Besteht das Einkommen ganz oder teilweise aus Einkünften aus nicht selbständiger Arbeit, von denen ein Steuerabzug vorgenommen worden ist, wird eine Veranlagung nur unter den in § 46 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 8 EStG genannten Voraussetzungen durchgeführt. So wird etwa nach § 46 Abs. 2 Nr. 1, 1. Alternative EStG die Veranlagung durchgeführt, wenn die Summe der einkommensteuerpflichtigen Einkünfte, die nicht dem Steuerabzug vom Arbeitslohn zu unterwerfen waren, vermindert um die darauf entfallenden Beträge nach § 13 Abs. 3 und § 24a EStG, mehr als 800 DM beträgt. Der Bundesfinanzhof hat durch Urteil vom 21. September 2006 (VI R 52/04, BStBl. II 2007, 45) entschieden, dass sich die Vorschrift nicht nur auf positive Einkünfte bezieht, sondern auch auf negative.

Dies versuchte der Gesetzgeber dann wieder im Rahmen des Jahressteuergesetzes 2007 zu ändern: Nach § 52 Abs. 55j EStG, der durch das Jahressteuergesetz 2007 eingefügt worden ist, ist zwar § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG in der Fassung des Jahressteuergesetzes 2007 “auch auf Veranlagungszeiträume vor 2006 anzuwenden”.
Diese Regelung erstreckt sich, so das Niedersächsische FG in einer jetzt veröffentlichten Entscheidung, bei verfassungskonformer Auslegung aber nicht auf das frühere Jahre wie etwa 2001. Erfasst werden, so das FG, nach dem Wortlaut und dem Sinn und Zweck der Anwendungsvorschrift nur Veranlagungsjahre, bei denen durch die Neufassung des § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG nicht nachträglich die Möglichkeit zur Abgabe einer Einkommensteuererklärung entfällt. Der Gesetzgeber hat nur eine „Klarstellung“ der Vorschrift in den Mittelpunkt seiner Gesetzgebungsinitiative gerückt. Eine Absicht, darüber hinaus den Steuerpflichtigen auch bereits bestehende Ansprüche auf Veranlagung entziehen zu wollen, lässt sich weder aus dem Wortlaut noch aus dem Gesetzgebungsverfahren ableiten. Im Streitfall besteht daher weiterhin die Verpflichtung des Finanzamts, die Kläger zur Einkommensteuer zu veranlagen.
Die Rechtslage ist (jedenfalls) für das Streitjahr 2001 nicht durch das Jahressteuergesetz 2007 wirksam geändert worden. Zwar hat der Gesetzgeber die Vorschrift des § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG inzwischen dahingehend geändert, dass nur weitere positive Einkünfte von mehr als 410 € zu einer Amtsveranlagung führen, diese Änderung des Einkommensteuergesetzes wirkt jedoch nicht auf das Streitjahr 2001 zurück.
Vor allem die verfassungsrechtlichen Bedenken der steuerlichen Rechtsprechung gegenüber der Zwei-Jahres-Frist, wie sie in den Vorlagenbeschlüssen des BFH (Beschlüsse vom 22. Mai 2006, VI R 49/04 und 46/05) ihren Ausdruck gefunden haben, erfordern insoweit eine restriktive Auslegung der die Antragsveranlagung betreffenden Vorschriften. Schließlich käme eine weite Auslegung des Wortlauts des § 52 Abs. 55j EStG aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht in Betracht. In allen Fällen mit negativen Einkünften des Steuerpflichtigen von mehr als 800 DM (410 €) neben den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit handelte es sich nach der Gesetzesfassung bis zur Änderung durch das Jahressteuergesetz 2007 um Fälle der so genannten Amtsveranlagung. Abweichend von § 46 Abs. 2 Nr. 8 Satz 2 EStG mussten diese Steuerpflichtigen nach der zitierten Rechtsprechung des BFH nicht bereits bis zum Ablauf des auf den Veranlagungszeitraum folgenden zweiten Kalenderjahres einen Antrag auf Veranlagung stellen. Es galten vielmehr auch bei dem Bezug von Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit die allgemeinen Fristen über die Festsetzungsverjährung nach der AO. Wollte man den Wortlaut dahingehend weit auslegen, dass die Anwendungsvorschrift auch diese Fälle erfassen sollte, wäre durch das Jahressteuergesetz 2007 rückwirkend die zuvor bestehende Möglichkeit zur Abgabe einer Einkommensteuererklärung für Veranlagungsjahre, die die Zwei-Jahres-Frist überschritten, entfallen. Es läge ein Fall der echten Rückwirkung im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vor. Bei verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten ist der mit dem Rückwirkungsverbot vereinbaren Auslegung der Vorzug zu geben.
Ziel der nach § 46 Abs. 2 EStG durchzuführenden Veranlagung ist die Herstellung steuerlicher Gleichheit zwischen allen Steuerpflichtigen durch Festsetzung der materiell richtigen Einkommensteuer1. Mit der Veranlagung sollen im Lohnsteuerverfahren systembedingt auftretende Steuerübererhebungen und Steueruntererhebungen ausgeglichen werden. Diesem Gesetzeszweck entspricht es, § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG da¬hin auszulegen, dass eine Veranlagung von Amts wegen nicht nur dann durchzuführen ist, wenn die positive Summe der Einkünfte, die nicht dem Steuerabzug vom Arbeitslohn zu unterwerfen waren (Nebeneinkünfte), den Betrag von 800 DM (410 EUR) übersteigt, sondern auch, wenn die negative Summe der betreffenden Nebeneinkünfte diesen Betrag übersteigt. Denn die Abweichung des Lohnsteuerabzugs von der materiell richtigen Einkommensteuer gewinnt nicht nur mit zunehmend höheren positiven, sondern auch mit zunehmend höheren negativen Nebeneinkünften wachsende Bedeutung. Je höher die Summe der positiven oder negativen Nebeneinkünfte ist, umso mehr weicht die in Form des Lohnsteuerabzugs tatsächlich erhobene Einkommensteuer von der materiell richtigen Einkommensteuer ab. Die verfassungsrechtlich gebotene gleichheitsgerechte Besteue¬rung nach der finanziellen Leistungsfähigkeit würde damit im Hinblick auf die „horizontale“ und „vertikale“ Steuergerechtigkeit2 sowohl bei einer höheren positiven als auch bei einer höheren negativen Summe der Nebeneinkünfte zunehmend verfehlt.
Dieses der Steuergerechtigkeit und der Gleichmäßigkeit der Besteuerung widersprechende Ergebnis wird durch die vom BFH3 für zutreffend erachtete Auslegung von § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG vermieden. Denn sie führt dazu, dass nur in einem Bereich, in dem die negativen oder positiven Nebeneinkünfte den Betrag von 800 DM nicht übersteigen, keine Amtsveranlagung durchzuführen ist. Damit wird einerseits der Vereinfachung Rechnung getragen, indem Pflichtveranlagungen ohne oder mit nur geringen Steuernachforderungen oder Steuererstattungen unterbleiben. Andererseits wird eine gleichmäßige Festsetzung der Einkommensteuer erreicht, die den im Lohnsteuerverfahren auftretenden Steuerübererhebungen und Steueruntererhebungen gleichermaßen Rechnung trägt.
Die Anwendungsvorschrift des § 52 Abs. 55 j EStG zur Neuregelung des § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG, nach der die Neuregelung auch auf Veranlagungszeiträume vor 2006 anzuwenden ist, ist danach verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass die Neuregelung nur für diejenigen Anträge maßgeblich ist, die nach Veröffentlichung dieses Gesetzes gestellt werden. Unabhängig davon bestehen verfassungsrechtliche Zweifel an dieser Regelung als auch insgesamt an der 2-Jahresfrist.
Niedersächsisches Finanzgericht, Urteil vom 25. April 2007 – 7 K 102/05