Die in einem anderen EU-Mitgliedsstaat lebende Kindsmutter ist nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig anspruchsberechtigt, wen sie die Tochter in ihren Haushalt aufgenommen hat und gemäß Art. 67 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 zu unterstellen ist, dass sie mit der Tochter in Deutschland wohnt.

Nach § 64 Abs. 1 EStG wird das Kindergeld nur einem Berechtigten gezahlt. Bei mehreren Berechtigten wird das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG).
Im hier vom Bundesfinanzhof entschiedenen Streitfall ergibt sich die Anspruchsberechtigung der Kindsmutter aus § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG. Zwar liegt der nach dieser Vorschrift erforderliche Inlandswohnsitz tatsächlich nicht vor. Es finden jedoch die Vorschriften der VO Nr. 883/2004 und der VO Nr. 987/2009 Anwendung. Dadurch wird gemäß Art. 67 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2004 ein Inlandswohnsitz der Kindsmutter fingiert. Zudem erfüllt die Kindsmutter auch die übrigen Voraussetzungen für eine vorrangige Anspruchsberechtigung.
Der Anwendungsbereich der VO Nr. 883/2004 ist im Streitfall eröffnet und Deutschland ist der zuständige Mitgliedstaat.
Der Kläger ist deutscher Staatsangehöriger und fällt damit nach Art. 2 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 in den persönlichen Anwendungsbereich der Grundverordnung. Ebenso ist das Kindergeld nach dem EStG eine Familienleistung i.S. des Art. 1 Buchst. z der VO Nr. 883/2004, weshalb auch deren sachlicher Anwendungsbereich nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der VO Nr. 883/2004 eröffnet ist.
Nach Art. 11 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 unterliegen die von dieser Verordnung erfassten Personen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Im Streitfall ergibt sich die Anwendung der deutschen Rechtsvorschriften jedenfalls aus Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der VO Nr. 883/2004.
Aus Art. 67 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 folgt, dass die Wohnsituation der Kindsmutter (fiktiv) in das Inland übertragen wird1.
Die Kindsmutter erfüllt vorliegend neben dem Wohnsitzerfordernis auch die übrigen Voraussetzungen für einen vorrangigen Kindergeldanspruch.
Es bestehen weder Anhaltspunkte dafür, dass die Kindsmutter eine nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländerin i.S. des § 62 Abs. 2 EStG ist, noch dass sie mit dem Kläger einen gemeinsamen Haushalt im Streitzeitraum in Frankreich hatte (§ 64 Abs. 2 Satz 2 EStG). Denn ein gemeinsamer Haushalt kann sich nicht aus der Fiktionswirkung des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009.
Schließlich kommt es nicht darauf an, ob die Kindsmutter selbst einen Antrag auf Kindergeld in Deutschland gestellt hat. Auch insoweit verweist der Bundesfinanzhof zur Vermeidung von Wiederholungen auf sein Urteil in BFHE 253, 236, BStBl II 2016, 616, Rz 32.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 15. Juni 2016 – III R 67/13
- vgl. im übrigen BFH, Urteile vom 04.02.2016 – III R 17/13, BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612, Rz 18 bis 19; und vom 10.03.2016 – III R 62/12, BFHE 253, 236, BStBl II 2016, 616, Rz 19 bis 23[↩]