Der im EU-Ausland wohnende Elternteil – und sein vorrangiger Kindergeldanspruch

Die Fiktionswirkung des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 kommt grundsätzlich für alle „beteiligten Personen“ i.S. dieser Bestimmung zum Tragen. Dies entschied jetzt der Bundesfinanzhof in Fortführung seiner bisherigen Rechtsprechung.

Der im EU-Ausland wohnende Elternteil – und sein vorrangiger Kindergeldanspruch

Nach § 64 Abs. 1 EStG wird für jedes Kind nur einem Berechtigten Kindergeld gezahlt. Bei mehreren Berechtigten wird das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG).

Im hier entschiedenen Streitfall könnte sich eine vorrangige Anspruchsberechtigung der Mutter aus § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG ergeben. Zwar liegt der nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG erforderliche Inlandswohnsitz der Mutter tatsächlich nicht vor, da die Mutter mit dem Kind in Polen lebt. Ein Inlandswohnsitz der Mutter könnte aber nach Art. 67 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 zu fingieren sein. Zu Unrecht geht das Finanzgericht insoweit davon aus, die Fiktion eines inländischen Wohnsitzes des im EU-Ausland lebenden Elternteils i.S. des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 gelte nur für den Anspruch des im Inland lebenden Elternteils in seiner Person.

Nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ist bei der Anwendung von Art. 67 und 68 der VO Nr. 883/2004, insbesondere was das Recht einer Person zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt, die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als ob alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fielen und dort wohnten. Nach Art. 67 der VO Nr. 883/2004 hat eine Person auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnten. Danach schafft Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 eine gesetzliche Fiktion dahin, dass bei Anwendung der Koordinierungsregelungen der Grundverordnung die Situation der gesamten Familie in einer Weise berücksichtigt wird, als ob alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des für die Gewährung der Familienleistungen zuständigen Mitgliedstaats fielen und dort wohnten1.

Nach dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union Trapkowski vom 22.10.20152 ist Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 dahin auszulegen, dass die in dieser Bestimmung vorgesehene Fiktion dazu führen kann, dass der Anspruch auf Familienleistungen einer Person zusteht, die nicht in dem Mitgliedstaat wohnt, der für die Gewährung dieser Leistungen zuständig ist, sofern alle anderen durch das nationale Recht vorgeschriebenen Voraussetzungen für die Gewährung erfüllt sind.

Die Fiktionswirkung kommt somit nicht ausschließlich in Bezug auf den im Inland lebenden Elternteil zum Tragen, sondern gilt vielmehr grundsätzlich für sämtliche „beteiligte Personen“ i.S. des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009.

Zu den „beteiligten Personen“ i.S. des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 gehören die „Familienangehörigen“ i.S. des Art. 1 Buchst. i Nr. 1 Buchst. i der VO Nr. 883/2004. Da das Kindergeldrecht nach dem EStG den Begriff des Familienangehörigen weder verwendet noch definiert, sind hierunter neben den Elternteilen und dem Kind auch alle Personen zu verstehen, die nach nationalem Recht berechtigt sind, Anspruch auf diese Leistungen zu erheben. Daher wird hiervon nach § 62 Abs. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG auch der andere Elternteil erfasst, wobei unerheblich ist, ob die Elternteile miteinander verheiratet oder -wie im Streitfall- voneinander geschieden sind3.

Der Bundesfinanzhof hält die Auslegung des für die Entscheidung im Streitfall einschlägigen Unionsrechts angesichts der bereits vorliegenden EuGH-Rechtsprechung insoweit für eindeutig. Einer Vorlage an den EuGH nach Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union bedarf es daher nicht.

Für den zweiten Rechtsgang weist der Bundesfinanzhof auf Folgendes hin:

Ausgangspunkt für die Prüfung der Anspruchsberechtigung der Mutter ist die Frage, ob der Kindsvater im Streitzeitraum die nationalen Anspruchsvoraussetzungen nach § 62 i.V.m. § 63 EStG erfüllte4. Unerheblich ist hierbei, dass die Tochter ihren Wohnsitz in Polen hatte (vgl. § 63 Abs. 1 Satz 3 EStG). Sollten sich die Anspruchsvoraussetzungen nach den nationalen Rechtsvorschriften in der Person des Kindsvaters nicht feststellen lassen, ginge der fehlende Nachweis nach den Regeln der objektiven Beweislast (Feststellungslast) zu Lasten der Mutter. Denn die Feststellungslast für anspruchsbegründende Tatsachen in Kindergeldsachen liegt stets beim Kindergeldberechtigten5.

Sollte der Kindsvater nach nationalem Recht kindergeldberechtigt sein, ist weiter zu prüfen, ob in Bezug auf seine Person der Anwendungsbereich der VO Nr. 883/2004 eröffnet und Deutschland danach für die Gewährung von Kindergeld der zuständige Mitgliedstaat ist. Ist dies der Fall, wird gemäß Art. 67 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ein Inlandswohnsitz der Mutter fingiert6.

Soweit die Mutter Kindergeld in gesetzlicher Höhe begehrt, wird das Finanzgericht zudem ggf. weitere Feststellungen zu einem möglicherweise konkurrierenden Familienleistungsanspruch der Mutter in Polen zu treffen haben.

Die Mutter dürfte -neben dem Wohnsitzerfordernis- die übrigen Voraussetzungen für einen vorrangigen Kindergeldanspruch erfüllen.

Aufgrund der polnischen Staatsangehörigkeit der Mutter dürfte davon auszugehen sein, dass diese eine freizügigkeitsberechtigte Ausländerin ist und daher nicht vom Anwendungsbereich des § 62 Abs. 2 EStG erfasst wird. Zu den Voraussetzungen des Begriffs des Freizügigkeitsberechtigten verweist der Bundesfinanzhof insoweit auf seine Urteile vom 04.08.20167 und vom 15.03.20178.

Ein vorrangiger Anspruch des Kindsvaters ergäbe sich auch nicht aus § 64 Abs. 2 Satz 2 EStG; denn diese Bestimmung setzte einen gemeinsamen Haushalt zwischen der Mutter und dem Kindsvater voraus. Nach den Feststellungen des Finanzgericht trennten sich die Mutter und der Kindsvater jedoch im Juli 2011; seitdem lebt die Mutter mit der minderjährigen Tochter zusammen in Polen. Demnach wäre im Fall einer Wohnsitzfiktion der Anspruch der Mutter nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig, da nur bei dieser, nicht aber beim Kindsvater, eine Haushaltsaufnahme der Tochter vorliegt.

Die Mutter hat auch im eigenem Namen einen Antrag auf Kindergeld für ihre minderjährige Tochter in Deutschland gestellt.

Bei der Auslegung des Klagebegehrens wird das Finanzgericht schließlich zu berücksichtigen haben, dass die Einspruchsentscheidung vom 30.11.2015 erst im Dezember 2015 bekanntgegeben worden sein dürfte. Der angegriffene Ablehnungsbescheid vom 31.07.2015 und die hierzu ergangene Einspruchsentscheidung enthalten in diesem Fall eine das Kindergeld bis Dezember 2015 ablehnende Regelung9. Dies könnte unter Berücksichtigung der Interessenslage der Mutter dafür sprechen, dass diese Kindergeld für den Zeitraum August 2011 bis Dezember 2015 begehrt.

Bundesfinanzhof, Urteil vom 27. Juli 2017 – III R 17/16

  1. vgl. z.B. BFH, Urteile vom 04.02.2016 – III R 17/13, BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612, Rz 18, m.w.N.; vom 10.03.2016 – III R 8/13, BFH/NV 2016, 1164, Rz 22; – III R 25/12, BFH/NV 2016, 1161, Rz 21; und vom 28.04.2016 – III R 68/13, BFHE 254, 20, BStBl II 2016, 776, Rz 20[]
  2. EuGH, Urteil Trapkowski vom 22.10.2015 – C-378/14, EU:C:2015:720, Rz 41[]
  3. vgl. z.B. BFH, Urteile in BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612, Rz 18; in BFH/NV 2016, 1164, Rz 24; in BFH/NV 2016, 1161, Rz 23, und in BFHE 254, 20, BStBl II 2016, 776, Rz 22, jeweils m.w.N.[]
  4. vgl. z.B. BFH, Urteil in BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612, Rz 21[]
  5. vgl. z.B. BFH, Beschluss vom 19.12 2008 – III B 163/07, BFH/NV 2009, 578, unter II. 1., m.w.N.[]
  6. vgl. BFH, Urteile in BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612, Rz 18 ff., m.w.N.; in BFH/NV 2016, 1164, Rz 21 ff.; in BFH/NV 2016, 1161, Rz 20 ff., und in BFHE 254, 20, BStBl II 2016, 776, Rz 19 ff.[]
  7. BFH, Urteil vom 04.08.2016 – III R 10/13, BFHE 255, 46, BStBl II 2017, 126, Rz 23, m.w.N.[]
  8. BFH, Urteil vom 15.03.2017 – III R 32/15, BFHE 258, 16, Rz 11 ff.[]
  9. vgl. z.B. BFH, Urteil vom 12.03.2015 – III R 14/14, BFHE 249, 292, BStBl II 2015, 850, Rz 18, m.w.N.[]