Im Übrigen fehlt es hinsichtlich des Solidaritätszuschlags 2003 an einem nachträglichen Bekanntwerden des Beschlusses vom 11. Januar 2005; er ist vielmehr nachträglich eingetreten, weil er im Zeitpunkt des Bescheiderlasses am 2. April 2004 (für 2003) noch nicht vorhanden war15.

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Eine Änderungsmöglichkeit nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO ergibt sich auch dann nicht, wenn dem Finanzamt im Zeitpunkt der ursprünglichen Steuerfestsetzungen die Tatsache der Zahlung der Sozialversicherungsbeiträge durch die Kinder noch nicht bekannt gewesen sein sollte, weil diese Tatsache nicht rechtserheblich war.

Ein Steuerbescheid darf nicht nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO zu Gunsten des Steuerpflichtigen aufgehoben oder geändert werden, wenn die Finanzbehörde bei ursprünglicher Kenntnis der Tatsachen oder Beweismittel nicht anders entschieden hätte. Eine Änderung nach § 173 Abs. 1 AO scheidet danach aus, wenn die Unkenntnis der später bekannt gewordenen Tatsache für die ursprüngliche Veranlagung nicht ursächlich (rechtserheblichgewesen ist. Wie die Finanzbehörde bei Kenntnis bestimmter Tatsachen und Beweismittel einen Sachverhalt im ursprünglichen Bescheid gewürdigt hätte, ist im Einzelfall aufgrund des Gesetzes, wie es nach der damaligen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs ausgelegt wurde, und der die Finanzbehörden bindenden Verwaltungsanweisungen zu beurteilen, die im Zeitpunkt des ursprünglichen Bescheiderlasses durch das Finanzamt gegolten haben16.

Im Streitfall hätte das Finanzamt auch bei Kenntnis der Zahlung der Sozialversicherungsbeiträge nicht anders entschieden. Im Zeitpunkt des Bescheiderlasses am 2. April 2004 (für 2003) und am 15. April 2005 (für 2004) minderten die gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs17 nicht die Einkünfte und Bezüge des Kindes. Gleiches galt nach Auffassung der Verwaltung18. Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts11 war am 15. April 2005 den Beteiligten weder bekannt gegeben noch veröffentlicht. In der Regel gibt die zuständige Geschäftsstelle des Bundesverfassungsgericht Pressemitteilungen einen Tag nach der Veranlassung der Bekanntgabe an die Beteiligten heraus19. Die entsprechende Pressemitteilung datiert jedoch erst vom 13. Mai 2005.

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Bundesfinanzhof, Urteil vom 27. Januar 2011 – III R 90/07

  1. siehe auch zum entsprechenden Verhältnis von Einkommensteuerbescheid zur Kirchensteuerfestsetzung: BFH, Beschluss vom 28.11.2007 – I R 99/06, BFHE 221, 288, m.w.N.[]
  2. vgl. auch BFH, Beschluss in BFHE 221, 288; a.A. FG Düsseldorf vom 14.01.2000 – 18 K 5985/98 E, EFG 2000, 439[]
  3. BFH, Urteil vom 10.06.1988 III R 232/84, BFHE 154, 68, BStBl II 1988, 981; vgl. Klein/Rüsken, AO, 10. Aufl., § 171 Rz 102[]
  4. BFH, Urteil vom 28.06.2006 III R 13/06, BFHE 214, 287, BStBl II 2007, 714, m.w.N.[]
  5. Klein/Rüsken, a.a.O., § 175 Rz 56a[]
  6. BFH, Urteil vom 28.07.2005 III R 48/03, BFHE 210, 393, BStBl II 2005, 865[]
  7. = BFH/NV 2005, Beilage 3, 260[]
  8. Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses, BT-Drucks 13/1558, S. 159[]
  9. vgl. Giloy, Finanz-Rundschau 1996, 409; Blümich/Treiber, § 51a EStG Rz 51; Wagner in Herrmann/Heuer/ Raupach, § 51a EStG Rz 23[]
  10. vgl. zur inhaltsgleichen Bestimmung des § 51a Abs. 2 Satz 1 EStG Frotscher in Frotscher, EStG, 06. Aufl., Freiburg 1998 ff., § 51a Rz 56; Petersen, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 51a Rz C4; Pust in Littmann/Bitz/Pust, Das Einkommensteuerrecht, Kommentar, § 51a EStG Rz 88[]
  11. BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260[][][]
  12. vgl. zur Tatbestandswirkung von Verwaltungsakten: BFH, Urteil vom 21.01.2010 – VI R 52/08, BFHE 228, 295, BStBl II 2010, 703; Steinhauff, AO-Steuerberater 2010, 271[]
  13. vgl. Steinhauff, AO-Steuerberater 2010, 271[]
  14. vgl. BFH, Urteil in BFHE 214, 287, BStBl II 2007, 714[]
  15. vgl. dazu BFH-Urteil vom 02.04.1998 V R 34/97, BFHE 185, 536, BStBl II 1998, 695[]
  16. BFH, Beschluss vom 23.11.1987 – GrS 1/86, BFHE 151, 495, BStBl II 1988, 180; BFH, Urteil vom 22.04.2010 – VI R 40/08, BFHE 229, 57, BStBl II 2010, 951[]
  17. BFH, Urteil vom 04.11.2003 – VIII R 59/03, BFHE 204, 126, BStBl II 2004, 584[]
  18. H 180e „Versicherungsbeiträge des Kindes“ des Amtlichen Einkommensteuer-Handbuchs 2004; vgl. auch Abschn. 63.04.02.1 Abs. 2 Satz 6 der Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des Einkommensteuergesetzes, Stand Januar 2002, BStBl I 2002, 369, und Stand August 2004, BStBl I 2004, 743[]
  19. vgl. BFH, Urteil vom 19.10.2006 – III R 31/06, BFH/NV 2007, 392, m.w.N.[]
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