Das angemietete Zimmer eines Gewerbetreibenden – der Wohnsitz fürs Kindergeld

Ein angemietetes Zimmer kann nur dann der Wohnsitz einer natürlichen Person i.S. des § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG i.V.m. § 8 AO sein, wenn es sich hierbei um eine auf Dauer zum Bewohnen geeignete Räumlichkeit handelt, die der Betreffende -wenn auch in größeren Zeitabständen- mit einer gewissen Regelmäßigkeit tatsächlich zu Wohnzwecken nutzt. Ob diese Voraussetzungen bei einem Gewerbetreibenden vorliegen, lässt sich im Allgemeinen nicht aus der Höhe der im Inland erzielten Einkünfte folgern.

Das angemietete Zimmer eines Gewerbetreibenden – der Wohnsitz fürs Kindergeld

Nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG ist für das Kindergeld anspruchsberechtigt, wer im Inland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Das Finanzgericht hat entschieden, dass der Kläger über einen inländischen Wohnsitz verfügt hat. Diese Annahme hält einer revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht stand, weil es hierfür an einer tragfähigen Tatsachengrundlage fehlt.

Seinen Wohnsitz hat jemand dort, wo er eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, dass er die Wohnung beibehalten oder benutzen wird (§ 8 AO).

Hiernach setzt ein Wohnsitz eine Wohnung, d.h. eine stationäre Räumlichkeit voraus, die auf Dauer zum Bewohnen geeignet ist. Dies wiederum erfordert eine den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen des Inhabers entsprechende Bleibe1. Eine nur vorübergehende oder notdürftige Unterbringungsmöglichkeit reicht allerdings nicht aus2, ebenso nicht eine bloße Schlafstelle in Betriebsräumen3. Innehaben der Wohnung bedeutet, dass der Anspruchsteller tatsächlich über sie verfügen kann und sie als Bleibe entweder ständig benutzt oder sie doch mit einer gewissen Regelmäßigkeit -wenn auch in größeren Zeitabständen- aufsucht4. Die Nutzung muss zu Wohnzwecken erfolgen; eine Nutzung zu ausschließlich beruflichen oder geschäftlichen Zwecken reicht nicht aus5, ebenso nicht ein nur gelegentliches Verweilen während unregelmäßig aufeinander folgender kurzer Zeiträume zu Erholungszwecken6. Schließlich muss das Innehaben der Wohnung unter Umständen erfolgen, die darauf schließen lassen, dass die Person die Wohnung beibehalten wird. Hierin kommt u.a. ein Zeitmoment zum Ausdruck. Dabei kann im Rahmen des § 8 AO zur Bestimmung des Zeitmoments als Anhaltspunkt auf die in § 9 Satz 2 AO normierte Sechsmonatsfrist zurückgegriffen werden7.

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Das Vorliegen der Voraussetzungen des § 8 AO ist nach den objektiv erkennbaren Umständen zu beurteilen8. Ob der Anspruchsteller i.S. des § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG im Inland einen Wohnsitz hat, müssen die Familienkasse und das Finanzgericht ohne Bindung an die im Einkommensteuerfestsetzungsverfahren vom zuständigen Finanzamt getroffenen Feststellungen selbständig entscheiden9. Im Finanzgerichtsverfahren obliegt die Würdigung derjenigen tatsächlichen Umstände, die im Einzelfall für das Bestehen oder Nichtbestehen eines Wohnsitzes sprechen, dem Finanzgericht10. Dies gilt namentlich für die Abwägung der Faktoren, die für und gegen ein Innehaben der Wohnung und die Absicht der weiteren Benutzung sprechen11. Das Finanzgericht hat die gesamten Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO).

Die vom Finanzgericht im hier entschiedenen Streitfall vorgenommene Würdigung ist nach Ansicht des Bundesfinanzhhofs auch unter Berücksichtigung dieses eingeschränkten Prüfungsmaßstabs zu beanstanden. Das Finanzgericht, Urteil enthält keine tragfähige Tatsachengrundlage für die Annahme eines inländischen Wohnsitzes des Klägers12. Hierin liegt ein Rechtsfehler, den der Bundesfinanzhof auch ohne Rüge von Amts wegen zu beachten hat13. Das Finanzgericht hat die Annahme eines inländischen Wohnsitzes aus den vom Kläger vorgelegten Mietverträgen, aus seiner Meldung beim Einwohnermeldeamt, aus den von ihm im Zeitraum von 2006 bis 2008 in Deutschland in nicht unerheblicher Höhe erzielten Einkünften und aus dem Einkommensteuerbescheid für 2007 abgeleitet, dem zu entnehmen sei, dass der Kläger im Jahr 2007 unbeschränkt einkommensteuerpflichtig gewesen sei.

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Diese tatsächlichen Umstände sind aber weder einzeln noch in ihrer Zusammenschau geeignet, nachvollziehbar einen inländischen Wohnsitz des Klägers zu begründen. So bleibt bereits unklar, ob das vom Kläger mit Untermietvertrag vom 01.06.2006 angemietete Zimmer überhaupt eine zu Wohnzwecken geeignete Bleibe dargestellt hat. Der -inhaltlich sehr knappe- Untermietvertrag enthält keine Angaben zur Ausstattung des Zimmers. Sonstige diesbezügliche Feststellungen enthält das Finanzgericht, Urteil nicht. Daneben hat das Finanzgericht keine Feststellungen dazu getroffen, für welche Zwecke das angemietete Zimmer tatsächlich genutzt wurde. Anlass hierzu hätte gerade auch deshalb bestanden, weil der genannte Untermietvertrag als „Mietvertrag über das Zimmer und Betriebsstätte“ überschrieben ist und es im ersten Satz heißt, es werde „ein Zimmer für Wohnen und für Erledigung von anfallende Büro– und Geschäftsbedingte Arbeiten“ vermietet. Weiter bleibt im Verborgenen, in welcher Häufigkeit und über welche Dauer der Kläger das angemietete Zimmer tatsächlich bewohnt hat; Feststellungen hierzu fehlen.

Ein inländischer Wohnsitz des Klägers ergibt auch nicht aus dem Einkommensteuerbescheid für 2007. Selbst wenn das Finanzamt im Rahmen der Einkommensteuerveranlagung für 2007 von einer unbeschränkten Einkommensteuerpflicht des Klägers nach § 1 Abs. 1 EStG ausgegangen sein sollte, ergibt sich hieraus keine Bindung für die Familienkasse14. Eine solche Bindung ließe sich für den Zeitraum Januar 2008 bis März 2008 auch nicht aus dem Bescheid für 2008 über die gesonderte und einheitliche Feststellung von Besteuerungsgrundlagen ableiten. Einem solchen Grundlagenbescheid kommt für die Kindergeldfestsetzung -anders als für die Einkommensteuerfestsetzung (vgl. § 171 Abs. 10, § 182 AO)- keine Bindungswirkung zu. Ebenso lässt sich die Annahme eines Wohnsitzes nicht darauf stützen, dass der Kläger -wie vom Finanzgericht ausgeführt- beim Einwohnermeldeamt gemeldet war. Für die Annahme eines Wohnsitzes ist es ohne Bedeutung, wo jemand polizeilich gemeldet ist15. Schließlich lässt sich ein Wohnsitz des Klägers auch nicht auf die im Juli 2007 erfolgte Gewerbeanmeldung stützen. Die Anzeige eines Gewerbes nach § 14 der Gewerbeordnung ist eine einseitige, empfangsbedürftige Willenserklärung16, die als solche nicht geeignet ist, eine nach den tatsächlichen Umständen zu beurteilende Wohnsitzbegründung i.S. des § 8 AO zu ersetzen.

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Nach alledem bleibt im Ergebnis offen, ob der Kläger -ggf. auch in größeren Zeitabständen- eine auf Dauer zum Bewohnen geeignete Räumlichkeit mit einer gewissen Regelmäßigkeit tatsächlich zu Wohnzwecken genutzt hat. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen lässt sich im Allgemeinen auch nicht aus der Höhe der vom Kläger im Inland erzielten Einkünfte folgern. Insbesondere ergibt sich hieraus nicht, in welcher Häufigkeit und über welche Dauer der Kläger die Räumlichkeit genutzt hat. Insoweit erschiene es bei einem Gewerbetreibenden näher liegend, auf die den Einkünften zugrundeliegenden Geschäftsvorfälle abzustellen. So könnten sich aus Art und Dauer der Aufträge Hinweise auf die Verweildauer und Häufigkeit der Nutzung ergeben.

Sollte sich ein inländischer Wohnsitz des Klägers nicht feststellen lassen, bleibt zu prüfen, ob der Kläger während des Streitzeitraums seinen gewöhnlichen Aufenthalt i.S. des § 9 AO im Inland hatte. Dabei hat derjenige, der mehr als sechs Monate zusammenhängend im Inland arbeitet und seinen Inlandsaufenthalt jeweils nur kurzfristig für Heimfahrten nach Polen unterbricht, seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland17.

Soweit sich keine Anspruchsberechtigung des Klägers aus § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG ergeben sollte, muss geprüft werden, ob eine Anspruchsberechtigung nach § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b i.V.m. § 1 Abs. 3 EStG besteht18.

Sollte der Kläger nach den §§ 62 ff. EStG anspruchsberechtigt sein, bleibt schließlich zu prüfen, wie eine Konkurrenz des Kindergeldanspruchs nach dem EStG zu etwaigen Ansprüchen des Klägers oder Dritter auf polnische Familienleistungen aufzulösen ist.

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Insoweit ist das Finanzgericht im ersten Rechtsgang in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise davon ausgegangen, dass im Streitfall der persönliche Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 nicht eröffnet ist. Es hat festgestellt, dass der Kläger weder in Deutschland noch in Polen in einem Zweig der sozialen Sicherheit versichert war. Im Übrigen bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass der persönliche Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 über den anderen Elternteil von P oder K eröffnet sein könnte. Danach greifen vorliegend -wie vom Finanzgericht zutreffend entschieden- nicht die gemeinschaftsrechtlichen Antikumulierungsvorschriften (Art. 76 der VO Nr. 1408/71, Art. 10 der VO Nr. 574/72), sondern die nationale Konkurrenzvorschrift des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ein.

Dabei hat das Finanzgericht § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG zu Recht so ausgelegt, dass es im Grundsatz verpflichtet ist, eigenständig zu prüfen, ob dem Kläger oder einem Dritten nach ausländischem (hier polnischem) Recht ein Anspruch auf Gewährung dem Kindergeld vergleichbarer Leistungen für P und K zusteht. Im Streitfall sind auch keine Anhaltspunkte dafür gegeben, dass eine das Finanzgericht ggf. bindende -den Streitzeitraum betreffende- (positive oder negative) Entscheidung/Bescheinigung einer polnischen Behörde über einen Anspruch auf polnische Familienleistungen vorliegt. Zu den bei Prüfung des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG zu beachtenden Grundsätze hat der Bundesfinanzhof bereits in seinen Urteilen vom 13. Juni 2013 Stellung genommen19. Sollte hiernach kein Anspruch auf polnische Familienleistungen bestehen, ist das deutsche Kindergeld gegenüber dem Kläger in voller Höhe festzusetzen.

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Bundesfinanzhof, Urteil vom 8. Mai 2014 – III R 21/12

  1. BFH, Urteil vom 19.03.1997 – I R 69/96, BFHE 182, 296, BStBl II 1997, 447[]
  2. Buciek in Beermann/Gosch, AO § 8 Rz 16[]
  3. vgl. BFH, Urteil vom 06.02.1985 – I R 23/82, BFHE 143, 217, BStBl II 1985, 331[]
  4. BFH, Urteil vom 23.11.2000 – VI R 107/99, BFHE 193, 558, BStBl II 2001, 294[]
  5. Buciek in Beermann/Gosch, a.a.O., AO § 8 Rz 27[]
  6. BFH, Urteil in BFHE 193, 558, BStBl II 2001, 294[]
  7. BFH, Urteil vom 22.08.2007 – III R 89/06, BFH/NV 2008, 351[]
  8. BFH, Urteil vom 22.08.2007 – III R 89/06, BFH/NV 2008, 351, m.w.N.[]
  9. BFH, Urteile vom 20.11.2008 – III R 53/05, BFH/NV 2009, 564, unter II. 1.c; vom 18.07.2013 – III R 9/09, BFHE 243, 170, Rz 19[]
  10. vgl. BFH, Beschluss vom 17.12 2010 – III B 141/10, BFH/NV 2011, 576[]
  11. Buciek in Beermann/Gosch, a.a.O., AO § 8 Rz 11[]
  12. zum Fehlen einer tragfähigen Tatsachengrundlage vgl. BFH, Urteil vom 26.05.2009 – VII R 28/08, BFHE 225, 543; BFH, Urteil vom 02.12 2004 – III R 49/03, BFHE 208, 531, BStBl II 2005, 483[]
  13. vgl. BFH, Urteil vom 25.05.1988 – I R 225/82, BFHE 154, 7, BStBl II 1988, 944[]
  14. vgl. BFH, Urteile in BFH/NV 2009, 564, unter II. 1.c; in BFHE 243, 170, Rz 19[]
  15. z.B. BFH, Urteil vom 27.04.1995 – III R 57/93, BFH/NV 1995, 967[]
  16. vgl. BVerwG, Urteil vom 14.07.2003 – 6 C 10/03, Gewerbearchiv 2003, 482[]
  17. vgl. BFH, Urteil vom 07.04.2011 – III R 89/08, BFH/NV 2011, 1324[]
  18. vgl. dazu z.B. BFH, Urteil vom 18.07.2013 – III R 59/11, BFHE 242, 228[]
  19. BFH, Urteile vom 13.06.2013 – III R 10/11, BFHE 241, 562; und – III R 63/11, BFHE 242, 34[]
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