Wissenschaftlich nicht anerkannt i.S. des § 64 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. f EStDV i.d.F. des StVereinfG 2011 ist eine Behandlungsmethode dann, wenn Qualität und Wirksamkeit nicht dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen. Die Feststellung, ob eine Behandlungsmethode wissenschaftlich nicht anerkannt ist, obliegt dem Finanzgericht als Tatsacheninstanz.

Dieser Entscheidung des Bundesfinanzhofs lag der Fall einer Patientin zugrunde, der die Behandlungskosten für die operative Behandlung eines Lipödems mittels Liposuktion („Fettabsaugung“) als außergewöhnliche Belastungen nach § 33 EStG geltend machte. Das Finanzgericht versagte diesen Abzug, der Bundesfinanzhof hob diese Entscheidung auf und verwies den Rechtsstreit zurück an das Finanzgericht:
Nach § 33 EStG wird die Einkommensteuer auf Antrag ermäßigt, wenn einem Steuerpflichtigen zwangsläufig größere Aufwendungen als der überwiegenden Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse und gleichen Familienstands (außergewöhnliche Belastung) erwachsen. Zwangsläufig erwachsen dem Steuerpflichtigen Aufwendungen dann, wenn er sich ihnen aus rechtlichen, tatsächlichen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann und soweit die Aufwendungen den Umständen nach notwendig sind und einen angemessenen Betrag nicht übersteigen (§ 33 Abs. 2 Satz 1 EStG). Ziel des § 33 EStG ist es, zwangsläufige Mehraufwendungen für den existenznotwendigen Grundbedarf zu berücksichtigen, die sich wegen ihrer Außergewöhnlichkeit einer pauschalen Erfassung in allgemeinen Freibeträgen entziehen. Aus dem Anwendungsbereich des § 33 EStG ausgeschlossen sind dagegen die üblichen Aufwendungen der Lebensführung, die in Höhe des Existenzminimums durch den Grundfreibetrag abgegolten sind [1].
In ständiger Rechtsprechung geht der Bundesfinanzhof davon aus, dass Krankheitskosten ‑ohne Rücksicht auf die Art und die Ursache der Erkrankung- dem Steuerpflichtigen aus tatsächlichen Gründen zwangsläufig erwachsen. Allerdings werden nur solche Aufwendungen als Krankheitskosten berücksichtigt, die zum Zwecke der Heilung einer Krankheit (z.B. Medikamente, Operation) oder mit dem Ziel getätigt werden, die Krankheit erträglicher zu machen, beispielsweise Aufwendungen für einen Rollstuhl [2].
Aufwendungen für die eigentliche Heilbehandlung werden typisierend als außergewöhnliche Belastung berücksichtigt, ohne dass es im Einzelfall der nach § 33 Abs. 2 Satz 1 EStG an sich gebotenen Prüfung der Zwangsläufigkeit des Grundes und der Höhe nach bedarf [3]. Eine derart typisierende Behandlung von Krankheitskosten ist zur Vermeidung eines unzumutbaren Eindringens in die Privatsphäre geboten [4]. Dies gilt aber nur dann, wenn die Aufwendungen nach den Erkenntnissen und Erfahrungen der Heilkunde und nach den Grundsätzen eines gewissenhaften Arztes zur Heilung oder Linderung der Krankheit angezeigt (vertretbar) sind und vorgenommen werden [5], also medizinisch indiziert sind [6].
Die Zwangsläufigkeit von krankheitsbedingten Aufwendungen für Arznei, Heil- und Hilfsmittel (§§ 2, 23, 31 bis 33 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch ‑SGB V-) hat der Steuerpflichtige durch eine Verordnung eines Arztes oder Heilpraktikers nachzuweisen (§ 64 Abs. 1 Nr. 1 EStDV i.d.F. des StVereinfG 2011). In den abschließend geregelten Katalogfällen des § 64 Abs. 1 Nr. 2 EStDV i.d.F. des StVereinfG 2011 [7] ist der Nachweis der Zwangsläufigkeit durch ein vor Beginn der Heilmaßnahme oder dem Erwerb des medizinischen Hilfsmittels ausgestelltes amtsärztliches Gutachten oder eine vorherige ärztliche Bescheinigung eines medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (§ 275 SGB V) zu führen (§ 64 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 EStDV i.d.F. des StVereinfG 2011).
Ein solcher qualifizierter Nachweis ist ‑aufgrund der in § 84 Abs. 3f EStDV i.d.F. des StVereinfG 2011 angeordneten verfassungsrechtlich unbedenklichen rückwirkenden Geltung des § 64 EStDV i.d.F. des StVereinfG 2011 [8]- auch im Streitjahr bei krankheitsbedingten Aufwendungen für wissenschaftlich nicht anerkannte Behandlungsmethoden, wie z.B. Frisch- und Trockenzellenbehandlungen, Sauerstoff, Chelat- und Eigenbluttherapie (§ 64 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. f EStDV i.d.F. des StVereinfG 2011), erforderlich.
Vorliegend ist daher entscheidend, ob es sich bei der Liposuktion um eine wissenschaftlich anerkannte Methode zur Behandlung des bei der Patientin diagnostizierten Lipödems handelt.
Wissenschaftlich anerkannt ist eine Behandlungsmethode dann, wenn Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen. Dies wird angenommen, wenn „die große Mehrheit der einschlägigen Fachleute (Ärzte, Wissenschaftler)“ die Behandlungsmethode befürwortet und über die Zweckmäßigkeit der Therapie Konsens besteht. Dies setzt im Regelfall voraus, dass über Qualität und Wirksamkeit der Methode zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen gemacht werden können. Der Erfolg muss sich aus wissenschaftlich einwandfrei durchgeführten Studien über die Zahl der behandelten Fälle und die Wirksamkeit der Methode ablesen lassen. Die Therapie muss in einer für die sichere Beurteilung ausreichenden Zahl von Behandlungsfällen erfolgreich gewesen sein [9]. Ob eine Behandlungsmethode als wissenschaftlich anerkannt anzusehen ist, hat das Finanzgericht aufgrund der ihm obliegenden Würdigung der Umstände des Einzelfalls festzustellen.
Das Finanzgericht ist zu dem Ergebnis gekommen, die von der Patientin durchgeführte Liposuktion stelle keine wissenschaftlich anerkannte Behandlungsmethode dar. Es stützt diese Würdigung wesentlich auf das vorgelegte ‑negative- amtsärztliche Zeugnis. Insoweit fehlt es an einer nachvollziehbaren Ableitung der gezogenen Folgerungen aus einer tragfähigen Tatsachengrundlage.
Zwar ist die finanzrichterliche Überzeugungsbildung revisionsrechtlich nur eingeschränkt auf Verstöße gegen Denkgesetze und allgemeine Erfahrungssätze überprüfbar. Das Finanzgericht hat jedoch im Einzelnen darzulegen, wie und dass es seine Überzeugung in rechtlich zulässiger und einwandfreier Weise gewonnen hat. Die aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens zu gewinnende Würdigung des Finanzgericht ist nur dann ausreichend und für das Revisionsgericht bindend, wenn sie auf einer logischen, verstandesmäßig einsichtigen Beweiswürdigung beruht, deren nachvollziehbare Folgerungen den Denkgesetzen entsprechen und von den festgestellten Tatsachen getragen werden. Fehlt es an einer tragfähigen Tatsachengrundlage für die Folgerungen in der tatrichterlichen Entscheidung oder fehlt die nachvollziehbare Ableitung dieser Folgerungen aus den festgestellten Tatsachen und Umständen, so liegt ein Verstoß gegen die Denkgesetze vor, der als Fehler der Rechtsanwendung ohne besondere Rüge vom Revisionsgericht beanstandet werden kann [10].
Die vorgelegte amtsärztliche Bescheinigung führt zu der nach § 64 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. f EStDV i.d.F. des StVereinfG 2011 zu beurteilenden wissenschaftlichen Anerkennung lediglich aus, „die Liposuktion ist als Behandlungsmethode des vorliegenden Störungsbildes nicht anerkannt“. Dies könnte allenfalls das Ergebnis der durch das Finanzgericht vorzunehmenden Würdigung des Tatbestandsmerkmals der wissenschaftlichen Anerkennung sein. Es fehlt hingegen an Ausführungen, die dieses Ergebnis im Einzelnen stützen. Auch aus der Aussage der gesetzlichen Krankenkasse und des medizinischen Dienstes, wonach es sich bei der Liposuktion um eine unkonventionelle Behandlungsmethode handele, ergibt sich nicht die fehlende wissenschaftliche Anerkennung, denn der Begriff „unkonventionell“ sagt nichts über Qualität und Wirksamkeit der Behandlungsmethode und ihre Anerkennung in der Fachwelt aus. Da es auch im Übrigen an Feststellungen zu den unter II. 1.d aa genannten Voraussetzungen für die wissenschaftliche Anerkennung fehlt, beruht die Vorentscheidung nicht auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage.
Die Vorentscheidung war daher aufzuheben. Die Sache ist nicht spruchreif.
Im zweiten Rechtsgang wird das Finanzgericht, ausgehend von den angeführten Merkmalen, Feststellungen dazu zu treffen haben, ob es sich bei der Liposuktion um eine wissenschaftlich anerkannte Methode zur Behandlung des Krankheitsbildes der Patientin handelt.
Die erforderlichen Feststellungen hat das Finanzgericht nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffen. Fehlt dem Finanzgericht die erforderliche Sachkunde, um die Frage der wissenschaftlichen Anerkennung zu beurteilen, so ist die Einholung eines Sachverständigengutachtens angezeigt [11].
Bundesfinanzhof, Urteil vom 26. Juni 2014 – VI R 51/13
- u.a. BFH, Urteil vom 29.09.1989 – III R 129/86, BFHE 158, 380, BStBl II 1990, 418[↩]
- BFH, Urteile vom 17.07.1981 – VI R 77/78, BFHE 133, 545, BStBl II 1981, 711; vom 13.02.1987 – III R 208/81, BFHE 149, 222, BStBl II 1987, 427; und vom 20.03.1987 – III R 150/86, BFHE 149, 539, BStBl II 1987, 596[↩]
- BFH, Urteile vom 01.02.2001 – III R 22/00, BFHE 195, 144, BStBl II 2001, 543; und vom 03.12 1998 – III R 5/98, BFHE 187, 503, BStBl II 1999, 227[↩]
- BFH, Urteil in BFHE 195, 144, BStBl II 2001, 543[↩]
- vgl. BFH, Urteil vom 18.06.1997 – III R 84/96, BFHE 183, 476, BStBl II 1997, 805[↩]
- BFH, Urteil vom 19.04.2012 – VI R 74/10, BFHE 237, 156, BStBl II 2012, 577[↩]
- vgl. BFH, Urteile vom 06.02.2014 – VI R 61/12, BFHE 244, 395, BStBl II 2014, 458; und vom 26.02.2014 – VI R 27/13, BFHE 245, 18[↩]
- BFH, Urteil in BFHE 237, 156, BStBl II 2012, 577[↩]
- gleicher Auffassung BSG zu § 18 SGB V: BSG, Urteil vom 13.12 2005 B 1 KR 21/04 R, SozR 4–2500 § 18 Nr. 5 SGB V; BSG zu § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V, Urteil vom 19.02.2002 B 1 KR 16/00 R, SozR 3–2500 § 92 Nr. 12 S. 71 f.; BSG zu § 18 SGB V, Urteil vom 14.02.2001 B 1 KR 29/00 R, SozR 3–2500 § 18 Nr. 6 S. 23; BSG zu § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V, Urteil vom 21.03.2013 B 3 KR 2/12 R, SozR 4–2500 § 137c Nr. 6[↩]
- BFH, Urteile vom 11.11.2010 – VI R 16/09, BFHE 232, 34, BStBl II 2011, 966; vom 30.06.2011 – VI R 80/10, BFHE 234, 195, BStBl II 2011, 948; BFH, Urteile vom 25.05.1988 – I R 225/82, BFHE 154, 7, BStBl II 1988, 944; vom 06.02.1996 – VII R 2/95, BFH/NV 1996, 722; vom 23.08.1994 – VII R 93/93, BFH/NV 1995, 572; vom 15.02.1995 – II R 53/92, BFH/NV 1996, 18[↩]
- vgl. BFH, Urteile vom 29.03.2012 – VI R 21/11, BFHE 237, 93, BStBl II 2012, 574; in BFHE 244, 395, BStBl II 2014, 458[↩]
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