Das vorfinanzierte Insolvenzgeld

Soweit Insolvenzgeld vorfinanziert wird, das nach § 188 Abs. 1 SGB III einem Dritten zusteht, ist die Gegenleistung für die Übertragung des Arbeitsentgeltanspruchs als Insolvenzgeld i.S. des § 32b Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a EStG anzusehen. Die an den Arbeitnehmer gezahlten Entgelte hat dieser i.S. des § 32b Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a EStG bezogen, wenn sie ihm nach den Regeln über die Überschusseinkünfte zugeflossen sind.

Das vorfinanzierte Insolvenzgeld

Nach § 32b Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a EStG ist auf das zu versteuernde Einkommen u.a. dann ein besonderer Steuersatz (sog. Progressionsvorbehalt) anzuwenden, wenn ein zeitweise oder während des gesamten Veranlagungszeitraums unbeschränkt Steuerpflichtiger Insolvenzgeld bezogen hat. Nach § 32b Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a 2. Halbsatz EStG ist Insolvenzgeld, das nach § 188 Abs. 1 SGB III einem Dritten zusteht, dem Arbeitnehmer zuzurechnen.

Soweit Insolvenzgeld vorfinanziert wird, das nach § 188 Abs. 1 SGB III einem Dritten zusteht, ist die Gegenleistung für die Übertragung des Arbeitsentgeltanspruchs als Insolvenzgeld i.S. des § 32b Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a EStG anzusehen.

Das für die Übertragung des Arbeitsentgeltanspruchs auf den Vorfinanzierenden gezahlte Entgelt ist nach der arbeitsförderungsrechtlichen Systematik und den wirtschaftlichen Interessen der Beteiligten derart mit dem Insolvenzgeldanspruch verknüpft, dass es auch einkommensteuerrechtlich als Äquivalent zum eigentlichen Insolvenzgeldanspruch anzusehen ist. Das Arbeitsförderungsrecht ermöglicht dem Arbeitnehmer eine vor dem Eintritt des Insolvenzereignisses liegende Verwertung künftiger Insolvenzgeldansprüche. Soweit ein Arbeitnehmer einem Dritten Ansprüche auf Arbeitsentgelt übertragen hat, geht dieser Anspruch nach § 188 Abs. 1 SGB III inhaltsgleich auf diesen über. Eine Abtretung kann bereits vor dem Insolvenzereignis und mithin vor der Entstehung des Insolvenzgeldanspruchs erfolgen (vgl. § 188 Abs. 4 Satz 1 SGB III). Der zukünftig entstehende Anspruch auf Insolvenzgeld verschafft dem Arbeitnehmer eine zusätzliche Sicherung, die im Fall der Abtretung dem Zessionar zugutekommt1. Kommt es zur Insolvenz, ist der Vorfinanzierende durch den auf ihn übergegangenen Insolvenzgeldanspruch gesichert2. Dementsprechend wird ein solcher Vorgang auch als „Vorfinanzierung des Insolvenzgeldes“ bzw. als „Vorfinanzierung des Insolvenzgeldanspruchs“ bezeichnet3.

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Überdies gebietet der Zweck des Progressionsvorbehalts die Erfassung der entgeltlichen Verwertung durch den Arbeitnehmer. Denn der Progressionsvorbehalt berücksichtigt in verfassungsrechtlich gebotener Weise das infolge der Lohnersatzleistung erhöhte Leistungsvermögen des Steuerpflichtigen4.

Die in den Fällen des § 188 Abs. 1 SGB III für die Übertragung des Arbeitsentgeltanspruchs an ihn gewährten Entgelte hat der Arbeitnehmer im Zeitpunkt der Auszahlung der vorfinanzierten Beträge i.S. des § 32b Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a EStG bezogen.

Leistungen i.S. des § 32b Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a EStG sind „bezogen“, wenn sie nach den Regeln über die Überschusseinkünfte gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 2 EStG „erzielt“ wurden. Abzustellen ist insoweit also auf den Zuflusszeitpunkt i.S. des § 11 Abs. 1 EStG5. Da die vorfinanzierten Beträge als Insolvenzgeld im Sinne der Vorschrift anzusehen sind, hat der Arbeitnehmer im Zeitpunkt der Erlangung der Verfügungsmacht über die Auszahlungsbeträge Insolvenzgeld i.S. des § 32b Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a EStG bezogen.

Nichts anderes ergibt sich aus der durch Art. 1 Nr. 12 Buchst. c des Steueränderungsgesetzes 2003 eingeführten verfahrensrechtlichen Regelung des § 32b Abs. 4 Satz 3 EStG. Nach dieser Bestimmung hat die Bundesagentur für Arbeit in den Fällen des § 188 Abs. 1 SGB III bei der Datenübermittlung an eine amtlich bestimmte Übermittlungsstelle den Arbeitnehmer als Empfänger der „im Kalenderjahr gewährten Leistungen“ anzusehen. Hierdurch wird keine Aussage zum Zuflusszeitpunkt getroffen. Die Regelung des § 32b Abs. 4 Satz 3 EStG setzt den Zufluss i.S. des § 11 EStG vielmehr voraus. Denn nach den Gesetzesmaterialien sollte für Zwecke der Datenübermittlung einzig klargestellt werden, dass der Arbeitnehmer als Empfänger anzusehen ist6. Der gesetzgeberische Anlass, dem Arbeitnehmer auch auf Dritte übergegangene Insolvenzgelder zuzurechnen, begründet jedoch keine Suspendierung des allgemeinen Zuflussprinzips für die in § 32b Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a EStG genannten Leistungen.

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Auf § 32b Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a EStG finden §§ 11 Abs. 1 Satz 4, 38a Abs. 1 Satz 2 EStG weder unmittelbare noch analoge Anwendung.

Das nach den §§ 183 ff. SGB – III gezahlte Insolvenzgeld ist kein Arbeitslohn i.S. des § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG. Zuwendungen wegen anderer Rechtsbeziehungen oder wegen sonstiger, nicht auf dem Dienstverhältnis beruhender Beziehungen zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber stellen keinen Arbeitslohn dar7. Das Insolvenzgeld wird bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers als Entgeltersatzleistung an Arbeitnehmer gezahlt (§ 116 Nr. 5 SGB III). Es wird mithin nicht für die Erbringung einer Dienstleistung, sondern wegen der Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers gezahlt8.

Mangels vergleichbarer Interessenlage kommt auch eine analoge Anwendung von §§ 11 Abs. 1 Satz 4, 38a Abs. 1 Satz 2 EStG nicht in Betracht. Nach dieser Bestimmung wird der Arbeitgeber der Pflicht enthoben, bei Lohnzahlungen für kalenderjahrübergreifende Lohnzahlungszeiträume die Arbeitslöhne nach ihrem wirtschaftlichen Gehalt auf das abgelaufene und das neue Kalenderjahr aufzuteilen9. Die hierdurch bezweckte Erleichterung der Lohnabrechnung kann allerdings dann nicht eintreten, wenn es wie bei der Gewährung von Insolvenzgeld- gerade an einer Zahlung durch den Arbeitgeber fehlt.

Wegen der Auszahlungsmodalität des Insolvenzgeldes stellt sich zudem die Frage nach der Zugehörigkeit zu einem einzelnen Lohnzahlungszeitraum nicht. Denn es wird nach § 183 Abs. 1 Satz 1 SGB – III für einen InsolvenzgeldZeitraum von drei Monaten gewährt und nach § 337 Abs. 3 Satz 2 SGB – III nachträglich in einer Summe ausgezahlt. Nichts anderes gilt bei einer Vorfinanzierung, bei der der Anspruch auf das Insolvenzgeld nach § 188 Abs. 1 SGB – III deckungsgleich auf einen Dritten übergeht.

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Die Auszahlung des einem Dritten zustehenden Insolvenzgeldanspruchs an den Dritten bewirkt entgegen der Ansicht des Finanzgericht keinen gleichzeitigen Zufluss von Insolvenzgeld beim Arbeitnehmer.

Nach den BFH-Urteilen vom 15. November 2007 und 16. März 199310 fließt bei einem gesetzlichen Forderungsübergang gemäß § 115 Abs. 1 SGB X der übergegangene Arbeitslohn dem Arbeitnehmer steuerrechtlich im abgekürzten Zahlungsweg- in dem Zeitpunkt zu, in dem der Arbeitslohn durch eine Zahlung des Arbeitgebers beim Zessionar eingeht. Mit dem Zufluss des Arbeitslohns geht wirtschaftlich jedoch die Rückzahlung der zuvor an den Arbeitnehmer geleisteten Sozialleistungen einher. Durch diese Erstattung des Arbeitnehmers wird das mit dem gesetzlichen Forderungsübergang verbundene Ziel der Rückzahlung der gewährten Sozialleistungen erreicht. Die aus dieser Rückzahlung folgende geringere steuerliche Leistungsfähigkeit wird über einen negativen Progressionsvorbehalt nach § 32b EStG berücksichtigt11.

Davon sind die Fälle zu unterscheiden, in denen ein Arbeitnehmer seinen Arbeitsentgeltanspruch im Hinblick auf zukünftig zu erwartende Leistungen eines Sozialleistungsträgers an einen Dritten entgeltlich überträgt und sie dadurch wirtschaftlich verwertet. Insoweit ist seine steuerliche Leistungsfähigkeit um den Betrag erhöht, den der Dritte an ihn leistet. Dass mit der Auszahlung des Insolvenzgeldes durch den Sozialleistungsträger an den Dritten der Arbeitsentgeltanspruch nach § 187 Satz 1 SGB III letztlich auf den Sozialleistungsträger übergeht, ist insoweit nicht relevant. Denn erst wenn der Arbeitgeber den Arbeitslohn an den Sozialleistungsträger zahlt, ist nach den genannten Entscheidungen bei dem Arbeitnehmer ein Arbeitslohnzufluss anzunehmen, mit dem ein negativer Progressionsvorbehalt zusammentrifft.

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Bundesfinanzhof, Urteil vom 1. März 2012 – VI R 4/11

  1. Peters-Lange in Gagel, SGB III, § 188 Rz 5; Schön/Kruse in LPK-SGB III, § 188 Rz 16[]
  2. Krodel in Niesel/Brand, SGB III, § 188 Rz 9[]
  3. Peters-Lange, a.a.O., § 188 Rz 70; Krodel, a.a.O., § 188 Rz 14[]
  4. BFH, Urteile vom 17.01.2008 – VI R 44/07, BFHE 220, 269, BStBl II 2011, 21; vom 11.09.1987 – VI R 64/86, BFH/NV 1988, 631; BFH, Beschluss vom 29.07.2005 – VI B 199/04, BFH/NV 2005, 2002[]
  5. BFH, Urteil vom 12.10.1995 – I R 153/94, BFHE 179, 262, BStBl II 1996, 201[]
  6. BT-Drucks 15/1562, 33[]
  7. BFH, Urteil vom 30.06.2011 – VI R 80/10, BFHE 234, 195, BStBl II 2011, 948, m.w.N.[]
  8. vgl. auch BFH, Urteil vom 23.11.2000 – VI R 93/98, BFHE 193, 555, BStBl II 2001, 199, betreffend Konkursausfallgeld[]
  9. BFH, Urteil vom 22.07.1993 – VI R 104/92, BFHE 171, 555, BStBl II 1993, 795[]
  10. BFH, Urteile vom 15.11.2007 – VI R 66/03, BFHE 219, 313, BStBl II 2008, 375; und vom 16.03.1993 – XI R 52/88, BFHE 171, 70, BStBl II 1993, 507[]
  11. BFH, Urteil in BFHE 219, 313, BStBl II 2008, 375[]