Aufwendungen für eine Liposuktion zur Behandlung eines Lipödems können jedenfalls ab dem Jahr 2016 ohne vorherige Vorlage eines vor den Operationen erstellten amtsärztlichen Gutachtens oder einer ärztlichen Bescheinigung eines Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung als außergewöhnliche Belastung zu berücksichtigen sein.

In dem hier vom Bundesfinanzhof entschiedenen Fall litt die Patientin seit Jahren an einem Lipödem (krankhafte Fettverteilungsstörung). Da konservative Behandlungen keine Besserung bewirkten, unterzog sie sich im Streitjahr (2017) auf Anraten des behandelnden Arztes einer Liposuktion. Die Krankenkasse übernahm die Kosten der Operation nicht, da der Gemeinsame Bundesausschuss der Krankenkassen (GBA) -trotz jahrelanger Prüfung- immer noch keine entsprechende Kostenübernahmeempfehlung ausgesprochen hatte. Die Patientin machte den Aufwand als außergewöhnliche Belastung geltend. Das Finanzamt lehnte dies unter Berufung auf BFH-Rechtsprechung zu früheren Zeiträumen ab, da es sich um eine wissenschaftlich nicht anerkannte Behandlungsmethode handele und ein vor Behandlungsbeginn ausgestelltes Gutachten bzw. eine ärztliche Bescheinigung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (§ 64 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. f EStDV) nicht vorlagen.
Der Argumentation, die Liposuktion sei eine wissenschaftlich nicht anerkannte Behandlungsmethode, schloss sich das Sächsische Finanzgericht nach umfangreicher Auswertung entsprechender medizinischer Fachbeiträge nicht an und gab der Klage statt1. Der Bundesfinanzhof bestätigte diese Entscheidung und wies die Revision des Finanzamtes als unbegründet zurück: Inzwischen (jedenfalls ab 2016) bestehe über die Wirksamkeit und Zweckmäßigkeit der Liposuktion bei einem Lipödem unter den Medizinern kein nennenswerter Streit mehr. Zudem benenne das Gesetz beispielhaft die Frisch- und Trockenzellenbehandlung sowie die Sauerstoff, Chelat- und Eigenbluttherapie als wissenschaftlich nicht anerkannte Behandlungsmethoden. Damit sei die Liposuktion zur Behandlung eines Lipödems nicht vergleichbar. Die fehlende Einbeziehung der Liposuktion in das Leistungsverzeichnis der Krankenkassen durch den GBA sei unerheblich. Da die bei der Patientin durchgeführte Liposuktion nicht kosmetischen Zwecken gedient habe, sondern medizinisch indiziert gewesen sei, habe es für die Anerkennung der Kosten als außergewöhnliche Belastungen, ebenso wie bei anderen Krankheitsaufwendungen, nicht der Vorlage eines vor der Behandlung ausgestellten amtsärztlichen Gutachtens oder einer ärztlichen Bescheinigung eines Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung bedurft.
Nach § 33 Abs. 1 EStG wird die Einkommensteuer auf Antrag ermäßigt, wenn einem Steuerpflichtigen zwangsläufig größere Aufwendungen als der überwiegenden Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse, gleicher Vermögensverhältnisse und gleichen Familienstands (außergewöhnliche Belastung) erwachsen. Zwangsläufig erwachsen dem Steuerpflichtigen Aufwendungen dann, wenn er sich ihnen aus rechtlichen, tatsächlichen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann und soweit die Aufwendungen den Umständen nach notwendig sind und einen angemessenen Betrag nicht übersteigen (§ 33 Abs. 2 Satz 1 EStG).
In ständiger Rechtsprechung geht der Bundesfinanzhof davon aus, dass Krankheitskosten -ohne Rücksicht auf die Art und die Ursache der Erkrankung- dem Steuerpflichtigen aus tatsächlichen Gründen zwangsläufig erwachsen. Allerdings werden nur solche Aufwendungen als Krankheitskosten berücksichtigt, die zum Zweck der Heilung einer Krankheit (z.B. Medikamente, Operation) oder mit dem Ziel getätigt werden, die Krankheit erträglicher zu machen, beispielsweise Aufwendungen für einen Rollstuhl2.
Aufwendungen für die eigentliche Heilbehandlung werden typisierend als außergewöhnliche Belastung berücksichtigt, ohne dass es im Einzelfall der nach § 33 Abs. 2 Satz 1 EStG an sich gebotenen Prüfung der Zwangsläufigkeit dem Grunde und der Höhe nach bedarf. Eine derart typisierende Behandlung von Krankheitskosten ist zur Vermeidung eines unzumutbaren Eindringens in die Privatsphäre geboten. Dies gilt aber nur dann, wenn die Aufwendungen nach den Erkenntnissen und Erfahrungen der Heilkunde und nach den Grundsätzen eines gewissenhaften Arztes zur Heilung oder Linderung der Krankheit angezeigt (vertretbar) sind und vorgenommen werden, also medizinisch indiziert sind3.
Den Nachweis der Zwangsläufigkeit von Aufwendungen im Krankheitsfall hat der Steuerpflichtige in den abschließend geregelten Katalogfällen des § 64 Abs. 1 Nr. 2 EStDV4 durch ein vor Beginn der Heilmaßnahme oder dem Erwerb des medizinischen Hilfsmittels ausgestelltes amtsärztliches Gutachten oder eine vorherige ärztliche Bescheinigung eines Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (§ 275 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch -SGB V-) zu führen (§ 64 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 EStDV).
Ein solcher qualifizierter Nachweis ist auch bei krankheitsbedingten Aufwendungen für wissenschaftlich nicht anerkannte Behandlungsmethoden, wie z.B. Frisch- und Trockenzellenbehandlungen, Sauerstoff, Chelat- und Eigenbluttherapie (§ 64 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. f EStDV) erforderlich.
Wissenschaftlich nicht anerkannt ist eine Behandlungsmethode, wenn Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse nicht entsprechen5. Hierunter fallen Behandlungsmethoden, die die große Mehrheit der einschlägigen Fachleute (Ärzte, Wissenschaftler) nicht befürwortet, weil sich die Methoden in der medizinischen Praxis nicht bewährt haben und über ihre generelle Wirksamkeit und/oder Zweckmäßigkeit nennenswert Streit besteht, sie folglich nicht auf einem tragfähigen medizinisch-wissenschaftlichen Konsens gründen. Demgegenüber ist von einem solchen Konsens schon dann auszugehen, wenn die vorgesehene Behandlung den evidenzbasierten Handlungsempfehlungen eines institutionalisierten Expertengremiums entspricht. Dazu zählen etwa die Stellungnahmen des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer und ebenso die von führenden medizinischen Gesellschaften erstellten Leitlinien, welche den -nach definiertem, transparent gemachtem Vorgehen erzielten- Konsens zu bestimmten ärztlichen Vorgehensweisen wiedergeben und denen deshalb die Bedeutung wissenschaftlich begründeter Handlungsempfehlungen zukommt6. Die Anforderungen an die vorgenannten Handlungsempfehlungen dürfen zudem nicht überspannt werden. Denn wie sich den in § 64 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. f EStDV aufgeführten Regelbeispielen entnehmen lässt, soll sich das formalisierte Nachweisverlangen nur auf Aufwendungen für Behandlungsmethoden erstrecken, deren Auswirkung auf die Heilung oder Linderung einer Krankheit regelmäßig nicht messbar ist, deren im Einzelfall gleichwohl bestehende medizinische Indikation daher des besonderen Nachweises bedarf.
Ob eine neue Behandlungsmethode generell oder in Einzelfällen zum „Leistungskatalog“ der gesetzlichen Krankenkassen zählt, ist für die Beurteilung der Frage, ob es sich um eine wissenschaftlich nicht anerkannte Behandlungsmethode i.S. von § 64 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. f EStDV handelt, grundsätzlich nicht maßgebend.
Denn dieser umfasst nach den gesetzlichen Rahmenregelungen im SGB V und den -diese konkretisierenden- Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) Leistungen, die für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten unter Berücksichtigung des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse erforderlich sind (§ 137c Abs. 1 Satz 1 SBG V). Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden dürfen gemäß § 135 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V zu Lasten der Krankenkassen nur erbracht werden, wenn die dort im Einzelnen benannten Ausschüsse und Vereinigungen Empfehlungen u.a. zu der Wirtschaftlichkeit -auch im Vergleich zu bereits zu Lasten der Krankenkassen erbrachten Methoden- abgegeben haben.
Demgegenüber sind Aufwendungen im Krankheitsfall, wenn die kostenverursachenden Maßnahmen medizinisch indiziert sind, -wie oben dargelegt- typisierend als außergewöhnliche Belastung zu berücksichtigen, ohne dass es im Einzelfall der nach § 33 Abs. 2 Satz 1 EStG an sich gebotenen Prüfung der Zwangsläufigkeit des Grundes und der Höhe nach bedarf. Dabei ist zu beachten, dass nicht nur das medizinisch Notwendige im Sinne einer (gesetzlichen) Mindestversorgung erfasst wird, sondern jedes diagnostische oder therapeutische Verfahren, dessen Anwendung in einem Erkrankungsfall hinreichend gerechtfertigt (angezeigt) bzw. medizinisch indiziert ist. Dieser medizinischen Wertung hat die steuerliche Beurteilung zu folgen7.
Im Übrigen ist die fehlende Übernahme der Behandlungskosten durch die Krankenkasse letztlich „Voraussetzung“ für die Berücksichtigung krankheitsbedingter Aufwendungen nach § 33 EStG, da es ansonsten bereits an einer steuererheblichen außergewöhnlichen „Belastung“ des Steuerpflichtigen fehlt.
Ob eine Behandlungsmethode als wissenschaftlich nicht anerkannt anzusehen ist, hat das Finanzgericht aufgrund der ihm obliegenden Würdigung der Umstände des Einzelfalls festzustellen8. Hierbei kann es sich u.a. auf allgemein zugängliche Fachgutachten stützen9.
Maßgeblicher Zeitpunkt für die fehlende wissenschaftliche Anerkennung i.S. des § 64 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. f EStDV ist der Zeitpunkt der Vornahme der Behandlung. Denn das Nachweiserfordernis soll Aufschluss darüber geben, ob eine Behandlungsmethode im Zeitpunkt der Behandlung medizinisch indiziert ist und die angefallenen Aufwendungen daher zwangsläufig zum Zweck der Heilung oder Linderung einer Krankheit entstanden sind10.
Nach Maßgabe dieser Rechtsgrundsätze ist das Finanzgericht im Streitfall in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise zu dem Ergebnis gelangt, dass es sich bei der im Streitfall durchgeführten Liposuktion jedenfalls seit dem Jahr 2016 und damit auch im Streitjahr unabhängig vom Stadium der Erkrankung nicht (mehr) um eine wissenschaftlich nicht anerkannte Behandlungsmethode handelt.
Denn nach den den Bundesfinanzhof bindenden Feststellungen des FInanzgerichts (§ 118 Abs. 2 FGO) entspricht die Durchführung einer Liposuktion der S-1 Leitlinie Lipödem der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V.11. In dieser von einer Expertengruppe im informellen Konsens erarbeiteten Leitlinie wird die Liposuktion als medizinisch indizierte, etablierte und risikoarme operative Methode zur Verbesserung von Spontanschmerz, Druckschmerz, Ödem- und Hämatomneigung beschrieben sowie als medizinische Maßnahme zur Reduktion des Risikos für weitere orthopädische Komplikationen in Folge eines lipödem-assoziierten pathologischen Gangbildes beurteilt.
Überdies hat das Finanzgericht herausgearbeitet, dass die Bundesärztekammer und fast sämtliche medizinischen Fachgesellschaften (z.B. die Deutsche Gesellschaft für Wundheilung und Wundbehandlung e.V., die Deutsche Gesellschaft der Plastischen, Rekonstruktiven und Ästhetischen Chirurgen, die Deutsche Gesellschaft für Physikalische Medizin und Rehabilitation e.V. sowie zu Beginn des Bewertungsverfahrens auch die Deutsche Krankenhausgesellschaft und die Kassenärztliche Bundesvereinigung), die mit der Erkrankung befasst sind, in dem Stellungnahmeverfahren des G-BA in den Jahren 2015 und 2016 die Auffassung vertreten haben, dass bei einem Lipödem eine Liposuktion in den meisten Fällen symptomlindernde Wirkungen hat.
Auch der G-BA selbst hat -obwohl das Verfahren zur Durchführung einer (aufgrund sowohl des Leidensdrucks der betroffenen Frauen als auch auf den dringenden Wunsch des Bundesgesundheitsministeriums zur Beschleunigung des Bewertungsverfahrens in Auftrag gegebenen) Erprobungsstudie ausgesetzt ist- ausweislich der Feststellungen des FInanzgerichts das medizinische Potential der streitigen Behandlungsmethode im jahr 2017 bestätigt.
Nach den Feststellungen des FInanzgerichts steht zudem fest, dass es sich bei der Liposuktion regelmäßig nicht um einen kosmetischen Eingriff handelt. Den herangezogenen Stellungnahmen der mit der Behandlung von Lipödemen befassten Wissenschaftler ist vielmehr zu entnehmen, dass eine Liposuktion regelmäßig nicht auf eine optische Verschönerung der Patientinnen, sondern auf die Linderung von Schmerzen sowie die Vermeidung von Sekundärerkrankungen zielt, und dadurch die -häufig wirkungslose und die Patientinnen erheblich einschränkende und belastende- konservative Behandlung reduziert oder gar überflüssig wird.
Angesichts dessen kann für das Streitjahr nicht (mehr) davon ausgegangen werden, dass es sich bei einer Liposuktion zur Behandlung eines Lipödems um eine lediglich gesundheitsfördernde Vorbeuge-/Folgemaßnahme oder eine Maßnahme handelt, die nicht eindeutig der Linderung einer Krankheit dient und deshalb eine mit den in § 64 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. f EStDV aufgeführten Behandlungsmethoden vergleichbare Methode darstellt.
Entgegen der Auffassung des Finanzamtes steht das Fehlen eines vor den Operationen erstellten amtsärztlichen Gutachtens oder einer ärztlichen Bescheinigung eines Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung der Anerkennung der Kosten als außergewöhnliche Belastung daher nicht entgegen. Dass die Liposuktion bei der Patientin nicht kosmetischen Zwecken gedient hat, sondern medizinisch indiziert war, wird durch das privatärztliche Schreiben vom 12.01.2016 hinreichend nachgewiesen. Die Sache ist spruchreif. Denn die Höhe der Aufwendungen steht zwischen den Beteiligten nicht in Streit.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 23. März 2023 – VI R 39/20
- Sächs. FG, Urteil vom 10.09.2020 – 3 K 1498/18[↩]
- BFH, Urteil vom 18.06.2015 – VI R 68/14, BFHE 250, 166, BStBl II 2015, 803, Rz 10, m.w.N.[↩]
- BFH, Urteil in BFHE 250, 166, BStBl II 2015, 803, Rz 11, m.w.N.[↩]
- BFH, Urteil in BFHE 250, 166, BStBl II 2015, 803, Rz 12, m.w.N.[↩]
- BFH, Urteil vom 26.06.2014 – VI R 51/13, BFHE 246, 326, BStBl II 2015, 9[↩]
- vgl. z.B. BGH, Beschluss vom 30.06.2021 – XII ZB 191/21, MDR 2021, 1199[↩]
- BFH, Urteil vom 11.11.2010 – VI R 17/09, BFHE 232, 40, BStBl II 2011, 969, Rz 26, m.w.N.[↩]
- BFH, Urteil in BFHE 250, 166, BStBl II 2015, 803, Rz 14, m.w.N.[↩]
- BFH, Urteil in BFHE 250, 166, BStBl II 2015, 803, Rz 16[↩]
- BFH, Urteil in BFHE 250, 166, BStBl II 2015, 803, Rz 15, m.w.N.[↩]
- AWMF Registernummer 037-012; Stand 10/2015[↩]