Eine Kindergeldfestsetzung kann nicht rückwirkend nach § 70 Abs. 4 EStG a.F. aufgehoben werden, nur um einen materiellen Rechtsfehler der Familienkasse zu beseitigen.

Gemäß § 70 Abs. 4 EStG a.F. ist eine Kindergeldfestsetzung aufzuheben oder zu ändern, wenn nachträglich bekannt wird, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG a.F. über- oder unterschreiten.
Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs rechtfertigt § 70 Abs. 4 EStG a.F. eine Aufhebung oder Änderung des Kindergeldbescheids aber nur, wenn nachträglich bekannt wird, dass sich die Einkünfte und Bezüge entgegen der Prognose im laufenden Kalenderjahr erhöht oder vermindert haben. Diese Auslegung folgt aus dem Zweck des § 70 Abs. 4 EStG a.F. sowie der Gesetzessystematik1.
Die Korrekturmöglichkeit nach § 70 Abs. 4 EStG a.F. ist erforderlich, weil das Kindergeld im Laufe des Kalenderjahres monatlich gezahlt wird (vgl. § 31 Satz 3 EStG), ein Anspruch darauf aber grundsätzlich nur dann besteht, wenn die Einkünfte und Bezüge des Kindes den maßgebenden Jahresgrenzbetrag (§ 62, § 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG) nicht überschreiten2.
Wird zu Beginn oder während des Kalenderjahres Kindergeld für ein volljähriges Kind beantragt, hat die Familienkasse vor Festsetzung und Auszahlung des Kindergeldes aufgrund der bis dahin bekannten Tatsachen die voraussichtlich im Kalenderjahr anfallenden Einkünfte und Bezüge des Kindes zu ermitteln. Wegen der Ungewissheit über die künftige Entwicklung der Einkünfte und Bezüge muss die Familienkasse die Möglichkeit haben, einen positiven oder negativen Kindergeldbescheid zu ändern, wenn sich nach Ablauf des Jahres herausstellt, dass die Einkünfte und Bezüge abweichend von der Prognose der Familienkasse aufgrund der bei der Prognoseentscheidung bekannten Tatsachen den maßgebenden Jahresgrenzbetrag überschreiten bzw. nicht überschreiten3. Eine Prognose (Vorhersage) wird hinsichtlich der im Lauf des Kalenderjahres erst zufließenden Einnahmen und der voraussichtlich anfallenden Ausgaben (Werbungskosten) getroffen. Das nachträgliche Bekanntwerden vom Überschreiten oder Nichtüberschreiten des Jahresgrenzbetrages bezieht sich somit auf von der Prognose abweichende tatsächliche Änderungen hinsichtlich des Betrages der Einkünfte und Bezüge, nicht aber auf Änderungen, die auf nachträglich ergangener Rechtsprechung zur Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG beruhen4.
Eine rückwirkende Aufhebung der Kindergeldfestsetzung nach § 70 Abs. 4 EStG a.F. kommt danach nicht in Betracht, wenn sich hinsichtlich der Einkünfte und Bezüge keine tatsächlichen Änderungen gegenüber der Annahme in der Prognose ergeben haben5. Insbesondere Änderungen der Rechtsauffassung durch Rechtsprechung oder Verwaltungsanweisungen hinsichtlich der Einkünfte und Bezüge fallen nicht unter § 70 Abs. 4 EStG a.F.6.
Auch materielle Fehler der Familienkasse berechtigen nicht zu einer Änderung nach § 70 Abs. 4 EStG, weil dies dem Sinn und Zweck der Regelung widersprechen würde7.
Auch kommt eine rückwirkende Aufhebung der Kindergeldfestsetzung nach § 70 Abs. 3 EStG nicht in Betracht, weil die Berichtigung materieller Fehler insoweit nur „ex nunc“ und damit nur für die Zukunft erfolgen kann8.
Die rückwirkende Aufhebung der Kindergeldfestsetzung durch die Familienkasse kann auch nicht auf § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO gestützt werden. Denn die Anwendung dieser Korrekturvorschrift setzt voraus, dass „das Ereignis“ erst nachträglich eingetreten und bekannt geworden ist9. Im Streitfall sind diese Voraussetzungen wegen des Vorliegens eines materiellen Rechtsanwendungsfehlers schon bei der Prognoseentscheidung nicht erfüllt.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 16. Oktober 2012 – XI R 46/10
- vgl. BFH, Urteil vom 28.11.2006 – III R 6/06, BFHE 216, 138, BStBl II 2007, 717, unter II.3.c[↩]
- vgl. BFH, Urteile vom 15.12.2005 – III R 82/04, BFHE 212, 213, BStBl II 2008, 621, und in BFHE 216, 138, BStBl II 2007, 717[↩]
- vgl. BFH, Urteile vom 30.11.2004 – VIII R 6/03, BFH/NV 2005, 890, unter II.2.a; in BFHE 212, 213, BStBl II 2008, 621, und in BFHE 216, 138, BStBl II 2007, 717[↩]
- BFH, Urteil in BFHE 216, 138, BStBl II 2007, 717, unter II.3.c[↩]
- BFH, Urteile in BFHE 216, 138, BStBl II 2007, 717, unter II.3.c, m.w.N.; vom 15.03.2012 – III R 20/11, BFH/NV 2012, 1590, Rz 13[↩]
- vgl. BFH-Entscheidungen in BFHE 216, 138, BStBl II 2007, 717, unter II.3.c; vom 10.05.2007 – III R 103/06, BFHE 218, 147, BStBl II 2008, 549; vom 30.09.2008 – III B 206/07, BFH/NV 2009, 20; vom 24.02.2010 – III R 100/07, BFH/NV 2010, 1260; vom 21.10.2010 – III R 74/09, BFH/NV 2011, 250; vom 05.01.2012 – III B 59/10, BFH/NV 2012, 737[↩]
- vgl. z.B. BFH, Urteil in BFHE 218, 147, BStBl II 2008, 549, unter II.2.d[↩]
- vgl. z.B. BFH, Beschluss in BFH/NV 2012, 737, m.w.N.[↩]
- vgl. Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 175 AO Rz 23[↩]