(Differenz-)Kindergeld und die Arbeit in den Niederlanden

Nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG hat für Kinder im Sinne des § 63 EStG Anspruch auf Kindergeld, wer u.a. im Inland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.

(Differenz-)Kindergeld und die Arbeit in den Niederlanden

Kindergeld für volljährige Kinder

Für ein volljähriges Kind besteht nach § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 2 EStG ein Anspruch auf Kindergeld, wenn es einen Berücksichtigungstatbestand i.S. § 32 Abs. 4 Satz 1 EStG erfüllt und außerdem seine Einkünfte und Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind, den jeweils maßgeblichen Jahresgrenzbetrag nicht überschreiten.

Dieser grundsätzlich gegebene Kindergeldanspruch wird nach einem aktuellen Urteil des Finanzgerichts Münster auch bei einer Arbeitstätigkeit in den Niederlanden nicht gemäß § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift wird Kindergeld nicht für ein Kind gezahlt, für das im Ausland Leistungen gewährt werden, die dem Kindergeld oder einer der unter Nr. 1 des § 65 Abs. 1 Satz 1 genannten Leistungen vergleichbar sind. Die Klägerin hat in den Niederlanden aufgrund des Alters von E. von über 18 Jahren keinen Anspruch auf Kindergeld oder vergleichbare Sozialleistungen. Es besteht somit ein Kindergeldanspruch nach deutschem Recht in Höhe von monatlich 154 €1.

Der Kindergeldanspruch der Klägerin für E. wird nicht durch gemeinschaftsrechtliche Vorschriften ausgeschlossen. Nach dem Urteil des Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (Große Kammer)2 steht Artikel 13 Abs. 1 Buchstabe a der VO (EWG) Nr. 1408/713 nicht entgegen, dass ein Wanderarbeitnehmer, der dem System der sozialen Sicherheit des Beschäftigungsmitgliedstaats unterliegt, nach den nationalen Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaates Familienleistungen im letztgenannten Staat bezieht. Damit hat der Europäische Gerichtshof klargestellt, dass die oben benannten Regelungen einen nach deutschem Recht bestehenden Kindergeldanspruch nicht ausschließen.

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Kindergeld für minderjährige Kinder

Auch bei minderjährigen Kindern ist der grundsätzlich gegebene Kindergeldanspruch nicht durch § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift wird Kindergeld nicht für ein Kind gezahlt, für das im Ausland Leistungen gewährt werden, die dem Kindergeld oder einer der unter Nr. 1 des § 65 Abs. 1 Satz 1 genannten Leistungen vergleichbar sind. Die Klägerin hat danach zwar nach nationalem Recht keinen Anspruch auf Kindergeld, weil sie vergleichbare Leistungen in den Niederlanden für das Kind erhält, wobei die Höhe der Leistung in den Niederlanden nicht vergleichbar ist. Das nationale Recht wird aber im vorliegenden Fall durch das Gemeinschaftsrecht verdrängt.

Die Bestimmungen des Titels II der VO (EWG) Nr. 1408/71, die festlegen, welche Rechtsvorschriften auf Arbeitnehmer anzuwenden sind, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, bezwecken, dass die Betroffenen dem System der sozialen Sicherheit nur eines Mitgliedstaats unterliegen, um die Kumulierung anwendbarer nationaler Rechtsvorschriften und die Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben können, zu vermeiden. Dieser Grundsatz kommt in Art. 13 Abs. 1 der VO (EWG) Nr. 1408/71 zum Ausdruck, nach dem ein Arbeitnehmer, für den diese Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats unterliegt4.

Nach Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der VO (EWG) Nr. 1408/71 unterliegt eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats abhängig beschäftigt ist, den Rechtsvorschriften dieses Staates, und zwar auch dann, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt. Dass diese Bestimmung auf die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats als die auf einen Arbeitnehmer anwendbaren Rechtsvorschriften verweist, hat zur Folge, dass nur die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats auf ihn anwendbar sind5.

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Im besonderen Zusammenhang der Familienleistungen sieht Art. 73 der VO (EWG) Nr. 1408/71 vor, dass ein Arbeitnehmer, der den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats unterliegt, für seine Familienangehörigen, die im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des ersten Staates hat, als ob diese Familienangehörigen im Gebiet dieses Staates wohnten.

Demnach findet vorliegend grundsätzlich das Recht des Beschäftigungsmitgliedstaats, d. h. niederländisches Recht, Anwendung6.

Das auf einen Arbeitnehmer, der sich in einer der von den Bestimmungen des Titels II der VO (EWG) Nr. 1408/71 erfassten Situationen befindet, anzuwendende Recht ist anhand dieser Bestimmungen zu ermitteln, doch ist deswegen die Anwendung der Bestimmungen einer anderen Rechtsordnung nicht stets ausgeschlossen6.

In der Entscheidung des EuGH heißt es wörtlich: „In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass die Bestimmungen der Verordnung Nummer 1408/71 im Licht des Artikels 42 EG auszulegen sind, der die Freizügigkeit der Arbeitnehmer erleichtern soll und unter anderem impliziert, dass Wanderarbeitnehmer nicht deshalb Ansprüche auf Leistungen der sozialen Sicherheit verlieren oder geringere Leistungen erhalten dürfen, weil sie das ihnen vom EG-Vertrag verliehene Recht auf Freizügigkeit ausgeübt haben“7.

In diesem Sinne wird im ersten Erwägungsgrund der Verordnung Nummer 1408/71 ausgeführt, dass die in der Verordnung enthaltenen Vorschriften zur Koordinierung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften über soziale Sicherheit zur Freizügigkeit von Personen gehören und zur Verbesserung von deren Lebensstandard und Arbeitsbedingungen beitragen sollen. Angesichts dessen ist festzustellen, dass unter den Umständen des Ausgangsverfahrens dem Wohnsitzmitgliedstaat nicht die Befugnis abgesprochen werden kann, den in seinem Gebiet wohnhaften Personen Familienbeihilfen zu gewähren. Nach Artikel 13 Abs. 2 Buchstabe a der Verordnung Nummer 1408/71 unterliegt eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaates abhängig beschäftigt ist, zwar den Rechtsvorschriften dieses Staates, auch wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaates wohnt, doch soll der Wohnstaat mit dieser Verordnung nicht daran gehindert werden, dieser Person nach seinem Recht Familienbeihilfen zu gewähren.“

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Der EuGH ging in seiner Entscheidung davon aus, dass es nicht zu einer Kumulierung der Leistungsansprüche aus dem Beschäftigungsland und aus dem Wohnsitzland und somit nicht zu einer Anwendung von Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der VO (EWG) 574/72 komme, da im Beschäftigungsland Niederlande für über 18 Jahre alte Kinder kein Anspruch bestehe. Da im vorliegenden Fall für den Sohn K. im Rückforderungszeitraum aber ein Anspruch auf Familienleistungen im Beschäftigungsland Niederlande bestand, kommt es zu einer Kumulation mit dem Kindergeldanspruch aus dem Wohnsitzland Bundesrepublik Deutschland. Der Anspruch der Klägerin ist auch nicht nach deutschem Recht gem. § 65 Abs. 1 Nr. 2 EStG ausgeschlossen8, da § 65 EStG durch Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der VO (EWG) 574/72 bzw. das einfache Recht durch den Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts verdrängt wird9.

Art. 10 VO (EWG) 574/72 enthält über den hier nicht einschlägigen Art. 76 VO (EWG) 1408/71 hinaus Vorschriften für das Zusammentreffen von Ansprüchen auf Familienleistungen oder -beihilfen für Arbeitnehmer und Selbständige unter anderem für den Fall, in dem der Erwerb eines Anspruchs nicht von einer Beschäftigung abhängt. Als Kollisionsnorm ist Art. 10 nicht nur einschlägig, wenn andere Personen ebenfalls Anspruch auf Familienleistungen haben, sondern auch in Bezug auf den Arbeitnehmer selbst10. Art. 10 Abs. 1a VO (EWG) 574/72 regelt, dass der Anspruch auf Leistungen eines Mitgliedstaats, der nicht von einer Beschäftigung, selbständigen Tätigkeit oder Versicherung abhängig ist, ausgesetzt wird, wenn und soweit Familienleistungen gleichzeitig allein aufgrund innerstaatlicher Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats oder nach den Art. 73 f., Art. 77 f. VO (EWG) 1408/71 geschuldet werden. Danach ruht in Höhe des Anspruchs auf niederländische Familienleistung der deutsche Kindergeldanspruch. Die Klägerin hat lediglich einen Anspruch auf die Differenz zum deutschen Kindergeldanspruch in Höhe von 69,90 € monatlich.

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Finanzgericht Münster, Urteil vom 30. April 2009 – 11 K 998/06 Kg

  1. vgl. FG Köln, Urteil vom 25. September 2008 10 K 4830/05 EFG 2009, 269 und auch Niedersächsisches Finanzgericht, Urteil vom 24. Januar 2008 1 K 83/07, Entscheidungen der Finanzgerichte – EFG – 2008, 1570[]
  2. EuGH, Urteil vom 20. Mai 2008 – C–352/06[]
  3. Verordnung (EWG) Nummer 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in ihrer durch die Verordnung (EWG)-Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 geänderten und aktualisierten Fassung, diese wiederum durch die Verordnung (EG) Nr. 647/2005 des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 13. April 2005[]
  4. vgl. EuGH, Urteil vom 12. Juni 1986, 302/84, Slg. 1986, 1821, Rdnrn. 19 und 20[]
  5. vgl. EuGH, Urteil vom 12. Juni 1986 302/84 a.a.O. Rdnr. 23[]
  6. s. EuGH, Urteil vom 20. Mai 2008 – C-352/06[][]
  7. vgl. EuGH, Urteil vom 9. November 2006, Nemec, C–205/05, Slg 2006, I–10745, Rdnrn. 37 und 38[]
  8. a.A. BZSt 06.05.2009, St II 2 – FG 2020 – 13/08[]
  9. s. BVerfG, Vorlagebeschluss vom 8. Juni 2004 2 BvL 5/00 BVerfGE 110, 412, BGBl I 2004, 2570 dort Rz. 13, 16 und 23, wobei das BVerfG davon ausging, dass ein Anspruch auf Differenzkindergeld nicht bestehe, weil ausschließlich das Beschäftigungslandprinzip des Art 13 VO (EWG) 1408/71 zur Anwendung komme, a.A aber EuGH, Urteil vom 20. Mai 2008 C-352/06 a.a.O.[]
  10. EuGH (Große Kammer), Urteil vom 7. Juni 2005, – C-543/03 (Dodl und Oberhollenzer), Sammlung 2005 I, Rand Nr. 58[]
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