Für die Wahrung der Festsetzungsfrist ist gemäß § 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AO derjenige Zeitpunkt maßgeblich, in dem der Steuerbescheid den Bereich der für die Steuerfestsetzung zuständigen Finanzbehörde verlassen hat. Auf den Zeitpunkt, in dem eine Steuererklärung bei der Finanzbehörde eingereicht wurde, kommt es nicht an.

Die Abgabe einer gesetzlich vorgeschriebenen Steuer- oder Feststellungserklärung ist nicht als Antrag i.S. des § 171 Abs. 3 AO anzusehen (Bestätigung der ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung). Dies gilt auch dann, wenn in einem Begleitschreiben zu der gesetzlich vorgeschriebenen Steuererklärung von einem „Antrag auf Veranlagung“ die Rede ist.
Eine Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 3a AO tritt nicht ein, wenn der Erlass eines (begünstigenden) Steuerbescheids erst nach Ablauf der Festsetzungsfrist abgelehnt und dieser Ablehnungsbescheid angefochten wird (Bestätigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung).
Bei einer Antragsveranlagung nach § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG ist die Anlaufhemmung des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO nicht anwendbar, sodass die Festsetzungsfrist gemäß § 170 Abs. 1 AO mit Ablauf des Kalenderjahrs, in dem die Steuer entstanden ist, beginnt.
Nach den Grundsätzen von Treu und Glauben kann nicht erwartet werden, dass der Steuerbescheid noch innerhalb der Festsetzungsfrist den Bereich der Finanzbehörde verlässt, wenn die Steuererklärung erst einen Tag vor Ablauf der Festsetzungsfrist beim Finanzamt eingereicht wird.
Nach § 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AO ist für die Wahrung der Festsetzungsfrist derjenige Zeitpunkt maßgeblich, zu dem der Steuerbescheid den Bereich der für die Steuerfestsetzung zuständigen Finanzbehörde verlassen hat. Diese Norm hat das hier erstinstanzlich tätige Hessische Finanzgericht in seinem Urteil1 nicht erwähnt und demzufolge auch nicht geprüft. Es hat stattdessen -ohne Angabe einer Rechtsgrundlage- auf den Zeitpunkt der Einreichung der Steuererklärung abgestellt, auf den es aber nach der klaren gesetzlichen Regelung nicht ankommt.
Sollten im Streitfall die Voraussetzungen des § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG erfüllt sein, dann wäre der Kläger nach § 25 Abs. 3 EStG und § 56 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung zur Abgabe einer Einkommensteuererklärung für 2012 verpflichtet gewesen. Demzufolge würde sich der Beginn der Festsetzungsfrist nach § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO richten. Danach beginnt die Festsetzungsfrist in Fällen, in denen eine Steuererklärung einzureichen ist, mit Ablauf des Kalenderjahrs, in dem die Steuererklärung eingereicht wird, spätestens jedoch mit Ablauf des dritten Kalenderjahrs, das auf das Kalenderjahr folgt, in dem die Steuer entstanden ist. Da der Kläger innerhalb der dreijährigen Frist zunächst keine Steuererklärung eingereicht hat und die Einkommensteuer 2012 gemäß § 36 Abs. 1 EStG mit Ablauf des Veranlagungszeitraums 2012 entstanden ist, begann die Festsetzungsfrist unter Berücksichtigung der dreijährigen Anlaufhemmung mit Ablauf des Veranlagungszeitraums 2015 (31.12.2015). Die gemäß § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO vierjährige Festsetzungsfrist -Anhaltspunkte für eine Anwendung der verlängerten Fristen des § 169 Abs. 2 Satz 2 AO sind im vorliegenden Fall nicht ersichtlich- endete damit am 31.12.2019.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte der Kläger zwar seine Einkommensteuererklärung 2012 beim Finanzamt eingereicht. Hierauf kommt es jedoch entgegen der Rechtsauffassung des Finanzgericht nicht an. Vielmehr hätte zur Wahrung der Festsetzungsfrist der Einkommensteuerbescheid 2012 den Bereich des Finanzamtes verlassen müssen (§ 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AO). Dies ist nicht geschehen. Die reguläre Festsetzungsfrist ist daher am 31.12.2019 abgelaufen.
Die -vom Finanzgericht ebenfalls nicht erwähnte- Ablaufhemmung des § 171 Abs. 3 AO ist im Streitfall nicht anwendbar. Nach dieser Regelung läuft die Festsetzungsfrist insoweit nicht ab, bevor unanfechtbar über einen vor Ablauf der Festsetzungsfrist außerhalb eines Einspruchs- oder Klageverfahrens gestellten Antrag auf Steuerfestsetzung entschieden ist.
Die Abgabe einer gesetzlich vorgeschriebenen Steuer- oder Feststellungserklärung ist nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung allerdings nicht als Antrag i.S. des § 171 Abs. 3 AO anzusehen2.
Zur Begründung hat der Bundesfinanzhof in den vorstehend zitierten Entscheidungen ausgeführt, „Antrag“ im Sinne der genannten Norm seien nur solche Willensbekundungen, die ein Tätigwerden der Finanzbehörde außerhalb des infolge der Amtsmaxime ohnehin gebotenen Verwaltungshandelns auslösen sollten. Die Abgabe einer Steuererklärung, zu der der Erklärende gesetzlich verpflichtet sei, erfolge aber in Erfüllung der allgemeinen Mitwirkungspflicht des Steuerpflichtigen und diene nur der Durchführung der regulären Steuerfestsetzungstätigkeit der Finanzbehörde, die diese auch ohne Erklärungsabgabe -wenn auch unter erschwerten Bedingungen- vorzunehmen hätte. Die Auswirkungen des Einreichungszeitpunkts auf die Festsetzungsfrist seien abschließend durch die Anlaufhemmung des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO geregelt. Wäre mit der Gegenauffassung auch für Zwecke des § 171 Abs. 3 AO auf den Zeitpunkt der Einreichung der Steuererklärung abzustellen, müsste derjenige, der seiner Erklärungspflicht nachkomme, während einer vergleichsweise langen Zeitspanne mit einer Steuerfestsetzung rechnen, während derjenige, der seine Erklärungspflicht verletze, früher in den Genuss der Festsetzungsverjährung käme. Dies wäre mit dem Gebot der materiellen Steuergerechtigkeit unvereinbar.
Nichts anderes ergibt sich daraus, dass der Kläger in einem Begleitschreiben zu seiner Einkommensteuererklärung 2012 ausgeführt hat, er stelle einen „Antrag auf Einkommensteuer-Veranlagung“. Denn solche Begleitschreiben sind nach der Bundesfinanzhof-Rechtsprechung als rein deklaratorisch anzusehen, sodass ihnen keinerlei selbstständige Wirkung neben der Steuererklärung zukommt3. Angaben in einem neben oder zeitlich vor der Steuererklärung eingereichten gesonderten Schreiben sind nur dann als „Antrag“ zu verstehen, wenn sie über die bloße Ankündigung einer Steuererklärung mit einem bestimmten Gesamtbetrag der Einkünfte hinausgehen4. Dies ist hier nicht der Fall.
Auch die weiteren Einwendungen des Klägers stehen der Auffassung des Bundesfinanzhofs nicht entgegen.
Das Urteil des Finanzgericht Düsseldorf vom 23.02.20215, auf das der Kläger sich beruft, betrifft die -mit dem Streitfall nicht vergleichbare- Fallgestaltung, dass innerhalb der Festsetzungsfrist bereits ein (Schätzungs-)Bescheid ergangen war und der Steuerpflichtige anschließend die Steuererklärung einreicht.
Aus der Kommentierung von Webel6 kann der Kläger nichts ihm Günstiges herleiten, da in der vom Kläger zitierten Kommentarstelle insoweit lediglich der Wortlaut des § 171 Abs. 3 AO wiederholt wird, ohne eine Aussage zu der vorliegend entscheidungserheblichen Frage zu treffen7. Im Übrigen wäre die vom Kläger vertretene Auffassung, ein Antrag, der einer Verpflichtungsklage vorausgehe, löse stets die Ablaufhemmung aus, mit der vorstehend unter aa angeführten ständigen BFH-Rechtsprechung nicht vereinbar, da die Steuerpflichtigen in allen dortigen Fällen eine Verpflichtungsklage erhoben haben bzw. hätten erheben können, der Bundesfinanzhof aber gleichwohl keinen Antrag i.S. des § 171 Abs. 3 AO angenommen hat.
Diejenigen Entscheidungen, die der Kläger als „Fortentwicklung der Rechtsprechung zu § 171 Abs. 3 AO“ ansieht8, betreffen insoweit jeweils andere Sachverhalte als den Streitfall und lassen den allgemeinen Grundsatz, dass die Einreichung gesetzlich vorgeschriebener Steuererklärungen nicht als „Antrag“ im Sinne der genannten Norm anzusehen ist, unberührt.
Auch aus § 171 Abs. 3a AO ergibt sich vorliegend keine Ablaufhemmung. Danach läuft, wenn ein Steuerbescheid mit einem Einspruch oder einer Klage angefochten wird, die Festsetzungsfrist nicht ab, bevor über den Rechtsbehelf unanfechtbar entschieden ist; dies gilt auch, wenn der Rechtsbehelf erst nach Ablauf der Festsetzungsfrist eingelegt wird.
Zwar weist der Kläger im Ausgangspunkt zutreffend darauf hin, dass es sich gemäß § 155 Abs. 1 Satz 3 AO auch bei einem Ablehnungsbescheid um einen Steuerbescheid i.S. des § 171 Abs. 3a AO handelt. Allerdings tritt die Ablaufhemmung nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht ein, wenn der Erlass eines (begünstigenden) Steuerbescheids erst nach Ablauf der Festsetzungsfrist abgelehnt wird und dieser Ablehnungsbescheid angefochten wird9. Vorliegend hat das Finanzamt die Veranlagung des Klägers zur Einkommensteuer 2012 erst am 21.01.2020 -und damit nach Ablauf der Festsetzungsfrist- abgelehnt; § 171 Abs. 3a AO ist damit nicht anwendbar.
Sollte sich hingegen im Streitfall ein Veranlagungsgrund nicht aus § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG, sondern aus § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG ergeben, wäre die Festsetzungsfrist bereits am 31.12.2016 abgelaufen. Da der Kläger in diesem Fall nicht zur Abgabe einer Einkommensteuererklärung verpflichtet gewesen wäre, würde sich der Beginn der Festsetzungsfrist nicht nach § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO, sondern nach § 170 Abs. 1 AO richten10. Die Festsetzungsfrist hätte dann mit Ablauf des Kalenderjahrs begonnen, in dem die Steuer entstanden ist, also am 31.12.2012. Die vierjährige Festsetzungsfrist hätte damit bereits am 31.12.2016 geendet.
Aus den Grundsätzen von Treu und Glauben folgt kein Anspruch des Klägers, trotz des Ablaufs der Festsetzungsfrist für 2012 noch veranlagt zu werden.
Das Finanzamt hat mit keiner einzigen Äußerung zu erkennen gegeben, den Kläger für den Fall, dass einer der Pflichtveranlagungstatbestände des § 46 Abs. 2 Nr. 1 bis 7 EStG erfüllt sein sollte, „gerne“ veranlagen zu wollen. Es hat vielmehr bis zur Einreichung der Revisionsbegründung durchgängig die Auffassung vertreten, keiner der gesetzlichen Pflichtveranlagungstatbestände sei erfüllt; im Übrigen sei die Festsetzungsfrist abgelaufen. Auch der Kläger benennt keine konkrete Äußerung des Finanzamtes, auf die er das von ihm behauptete dispositionsauslösende Vertrauen hätte stützen können.
Wenn ein Steuerpflichtiger es unterlässt, noch innerhalb der Festsetzungsfrist einen Untätigkeitseinspruch einzulegen -was allerdings gemäß § 347 Abs. 1 Satz 2 AO voraussetzt, dass die Finanzbehörde ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes nicht innerhalb angemessener Frist sachlich entschieden hat; dies war hier zwischen der Einreichung der Steuererklärung am 30.12.2019 und dem Ablauf der Festsetzungsfrist am 31.12.2019 ersichtlich nicht der Fall-, kann er sich nicht anschließend auf Treu und Glauben berufen11. Auf ein Verhalten, das das Finanzamt erst nach Ablauf der Festsetzungsfrist zeigt, kommt es in derartigen Fällen ohnehin nicht an12.
Auch kann nach Treu und Glauben nicht erwartet werden, dass der Steuerbescheid noch innerhalb der Festsetzungsfrist den Bereich des Finanzamtes verlässt, wenn die Steuererklärung erst einen Tag vor dem Ablauf der Festsetzungsfrist beim Finanzamt eingereicht wird13.
Daher kann offenbleiben, ob der Grundsatz von Treu und Glauben überhaupt geeignet ist, einen wegen des Eintritts der Festsetzungsverjährung bereits erloschenen Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis wieder aufleben zu lassen14.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 28. Juli 2021 – X R 35/20
- Hess. FG, Urteil vom 27.10.2020 – 11 K 513/20[↩]
- grundlegend und mit ausführlicher Begründung BFH, Urteile vom 18.06.1991 – VIII R 54/89, BFHE 165, 445, BStBl II 1992, 124, unter 1.; und vom 23.09.2020 – XI R 1/19, BFHE 271, 1, BStBl II 2021, 341, Rz 27 ff.; ferner BFH, Urteile vom 24.05.2006 – I R 9/05, BFH/NV 2006, 2019, unter II. 2.e cc bbb cccc; vom 15.05.2013 – IX R 5/11, BFHE 241, 310, BStBl II 2014, 143, Rz 21; vom 28.08.2014 – V R 8/14, BFHE 247, 21, BStBl II 2015, 3, Rz 10; vom 20.01.2016 – VI R 14/15, BFHE 252, 396, BStBl II 2016, 380, Rz 15; vom 30.03.2017 – VI R 43/15, BFHE 257, 333, BStBl II 2017, 1046, Rz 27[↩]
- BFH, Entscheidungen vom 23.09.2002 – V B 48/02, BFH/NV 2003, 141, unter II.b; vom 08.09.2003 – VI B 87/03, BFH/NV 2004, 9, und in BFHE 241, 310, BStBl II 2014, 143, Rz 23[↩]
- ausführlich BFH, Urteil in BFHE 271, 1, BStBl II 2021, 341, Rz 45 ff.[↩]
- FG Düsseldorf, Urteil vom 23.02.2021 – 10 K 3480/18, EFG 2021, 708, Nichtzulassungsbeschwerde anhängig. BFH – IV B 16/21[↩]
- Webel, in Zugmaier/Nöcker, Abgabenordnung Kommentar Online, § 171 AO Rz 55[↩]
- vgl. aber Rz 51 der angeführten Kommentierung, in der die ständige BFH-Rechtsprechung zustimmend dargestellt wird[↩]
- BFH, Urteile vom 24.06.2008 – IX R 64/06, BFH/NV 2008, 1676; vom 24.05.2006 – I R 93/05, BFHE 214, 7, BStBl II 2007, 76, und in BFHE 271, 1, BStBl II 2021, 341[↩]
- so auch BFH, Urteil vom 29.06.2011 – IX R 38/10, BFHE 233, 326, BStBl II 2011, 963, Rz 11 zum Ablauf einer Feststellungsfrist[↩]
- BFH, Urteile vom 14.04.2011 – VI R 53/10, BFHE 233, 311, BStBl II 2011, 746; und vom 17.01.2013 – VI R 32/12, BFHE 240, 131, BStBl II 2013, 439, Rz 17[↩]
- so zu einem insoweit vergleichbaren Fall BFH, Urteil vom 22.01.2013 – IX R 1/12, BFHE 239, 385, BStBl II 2013, 663, Rz 13 ff.[↩]
- zutreffend BFH, Urteil in BFHE 239, 385, BStBl II 2013, 663, Rz 21[↩]
- so zu einem insoweit identischen Fall BFH, Urteil vom 25.05.2011 – IX R 36/10, BFHE 233, 314, BStBl II 2011, 807, Rz 16[↩]
- verneinend BFH, Urteil vom 19.08.1999 – III R 57/98, BFHE 191, 198, BStBl II 2000, 330[↩]