Auslegung eines Einspruchsschreibens

Ein Einspruch, der zwar ausdrücklich gegen einen „Einkommensteuerbescheid“ gerichtet werde, mit dem aber ausschließlich Einwendungen gegen die –im selben Sammelbescheid enthaltene– Festsetzung des Solidaritätszuschlags vorgetragen werden, ist allein als Einspruch gegen die Festsetzung des Solidaritätszuschlags anzusehen:

Auslegung eines Einspruchsschreibens

Auch wenn im Rubrum eines Einspruchsschreibens ein „Bescheid über Einkommensteuer, Kirchensteuer und Solidaritätszuschlag“ genannt ist, ist der Einspruch als lediglich gegen die Festsetzung des Solidaritätszuschlag gerichtet anzusehen, wenn die Einspruchsbegründung ausschließlich auf Rechtsfragen in Zusammenhang mit dem Solidaritätszuschlag eingeht und das Ruhen „des Rechtsbehelfsverfahrens“ wegen eines Musterprozesses zum Solidaritätszuschlag beantragt wird. Der Bundesfinanzhof darf ein Einspruchsschreiben selbst auslegen, wenn die vom Finanzgericht vorgenommene Auslegung rechtsfehlerhaft ist, das Finanzgericht aber alle für die Auslegung maßgebenden Umstände festgestellt hat.

Gemäß § 357 Abs. 3 Satz 1 AO „soll“ bei der Einlegung des Rechtsbehelfs der Verwaltungsakt bezeichnet werden, gegen den der Einspruch gerichtet ist. Danach ist die Rechtswirksamkeit des eingelegten Rechtsbehelfs nicht von einer genauen Bezeichnung des angefochtenen Verwaltungsakts abhängig. Es ist jedoch erforderlich, dass sich die Zielrichtung des Begehrens aus der Rechtsbehelfsschrift in der Weise ergibt, dass sich der angefochtene Verwaltungsakt entweder aus dem Inhalt der Rechtsbehelfsschrift selbst ermitteln lässt oder Zweifel oder Unklarheiten am Gewollten durch Rückfragen des Finanzamt beseitigt werden können. Fehlt es an einer eindeutigen und zweifelsfreien Erklärung des tatsächlich Gewollten, ist der wirkliche Wille des Steuerpflichtigen durch Auslegung seiner Erklärungen zu ermitteln1.

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An einer Auslegungsbedürftigkeit fehlt es nur dann, wenn die Erklärung nach Wortlaut und Zweck einen eindeutigen Inhalt hätte2.

Sowohl außerprozessuale als auch prozessuale Rechtsbehelfe sind –wie das Finanzgericht im Ausgangspunkt zutreffend erkannt hat– in entsprechender Anwendung des § 133 des Bürgerlichen Gesetzbuchs auszulegen3. Danach ist nicht an dem buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften, sondern der wirkliche Wille zu erforschen.

Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung ist bei auslegungsfähigen Rechtsbehelfen davon auszugehen, dass der Steuerpflichtige denjenigen Rechtsbehelf einlegen will, der seinem materiell-rechtlichen Begehren am ehesten zum Erfolg verhilft4.

Im vorliegend vom Bundesfinanzhof entschiedenen Fall war das materiell-rechtliche Begehren der Kläger ausweislich der von ihnen abgegebenen, im Einspruchsschreiben enthaltenen Einspruchsbegründung ausschließlich auf einen Wegfall der Festsetzung des Solidaritätszuschlags gerichtet. Für dieses Begehren haben sie –unter Bezugnahme auf ein vor dem Finanzgericht anhängiges Musterverfahren– verfassungsrechtliche Gründe angeführt, die sich ausschließlich auf die Befugnis des Gesetzgebers zur Aufrechterhaltung des Solidaritätszuschlags, nicht aber auf die verfassungsrechtliche Legitimation anderer Steuerarten bezogen. Das Begehren der Kläger war nicht einmal andeutungsweise auf eine Änderung der Bescheide über Einkommen- oder Kirchensteuer gerichtet.

Diese Auslegung wird durch den Inhalt des dritten Absatzes des genannten Schreibens bestätigt. Darin haben die Kläger sich damit einverstanden erklärt, dass „das Rechtsbehelfsverfahren“ bis zur höchstrichterlichen Klärung „dieser Rechtsfrage“ ruht. Da Ruhensgründe nur für den Einspruch gegen die Festsetzung des Solidaritätszuschlags vorgetragen worden waren, sich das Ruhen aber auf „das Rechtsbehelfsverfahren“ –und nicht etwa lediglich auf ein (Teil-)Verfahren gegen den Bescheid über die Festsetzung des Solidaritätszuschlags bei gleichzeitiger Fortführung von (weiteren) Einspruchsverfahren gegen die Festsetzung der Einkommen- und Kirchensteuer– erstrecken sollte, kann die Auslegung nur zum Ergebnis haben, dass „das Rechtsbehelfsverfahren“ mit dem Einspruch gegen den Bescheid über die Festsetzung des Solidaritätszuschlags deckungsgleich sei.

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Hinzu kommt, dass der statthafte Rechtsbehelf gegen die Kirchensteuerfestsetzung ohnehin nicht ein beim Finanzamt anzubringender Einspruch, sondern ein bei den nach der Steuerordnung zuständigen kirchlichen Stellen anzubringender Widerspruch gewesen wäre (vgl. § 10 Abs. 2 Sätze 1 und 2 des Kirchensteuerrahmengesetzes des Landes Niedersachsen). Auch dies zeigt, dass die Erwähnung von „Einkommensteuer, Kirchensteuer und Solidaritätszuschlag“ im Rubrum und ersten Absatz des Einspruchsschreibens lediglich formelhaft erfolgt ist.

In Übereinstimmung mit diesen Grundsätzen hat der Bundesfinanzhof bereits entschieden, dass ein Einspruch, der zwar ausdrücklich gegen einen „Einkommensteuerbescheid“ gerichtet werde, mit dem aber ausschließlich Einwendungen gegen die –im selben Sammelbescheid enthaltene– Festsetzung des Kirchgelds vorgetragen werden, allein als Einspruch gegen die Festsetzung des Kirchgelds anzusehen sei5.

Bundesfinanzhof, Urteil vom 19. August 2013 – X R 44/11

  1. zum Ganzen BFH, Urteil in BFHE 222, 196, BStBl II 2009, 116, unter II.1., m.w.N.[]
  2. BFH, Urteil vom 28.11.2001 – I R 93/00, BFH/NV 2002, 613, m.w.N.[]
  3. BFH, Urteil vom 31.10.2000 – VIII R 47/98, BFH/NV 2001, 589, unter II.1.a, m.w.N.[]
  4. BFH, Urteil vom 26.10.2004 – IX R 23/04, BFH/NV 2005, 325, unter II.1., m.w.N.[]
  5. BFH, Urteil in BFHE 222, 196, BStBl II 2009, 116[]