Hat die Kindesmutter ausdrücklich den Kindergeldbezug durch den Kindesvater gewünscht und das Kindergeld wird zu Unrecht an den Kindesvater gezahlt, stellt dessen bloße Verletzung der Mitwirkungspflicht nach § 68 EStG bei Weiterleitung des Kindergeldes an die vorrangig kindergeldberechtigte Kindesmutter keine leichtfertige Steuerverkürzung nach § 378 Abs. 1 AO dar.

Mit dieser Begründung hat das Finanzgericht Hamburg der Klage eines Vaters stattgegeben, der sich damit gegen einen Rückforderungsbescheid seines Finanzamts wehrt. Zwischen den Beteiligten ist das Kindergeld für den Sohn des Klägers A, geboren am …, im Zeitraum vom 01.10.2001 bis 31.12.2006 streitig. Der Kläger, damals noch … Staatsbürger, kam 1993 nach Deutschland. Er besaß zunächst nur eine befristete Aufenthaltserlaubnis, die mehrfach verlängert wurde. Seit 2003 besitzt der Kläger die deutsche Staatsangehörigkeit. Der Kläger erhielt laufend Kindergeld für seinen Sohn A bis einschließlich August 2011. Der Kläger und die Kindesmutter waren seit … 1993 verheiratet. Die Eheleute lebten vom 29.09.2001 bis 30.06.2002 getrennt. Vom 01.07.2002 bis Ende Dezember 2002 wohnte der Kläger wieder in der gemeinsamen Ehewohnung und sorgte für den gemeinsamen Sohn. Gleichzeitig unterhielt er eine eigene Wohnung. Die Ehe zwischen dem Kläger und der Kindesmutter wurde laut Urteil des Amtsgerichts Hamburg ‑1 am … 2003 geschieden. Der Kläger ist seit … 2008 wieder verheiratet.
Der Kläger legte zunächst regelmäßig bei der für ihn zuständigen Familienkasse, zuletzt in 2001, eine Haushaltsbescheinigung, sowie in 2002 eine Schulbescheinigung seines Sohnes vor. Auf die Aufforderung seiner damaligen Dienststelle vom 12.08.2003 um Vorlage einer erneuten Haushaltsbescheinigung legte er seine Einbürgerungsurkunde vom … 2001 vor. Weitere diesbezügliche Aufforderungen erfolgten seitdem nicht. Infolge des Wechsels des Arbeitgebers stellte der Kläger am 17.08.2011 einen Antrag auf Festsetzung von Kindergeld für A. Hieraus ging hervor, dass sein Sohn im Haushalt seiner Mutter lebt.
Mit Bescheid vom 09.12.2011 hob die Beklagte die Kindergeldfestsetzung ab 01.10.2001 bis 31.08.2011 auf und forderte das überzahlte Kindergeld zurück. Der Erstattungsbetrag belief sich auf 19.098 €. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der Sohn seit 01.01.2001 im Haushalt der Kindesmutter lebe und nicht mehr im Haushalt des Klägers, so dass diese vorrangig kindergeldberechtigt sei. Auf die Möglichkeit der Abgabe einer Weiterleitungserklärung wurde hingewiesen. Mit Schreiben vom 09.01.2012 legte der Kläger dagegen Einspruch ein und führte dazu aus, dass er das Kindergeld von Anfang 2001 bis August 2011 an die Kindesmutter weitergeleitet habe. Er legte hierzu eine Weiterleitungserklärung der Kindesmutter bei, indem diese Weiterleitung des Kindergeldes an sie im Zeitraum vom 01.10.2001 bis 31.08.2011 bestätigte und insoweit ihren Anspruch auf Kindergeld als erfüllt angesehen hat. Die Kindesmutter bestätigte ferner, dass sie selbst am 02.11.2011 bei der Agentur für Arbeit Hamburg – Familienkasse – einen Antrag auf Festsetzung von Kindergeld gestellt habe.
Mit Einspruchsentscheidung vom 03.02.2012 wies die Beklagte den Einspruch insoweit als unbegründet zurück, als die Aufhebung den Zeitraum vom 01.10.2001 bis 31.12.2006 betroffen hat. Die Erstattungsforderung reduzierte sich dadurch auf 9.654 €. Die Beklagte führte zur Begründung aus: Da die Kindesmutter ihren Kindergeldanspruch bei der Familienkasse erst im Oktober 2011 geltend gemacht habe, könne Kindergeld gem. § 169 Abgabenordnung (AO) frühestens ab 01.01.2007 festgesetzt werden. Der vorausgehende Anspruch sei verjährt. Daraus folge, dass die Kindesmutter ihren Anspruch auch nur für die Zeit vom 01.01.2007 bis 31.08.2011 als erfüllt ansehen könne und nur in dieser Höhe verzichten könne. Hiergegen erhob der Kläger mit Schreiben vom 16.02.2012, beim Finanzgericht Hamburg eingegangen am 20.02.2012, Klage mit dem Ziel der Aufhebung des Aufhebungs- und Rückforderungsbescheides und führte zur Begründung aus, dass das Getrenntleben für die Rückforderung nicht ausreichend sei. Ein Steuerhinterziehungstatbestand oder eine Rückforderung sei lediglich bei einer Doppelzahlung möglich. Vorliegend sei jedoch nur ein einmaliger Betrag an Kindergeld ausgezahlt worden. Die Auszahlung sei gem. § 64 Abs. 1 EStG an einem Berechtigten erfolgt, die Zahlung sei an die Kindesmutter weitergeleitet worden. Es treffe nicht zu, dass die Zahlung an einem Nichtberechtigten erfolgt sei. Er habe seinem damaligen Arbeitgeber auch von der Scheidung Mitteilung gemacht, seine Steuerkarte sei entsprechend geändert worden.
Nach Auffassung des Finanzgerichts Hamburg war die Beklagte nicht berechtigt, die Kindergeldfestsetzung für den genannten Zeitraum aufzuheben, denn insoweit ist nach § 169 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO Festsetzungsverjährung eingetreten und die Beklagte an einer Aufhebung der Kindergeldfestsetzung und der entsprechenden Rückforderung gehindert.
Die Aufhebung einer Steuerfestsetzung ist nach § 169 Abs. 1 Satz 1 AO nicht mehr zulässig, wenn die Festsetzungsfrist abgelaufen ist. Die Festsetzungsfrist beträgt nach § 169 Abs.2 Satz 1 Nr. 2 AO vier Jahre für Steuern und Steuervergütungen; sie beträgt zehn Jahre, soweit eine Steuer hinterzogen, und fünf Jahre, soweit sie leichtfertig verkürzt worden ist (§ 169 Abs. 2 Satz 2 AO). Die Festsetzungsfrist nach § 170 Abs. 1 Satz 1 AO beginnt mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer bzw. die Steuervergütung entstanden ist. Nach § 31 Satz 3 EStG ist das Kindergeld eine Steuervergütung. Da das Kindergeld nach § 66 Abs. 2 EStG monatlich ausgezahlt wird, beginnt die Festsetzungsverjährung für den hier streitigen Zahlungszeitraum mit Ablauf des jeweiligen Kalenderjahres.
Zum Zeitpunkt der Kindergeldfestsetzungsaufhebung am 09.12.2011 war die Festsetzungsfrist bereits für den gesamten Streitzeitraum abgelaufen. Die Festsetzungsfrist für das Jahr 2001 endete gem. § 108 Abs. 1 i. V. m. § 169 Abs. 1 Satz 2 AO i. V. m. § 188 BGB mithin am 31.12.2005, für das Jahr 2002 am 31.12.2006, für das Jahr 2003 am 31.12.2007, für das Jahr 2004 am 31.12.2008, für das Jahr 2005 am 31.12.2009 und für das Jahr 2006 am 31.12.2010.
Im Fall des Klägers liegt kein Fall der Anlaufhemmung nach § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO vor. Nach dieser Vorschrift beginnt die Festsetzungsfrist, wenn eine Steuererklärung oder eine Steueranmeldung einzureichen oder eine Anzeige zu erstatten ist, mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuererklärung, die Steueranmeldung oder die Anzeige eingereicht wird, spätestens jedoch mit Ablauf des dritten Kalenderjahres, das auf das Kalenderjahr folgt, in dem die Steuer entstanden ist.
Nach § 68 Abs. 1 Satz 1 EStG besteht eine besondere Mitwirkungspflicht, der auch der Kläger unterworfen ist, wonach Änderungen in den Verhältnissen, die für die Leistung erheblich sind, unverzüglich der zuständigen Familienkasse mitzuteilen sind. Diese stellt jedoch keine Anzeige im Sinne des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO dar [1]. Hiergegen spricht der Wortlaut des § 68 EStG, der insoweit von „mitteilen“ und nicht von „anzeigen“ spricht. Darüber hinaus ist das Wort „Anzeige“ im Zusammenhang mit den anderen, vom Gesetzgeber verwendeten Begriffen in § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO zu sehen. Der Gesetzgeber versteht unter den Begriffen „Steuererklärung“ und „Steueranzeige“ förmliche Erklärungen zum Teil auf amtlichen Formularen, deren Abgabe einzeln gesetzlich geregelt ist (z. B. § 30 Abs. 1 Erbschaftsteuergesetz, § 18 Grunderwerbsteuergesetz und § 29 EStDV). Die allgemeinen und besonderen Mitwirkungspflichten werden davon nicht erfasst [2].
Eine Verlängerung der Festsetzungsfrist nach § 169 Abs. 2 Satz 2 AO kommt hier nicht in Frage, weil weder eine (vorsätzliche) Steuerhinterziehung nach § 370 AO noch eine leichtfertige Steuerverkürzung nach § 378 AO vorliegt. Eine Steuerhinterziehung nach § 370 AO kann nur vorsätzlich begangen werden. Vorsatz bedeutet Kenntnis und Wollen der Verwirklichung des objektiven Tatbestands. Der Täter muss wissen, dass er einen Steuervorteil erlangt, auf den er keinen Anspruch hat. Irrt er sich hierüber, so befindet er sich in einem Tatbestandsirrtum, der den Vorsatz ausschließt (§ 16 Strafgesetzbuch). Nach Auffassung des Finanzgerichts Hamburg sind Anhaltspunkte für ein vorsätzliches Handeln des Klägers nicht erkennbar. Auch wenn der Kläger seine Mitwirkungspflicht objektiv dadurch verletzt hat, dass er der Beklagten den Auszug aus der Ehewohnung nicht zeitnah mitgeteilt hat, zeigt die Tatsache, dass der Kläger bereits am 07.09.2011 noch vor Erlass des streitgegenständlichen Aufhebungs- und Rückforderungsbescheides – insoweit unstreitig – der Beklagten mitgeteilt hat dass er das Kindergeld auf den ausdrücklichen Wunsch der Kindesmutter weiter bezogen und an sie weitergeleitet hat, dass es dem Kläger nicht um einen persönlichen Steuervorteil ging, sondern dass er davon ausgegangen ist, dass für seinen Sohn einmal Kindergeld gewährt wird und dieses letztlich dem Elternteil zukommen soll, der für das Kind im Wesentlichen sorgt.
Trotz Verletzung der besonderen Mitwirkungspflicht nach § 68 Abs. 1 EStG liegt auch keine leichtfertige Steuerverkürzung des Klägers nach § 378 Abs. 1 AO vor. Eine leichtfertige Steuerverkürzung begeht gem. § 378 Abs. 1 Satz 1 AO, wer als Steuerpflichtiger einer der in § 370 Abs. 1 AO bezeichneten Taten leichtfertig begeht. Leichtfertigkeit im Sinne von § 378 Abs. 1 Satz 1 AO bedeutet nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs [3] einen erheblichen Grad an Fahrlässigkeit, der etwa der groben Fahrlässigkeit des bürgerlichen Rechts entspricht, aber im Gegensatz hierzu auf die persönlichen Fähigkeiten des Steuerpflichtigen abstellt. Ein derartiges Verschulden liegt vor, wenn der Betreffende nach den Gegebenheiten des Einzelfalles und seinen individuellen Fähigkeiten in der Lage gewesen wäre, den aus den einschlägigen gesetzlichen Regelungen sich im konkreten Fall ergebenden Sorgfaltspflichten zu genügen. Hierzu ist eine Gesamtwertung des Verhaltens des Klägers erforderlich [4].
Dem Kläger dürfte zwar aufgrund der erhaltenen Mitteilungsblätter bekannt gewesen sein, dass die Zahlung des Kindergeldes an ihn zu Unrecht erfolgte. Allerdings ging er, wie er selbst erklärt hat, davon aus, mit der Weiterleitung des Kindergeldes an die Kindesmutter seinen gesetzlichen Pflichten genüge getan zu haben. Auf diese Weise hat die vorrangig Kindergeldberechtigte das Kindergeld auch erhalten, wie diese selbst in ihrer Weiterleitungsbestätigung erklärt hat. Die Kindesmutter hat somit das Kindergeld in voller Höhe über den gesamten Streitzeitraum erhalten. Bei einer Gesamtwertung des Verhaltens des Klägers ist der Senat der Auffassung, dass die bloße Verletzung der Mitwirkungspflicht des § 68 EStG bei erfolgter Weiterleitung des Kindergeldes keinen derart erheblichen Grad an Fahrlässigkeit zu begründen vermag, dass von einem leichtfertigen Verhalten ausgegangen werden kann.
Eine andere Beurteilung für den Grad an Fahrlässigkeit in Bezug auf die Kindergeldfestsetzung ergibt sich auch nicht daraus, dass der Kläger durch sein Verschweigen seiner geänderten familiären Verhältnisse gegenüber seinem Arbeitgeber möglicherweise weitere Leistungen bezogen haben könnte, die an die Kindergeldfestsetzung geknüpft sind (z. B. Familienzuschläge etc.). Hierzu sind keine entsprechenden Erkenntnisse aus den vorliegenden Unterlagen ersichtlich. Aus den von der Beklagten eingeholten Auskünften des früheren öffentlichen Arbeitgebers des Klägers „B“ geht nur hervor, dass dort keine Angaben bzw. Nachweise zum Familienstand vorliegen. Dem stehen die Ausführungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung in Bezug auf die Änderung seiner Steuerkarte und die Reduzierung seines Gehalts gegenüber.
Die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung für den Zeitraum vom 01.10.2001 bis 31.12.2006 und die Rückforderung des für diesen Zeitraum gezahlten Kindergeldes ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Wegen der fehlenden Berechtigung der Beklagten ist der Bescheid vom 09.12.2011 in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom 03.02.2012 aufzuheben.
Finanzgericht Hamburg, Urteil vom 18. Juni 2012 – 6 K 41/12
- vgl. BFH, Urteil vom 18.05.2006 – III R 80/04, BFHE 214, 1, BStBl II 2008, 371[↩]
- so auch FG Düsseldorf Urteil vom 26.02.2004 – 15 K 5245/03 Kg, EFG 2005, 559 ff.[↩]
- vgl. BFH, Beschluss vom 17.03.2000 – VII B 33/99, BFH/NV 2000, 1180 m. w. N.[↩]
- FG Düsseldorf Urteil vom 26.02.2004 – 15 K 5245/03 Kg, EFG 2005, 559 ff.; bestätigend BFH Urteil vom 18.05.2006 – III R 80/04, BFHE 214,1 ff., BStBl II 2008, 371[↩]