Differenzkindergeld für deutsch-niederländischen Grenzgänger

Einem in den Niederlanden beschäftigten und dort sozialversicherten, aber in Deutschland wohnhaften Arbeitnehmer steht für seine ebenfalls in Deutschland lebenden Kinder kein Anspruch auf Differenzkindergeld zu.

Differenzkindergeld für deutsch-niederländischen Grenzgänger

Der Grenzgänger, wohnhaft gemäß § 8 AO im Inland, ist zwar anspruchsberechtigt nach § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a EStG. Die minderjährigen Kinder des Grenzgängers sind gemäß § 63 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 32 Abs. 1 EStG steuerlich berücksichtigungsfähig. Der tatbestandsmäßig dem Grunde nach vorliegende inländische Kindergeldanspruch wird hier auch nicht durch das europäische Gemeinschaftsrecht ausgeschlossen.

Zwar unterfällt das Kindergeld dem sachlichen Geltungsbereich der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern. Beim Kindergeld handelt es sich um eine Familienleistung i. S. von Art. 4 Abs. 1 Buchst. h dieser Verordnung1. Deren Art. 13 ff. bestimmen, welche Rechtsvorschriften auf innerhalb der Europäischen Union zu- und abwandernde Erwerbstätige anzuwenden sind. Die Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 bezwecken damit, dass die Betroffenen grundsätzlich nur dem System der sozialen Sicherheit eines einzigen Mitgliedstaats unterliegen, um eine Kumulierung anwendbarer Rechtsvorschriften und der sich daraus möglicherweise ergebenden Schwierigkeiten zu vermeiden2.

Der Grenzgänger unterliegt jedoch nicht dem persönlichen Geltungsbereich der Verordnung. Der abhängig beschäftigte Grenzgänger ist nicht Arbeitnehmer im Sinne von Art. 2 der VO Nr. 1408/71. Gemäß Anhang I Teil I Abschnitt D Buchst. a der VO Nr. 1408/71 gilt, wenn ein deutscher Träger für die Gewährung der Familienleistungen zuständig ist, derjenige als Arbeitnehmer, wer für den Fall der Arbeitslosigkeit pflichtversichert ist. Diesen Anforderungen genügt der Grenzgänger hier nicht. Vorliegend war der Grenzgänger im streitigen Zeitraum nicht im Inland, sondern in den Niederlanden sozialversichert.

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Teilweise wird die Ansicht vertreten, dass die Regelung in Anhang I Teil I den allgemeinen persönlichen Anwendungsbereich der VO Nr. 1408/71 ausschließt. Besteht keine inländische Sozialversicherungspflicht, ergibt sich nach dieser Auffassung bereits daraus die Anwendung des deutschen Kindergeldrechts; mangels Anwendbarkeit der VO kommt ein Ausschluss des inländischen Kindergeldanspruchs nicht in Betracht3. Folgt man dieser Ansicht, beurteilt sich die vorliegende Klage nach deutschem Kindergeldrecht.

Teilweise wird dagegen die Auffassung vertreten, dass die Vorschrift in Anhang I Teil I lediglich eine Einschränkung ihres persönlichen Anwendungsbereichs hinsichtlich der Familienleistungen darstelle und insoweit die Frage, welche Rechtsvorschriften nach den Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 anzuwenden sind, vorrangig zu prüfen sei4. Diese Ansicht kommt hier für den vorliegenden Sachverhalt zu der Anwendbarkeit niederländischen Rechts, sodass der geltend gemachte inländische Anspruch nicht zuerkannt werden kann. Denn nach Art. 13 Abs. 2 Buchstabe a) der VO Nr. 1408/71 gilt bei Nichtselbständigen das Recht des Beschäftigungsstaates.

Nach abweichender Auffassung ist indes der Anwendungsbereich der VO bereits dann eröffnet, wenn der Antragsteller überhaupt – sei es in Deutschland oder im Ausland – der Sozialversicherung angehört hat. Er unterliegt dann gemäß dem Ausschließlichkeitsgrundsatz in Art. 13 Abs. 1 Satz 1 VO den Rechtsvorschriften desjenigen Mitgliedstaates, dessen System der sozialen Sicherheit er angehört5. Nach diesen Grundsätzen unterläge der Grenzgänger ebenfalls niederländischem Recht, so dass der geltend gemachte Anspruch auf deutsches Kindergeld bereits aus diesem Grund nicht in Betracht käme – auch nicht aus den Gründen des Urteils des EuGH in der Rechtssache Bosmann6.

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Nach den beiden vorstehend zuletzt dargelegten Rechtsansichten wäre die Klage somit bei bestehender Sozialversicherungspflicht des Grenzgängers in den Niederlanden bereits deshalb unbegründet, weil nicht – wie beantragt – deutsches Kindergeldrecht zur Anwendung käme, sondern niederländisches Recht maßgebend wäre. Aber auch soweit nach den o. a. Rechtsansichten deutsches Kindergeldrecht zugrundezulegen ist, führt die Klage nicht zum Erfolg. Denn bei fehlender Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts (sondern deutschen Rechts) beurteilt sich die Kollision zwischen inländischem Kindergeldanspruch und Anspruch auf niederländische Familienleistungen nach der Vorschrift des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG. Danach wird Kindergeld nicht gezahlt, wenn für das Kind im Ausland dem Kindergeld vergleichbare Leistungen gewährt werden oder bei entsprechender Antragstellung hätten gewährt werden müssen.

Die Voraussetzungen von § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG liegen im Streitfall vor. Denn derartige Leistungen (niederländische Familienleistungen) hat vorliegend der Grenzgänger im streitigen Zeitraum bezogen. Diese Zahlung schließt – so bereits der Wortlaut des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG – den deutschen Kindergeldanspruch insgesamt aus.

Die Familienleistungen in den Niederlanden sind mit den deutschen Kindergeldansprüchen vergleichbar i. S. von § 65 EStG. Dem steht insbesondere nicht entgegen, dass diese Leistungen geringer sind als das deutsche Kindergeld. Die Vergleichbarkeit mehrerer kindbezogener Leistungen richtet sich nicht nach der rechtlichen Ausgestaltung des Anspruchs, sondern nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Zur Vermeidung von Doppelleistungen kommt es lediglich darauf an, ob die zu vergleichende Leistung wirtschaftlich die gleiche Zielrichtung verfolgt wie das Kindergeld7. Die Höhe der ausländischen Leistung ist für die Vergleichbarkeit mit dem Kindergeld grundsätzlich nicht maßgebend. Denkbar ist zwar, dass bei ganz geringfügigen ausländischen Leistungen auch die funktionelle Vergleichbarkeit entfällt8.

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Gemeinschaftsrechtliche Vorschriften stehen der nationalen Regelung des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG nach Ansicht des Finanzgerichts Düsseldorf nicht entgegen. Außerhalb des Anwendungsvorrangs des Gemeinschafts- bzw. Unionsrechts hat ein nach der VO Nr. 1408/71 gerade nicht zuständiger Mitgliedstaat die Befugnis zu bestimmen, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen er in diesem Fall Familienleistungen gewähren will; ebenso muss er entscheiden dürfen, ob und wie er berücksichtigen will, dass in einem anderen Staat ein Anspruch auf eine vergleichbare Leistung besteht. Weil für den nicht zuständigen Staat (hier: die Bundesrepublik) im Hinblick auf den Grundsatz der Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 39 EG (jetzt Art. 45 AEUV) schon keine Verpflichtung besteht, in einem solchen Fall überhaupt Familienleistungen zu gewähren, liegt in § 65 EStG kein Verstoß gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Der Anwendung des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG stehen vorliegend auch keine gemeinschafts- bzw. unionsrechtlichen Diskriminierungsverbote entgegen (vgl. BFH in seiner – noch anhängigen – EuGH-Vorlage vom 21. Oktober 2010 III R 5/09, BFHE 231, 183, BFH/NV 2011, 360).

Einen Verstoß der Regelung des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG gegen das Grundgesetz vermag das Finanzgericht Düsseldorf ebenfalls nicht zu erkennen.

Eine verfassungswidrige Ungleichbehandlung durch die Bestimmung des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG besteht nach Ansicht des Finanzgerichts Düsseldorf auch nicht zwischen den Besserverdienenden, bei denen die gebotene steuerliche Freistellung für ein Kind im Rahmen des Familienleistungsausgleichs nach § 31 EStG regelmäßig über die Gewährung der Kinderfreibeträge erfolgt, und den geringer Verdienenden, deren Freistellung in der Regel über das Kindergeld vorgenommen wird. Zwar werden für die erste Gruppe von Steuerpflichtigen die ausländischen Leistungen gemäß § 31 Satz 6 EStG lediglich angerechnet, während bei der Festsetzung von Kindergeld die vergleichbaren ausländischen Leistungen nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG zur gänzlichen Versagung des inländischen Anspruchs führen können. Im Rahmen des Familienleistungsausgleichs indes ist der „Anspruch auf Kindergeld“ maßgebend und sind die ausländischen Leistungen gemäß § 31 Satz 5 EStG in die Vergleichsrechnung betr. Anspruch auf Kindergeld einerseits und Auswirkung der Freibeträge andererseits einzubeziehen9. In Fällen mit vorliegender Fallkonstellation wäre einerseits im Hinblick auf die Regelung des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ein Anspruch auf Kindergeld (ggf. in voller Höhe) zu verneinen. Da zugleich die ausländischen Familienleistungen eine nur geringere Höhe aufweisen, ergäbe die Vergleichsrechnung nach § 31 Satz 4 EStG typischerweise, dass auch einem geringer verdienenden Steuerpflichtigen der Kinderfreibetrag zu gewähren wäre und somit die geltend gemachte Ungleichbehandlung mit Besserverdienenden bereits aus diesem Grunde ausschiede. Somit wird dem verfassungsrechtlichen Gebot, einen Einkommensbetrag in Höhe des Existenzminimums eines Kindes steuerlich frei zu stellen, im Rahmen der sog. Günstigerprüfung gemäß § 65 Absatz 1 EStG i.V.m. § 31 Satz 4 und 5 EStG Rechnung getragen; die Regelung des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ist sachlich gerechtfertigt. Nach dieser gesetzlichen Konzeption der §§ 31, 65 EStG entscheidet erst und nur die Höhe des Kinderfreibetrages endgültig darüber, ob den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Verschonung des Existenzminimums der Kinder genügt wird; die Funktion des Kindergeldes beschränkt sich insofern auf eine als vorläufiger „Abschlag“ wirkende Steuervergütung10.

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Etwaige Benachteiligungen von Grenzgängern gegenüber uneingeschränkt Kindergeldberechtigten sind zudem aufgrund der anderweitigen Leistung und der Praktikabilitätsanforderungen an Kollisionsregeln bei grenzüberschreitenden Sachverhalten gerechtfertigt. Zu dem Aspekt der anderweitigen sozialen Absicherung (im Ausland) treten Gründe der Einfachheit des Rechts und dessen Praktikabilität im Verwaltungsvollzug, die die Kollisionsnorm des § 65 EStG ebenfalls rechtfertigen11.

Finanzgericht Düsseldorf, Urteil vom 13. Juli 2011 – 15 K 1899/10 Kg

  1. BVerfG, Urteil vom 08.06.2004 – 2 BvL 5/00, BVerfGE 110, 412, BGBl I 2004, 2570[]
  2. EuGH, Urteile vom 20.05.2008 – C–352/06 [Bosmann], HFR 2008, 877; und vom 14.10. 2010 – C-16/09 [Schwemmer], ABL.EU 2010, Nr. C 346, 8 Rz. 40; BFH, Urteil vom 07.04.2011 – III R 89/08[]
  3. Hess. FG, Urteil vom 23.05.2007 – 3 K 3143/06, EFG 2007, 1527; FG Köln, Urteil vom 21.01.2009 – 14 K 2020/08, EFG 2009, 848; FG Münster, Urteil vom 30.11.2009 – 8 K 2866/08 Kg, EFG 2010, 731; FG Düsseldorf, Urteil vom 11.01.2010 – 7 K 4616/08 Kg, Rev. BFH III R 83/10; FG Baden-Württemberg, Urteile vom 18.11.2008 – 4 K 4293/08, Rev. BFH III R 96/08; und vom 31.01.2011 – 12 K 928/07, Rev. BFH III R 10/11; vgl. auch BFH, Urteil vom 13.08.2002 – VIII R 54/00, BFHE 200, 204, BStBl II 2002, 869[]
  4. FG Düsseldorf, Urteile vom 22.12.2008 – 10 K 404/08 Kg, EFG 2009, 497, Rev. BFH III R 5/09; vom 16.03.2010 – 10 K 1829/09 Kg, Rev. BFH III R 27/10; und vom 27.04.2010 – 10 K 3402/08 Kg, Rev. BFH III R 38/10[]
  5. FG Düsseldorf, Urteil vom 24.09.2010 – 16 K 4953/08 Kg, Rev. BFH III R 61/10; vom 05.10.2010 – 16 K 3718/08 Kg[]
  6. EuGH, Urteil vom 20.05.2008 – C–352/06, HFR 2008, 877; keine Anwendungsbestimmung zugunsten des nationalen Rechts, vgl. hierzu im einzelnen FG Düsseldorf, Urteile vom 27.04.2010 – 10 K 3402/08 Kg Rev. BFH III R 38/10; und vom 24.09.2010 – 16 K 4953/08 Kg, Rev. BFH III R 61/10[]
  7. vgl. BFH, Urteil vom 27.10.2004 – VIII R 104/01, BFH/NV 2005, 341[]
  8. BVerfG, Beschluss vom 08.06.2004 – 2 BvL 5/00, BVerfGE 110, 412, BGBl I 2004, 2570). Dies ist jedoch bei den niederländischen Familienleistungen (rund 60 €) nicht der Fall (vgl. zu den noch deutlich geringeren polnischen Familienleistungen: FG Düsseldorf, Urteile vom 11.01.2010 – 7 K 4616/08 Kg, Rev. BFH III R 83/10; und vom 01.02.2011 – 10 K 1723/08 Kg; FG Baden-Württemberg, Urteil vom 14.02.2011 – 10 K 91/10[]
  9. vgl. hierzu Kanzler in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG, § 31 Rdn. 36 ff.; Dürr in Frotscher, EStG, § 31 Rdn. 47 ff.; Selder in Blümich, EStG, § 31 Rdn. 100 f.[]
  10. BVerfG, Beschluss vom 08.06.2004 – 2 BvL 5/00, BVerfGE 110, 412, BGBl I 2004, 2570; vgl. auch FG Baden-Württemberg, Urteil vom 18.11.2008 – 4 K 4293/08, EFG 2009, 264[]
  11. BVerfG, Beschluss vom 08.06.2004 – 2 BvL 5/00, BVerfGE 110, 412, BGBl I 2004, 2570[]
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