Kindergeld für behinderte volljährige Kinder und Hartz IV-Bezug

Beziehen Eltern Grundsicherungsleistungen (nach dem SGB II oder dem SGB XII) und zugleich Kindergeld für ihr (volljähriges) behindertes Kind, so kann der Grundsicherungsträger auf dieses Kindergeld nicht im Rahmen einer Abzweigung zugreifen. Damit hat das Finanzgericht Münster jetzt erste Grundsätze für die sog. Abzweigung von Kindergeld bei behinderten, im Haushalt ihrer Eltern lebenden Kindern aufgestellt. Zur Zeit prüfen viele Kommunen, die sog. Grundsicherungsleistungen für behinderte Kinder erbringen, ob sie auf das für diese Kinder gezahlte Kindergeld zugreifen können bzw. müssen. Die aktuelle Entscheidung des Finanzgerichts Münster ist – obwohl naturgemäß von den besonderen Umständen des Einzelfalles geprägt – für Betroffene daher eine erste wichtige Orientierungshilfe.

Kindergeld für behinderte volljährige Kinder und Hartz IV-Bezug

In dem jetzt vom Finanzgericht Münster entschiedenen Streitfall ging es um das Kindergeld, das eine Mutter für ihren volljährigen, schwerstbehinderten Sohn bezieht. Dieser lebt im Haushalt seiner Eltern und ist an den Werktagen in einer Behindertenwerkstatt im Arbeitsbereich tätig. Hieraus erzielt er ein geringes Werkstatteinkommen. Seine Eltern erhalten Pflegegeld der Pflegestufe III. Die Stadt zahlt an das Kind Grundsicherungsleistungen bei Erwerbsminderung. Daher war die Kommune der Meinung, dass das Kindergeld an sie – und nicht an die kindergeldberechtigte Mutter – auszuzahlen sei, und zwar unabhängig davon, ob bzw. in welcher Höhe die Eltern Aufwendungen für das Kind getragen haben. Nachdem die Familienkasse den Abzweigungsantrag der Stadt abgelehnt hatte, klagte diese vor dem Finanzgericht Münster. Die in dem Verfahren als sog. Beigeladene beteiligte kindergeldberechtigte Mutter verwies auf die von ihr getragenen Aufwendungen (z.B. für Arzneimittel, Kleidung, Urlaub etc.) sowie die von ihr erbrachten Pflegeleistungen. Sie war der Meinung, eine Auszahlung des Kindergeldes an die Stadt komme nicht in Betracht, da ihre eigenen Aufwendungen deutlich über dem an sie ausgezahlten Kindergeld liegen.

Das Finanzgericht Münster gab der Mutter Recht und lehnte eine Abzweigung des Kindergeldes an die Stadt ab. Das Gericht stellte klar, dass eine Abzweigung an die Kommune gem. § 74 Abs. 1 EStG nicht in Betracht komme, wenn kindergeldberechtigte Eltern Aufwendungen für ihr Kind tragen, die mindestens so hoch sind wie das Kindergeld. Dabei seien – anders als die Stadt meine – nicht nur solche Aufwendungen zu berücksichtigen, die den behinderungsbedingten Mehrbedarf oder das (sozialhilferechtliche) Existenzminimum deckten.

Das Finanzgericht machte deutlich, dass es bei im Haushalt der Eltern lebenden, behinderten Kindern darauf ankomme, den gesamten Lebensbedarf des Kindes zu ermitteln und diesen den eigenen Einkünften und Bezügen des Kindes gegenüber zu stellen. Nur wenn sich hier eine Deckungslücke ergebe, sei hinreichend nachvollziehbar, dass der insoweit bestehende Lebensbedarf des Kindes aus dem „gemeinsamen Topf“, in den das Einkommen der Eltern geflossen sei, gedeckt wurde.

Das Finanzgericht Münster stellte zudem klar, dass die Berücksichtigung fiktiver Kinderbetreuungskosten ausgeschlossen sei. Aufwendungen z.B. für Ernährung, Körper- und Gesundheitspflege, Bekleidung, Hausrat, Freizeit oder Urlaub seien von den Eltern zu beziffern und auch glaubhaft zu machen. Dabei gelte grundsätzlich das Monatsprinzip; abweichend komme allerdings auch eine gleichmäßige Verteilung von Aufwendungen auf das Jahr oder gar auf mehrere Jahre in Betracht, wenn es um regelmäßig wiederkehrende Aufwendungen gehe.

In Bezug auf den Betreuungs- und Pflegeaufwand von kindergeldberechtigten Eltern spricht nach Auffassung des 12. Senates grundsätzlich eine tatsächliche Vermutung dafür, dass das Pflegegeld insgesamt für die Sicherstellung der häuslichen Pflege verwendet wird. Das Pflegegeld stehe demnach – so das Gericht – nicht für die Bestreitung des Grundbedarfs oder eines anderweitigen behinderungsbedingten Bedarfs des Kindes zur Verfügung. Allerdings müssten kindergeldberechtigte Eltern, die einen höheren – über dem Pflegegeld liegenden – Betreuungs- und Pflegeaufwand geltend machten, diesen konkret darlegen.

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Ausgangspunkt für die Entscheidung des Finanzgerichts ist zunächst, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Abzweigung von Kindergeld an den Grundsicherungsträger gegeben sind. Nach § 74 Abs. 1 Satz 4 i.V.m. den Sätzen 1 und 3 EStG kann das für ein Kind festgesetzte Kindergeld nach § 66 Abs. 1 EStG auch an die Person oder Stelle ausgezahlt werden, die dem Kind Unterhalt gewährt, wenn der Kindergeldberechtigte seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht nachkommt, mangels Leistungsfähigkeit nicht unterhaltspflichtig ist oder nur Unterhalt in Höhe eines Betrages zu leisten braucht, der geringer ist als das für die Auszahlung in Betracht kommende Kindergeld.

Nach § 1601 BGB sind Verwandte in gerader Linie verpflichtet, einander Unterhalt zu gewähren. Unterhaltsberechtigt ist nach § 1602 BGB aber nur, wer außerstande ist, sich selbst zu unterhalten.

Zum unterhaltsrechtlich maßgeblichen Einkommen zählen grundsätzlich sämtliche Einkünfte, die geeignet sind, den gegenwärtigen Lebensbedarf des Einkommensbeziehers sicher zu stellen. Dazu zählen auch Grundsicherungsleistungen, soweit sie nicht subsidiär sind1.

Die dem Kind gewährte Grundsicherung nach dem IV. Kapitel des SGB XII ist im Streitfall nicht subsidiär, sondern führt zu einem Erlöschen der Unterhaltsverpflichtung der Kindesmutter sowie des Kindesvaters insoweit.

Nach § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB XII bleiben Unterhaltsansprüche der Leistungsberechtigten gegenüber ihren Eltern unberücksichtigt, sofern deren jährliches Gesamteinkommen im Sinne des § 16 SGB IV unter 100.000 € liegt, wobei ein Unterschreiten der Grenze von 100.000 € gesetzlich vermutet wird (§ 43 Abs. 2 Satz 2 SGB XII).

Daher sind Grundsicherungsleistungen für volljährige behinderte Kinder nach dem IV. Kapitel des SGB XII grundsätzlich – so auch im Streifall — nicht nachrangig und mindern den unterhaltsrechtlichen Bedarf2.

Nach § 94 Abs. 1 Satz 3 Halbsatz 2 SGB XII ist – anders als z. B. bei der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem III. Kapitel SGB XII – ein gesetzlicher Übergang der Unterhaltsansprüche des Kindes gegen seine Eltern auf den Leistungsträger ausgeschlossen. Die Unterhaltspflicht der Eltern erlischt im Umfang der Grundsicherungsleistungen3.

Gleichwohl bleibt die Kindesmutter dem Grunde nach zum Unterhalt gegenüber ihrem Kind verpflichtet. Würde sie tatsächlich Barunterhalt leisten, wären die Leistungen auf die gewährte Grundsicherung anzurechnen4. Daher ist nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs in derartigen Konstellationen der Tatbestand des § 74 Abs. 1 Satz 3 Alt. 1 EStG (keine Unterhaltspflicht mangels Leistungsfähigkeit) erfüllt5.

Die Kindergeldkasse ist im Ergebnis auch zutreffend davon ausgegangen, dass die Kindesmutter im Rahmen der Betreuung und Versorgung ihres in ihrem Haushalt lebenden schwerbehinderten Kindes Aufwendungen mindestens in Höhe des Kindergeldes erbracht hat, die einer Abzweigung an die Klin im Ergebnis entgegen stehen (Ermessensreduktion auf Null).

Die Entscheidung über eine Abzweigung ist bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 74 Abs. 1 EStG dem Grunde und der Höhe nach eine Ermessensentscheidung der Familienkasse6.

Das Finanzgericht kann nach § 102 FGO nur prüfen, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten wurden und ob das Ermessen dem Gesetzeszweck entsprechend ausgeübt wurde.

Die Familienkasse hat bei der Ausübung des ihr in § 74 Abs. 1 EStG eingeräumten Ermessens den Zweck des Kindergeldes zu berücksichtigen (§ 5 AO). Das Kindergeld dient der steuerlichen Freistellung eines Einkommensbetrages in Höhe des Existenzminimums eines Kindes und, soweit es dafür nicht erforderlich ist, der Förderung der Familie (§ 31 Sätze 1 und 2 EStG).

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Kein Kindergeld wird deshalb gewährt, wenn die eigenen Einkünfte und Bezüge des Kindes den –am steuerlich zu belassenden Existenzminimum eines Erwachsenen orientierten– Jahresgrenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG übersteigen. In einem solchen Fall sind die Eltern in der Regel wirtschaftlich nicht mehr in einer Weise belastet, die eine Entlastung im Wege des Familienleistungsausgleichs erfordert7. Bei Einkünften und Bezügen des Kindes bis zur Höhe des Jahresgrenzbetrages wird dagegen typisierend eine Belastung der Eltern mit Unterhaltsaufwendungen unterstellt und daher unter den weiteren Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 EStG Kindergeld gewährt.

Hiervon abweichend hängt der Anspruch auf Kindergeld für ein volljähriges behindertes Kind davon ab, dass das Kind außerstande ist, sich selbst zu unterhalten (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG). Es wird – im Rahmen der Festsetzung von Kindergeld — typisierend davon ausgegangen, dass den Eltern Unterhaltsaufwendungen für das Kind entstehen, wenn dessen eigene finanzielle Mittel nicht seinen gesamten Lebensbedarf abdecken. Der Lebensbedarf eines behinderten Kindes besteht aus dem allgemeinen Lebensbedarf (Grundbedarf) in Höhe des Existenzminimums eines Erwachsenen, zu dem z.B. auch Kontakte zur Familie, Teilnahme am kulturellen Leben, und Erholung gehören, und dem individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf, der auch ergänzende persönliche Betreuungsleistungen der Eltern und Fahrtkosten umfasst8.

Da das Kindergeld die finanzielle Belastung der Eltern durch den Unterhalt für das Kind ausgleichen soll, hängt die Entscheidung über die Abzweigung davon ab, ob und in welcher Höhe ihnen –den Grund- und den behinderungsbedingten Mehrbedarf betreffende– Aufwendungen für das Kind entstanden sind.

Tragen die Kindeseltern keine oder nur geringe Kosten, ist eine derartige Entlastung nicht oder nur in entsprechend geringem Umfang erforderlich9.

Bei der Prüfung, ob und inwieweit das Kindergeld abzuzweigen ist, sind auch im Verhältnis zu den Kosten des Sozialleistungsträgers geringe Unterhaltsleistungen des Kindergeldberechtigten zu berücksichtigen10.

Nicht möglich ist es, im Rahmen der Ermessensentscheidung fiktive Kosten einer Betreuung des Kindes zu berücksichtigen11. Damit ist der Bundesfinanzhof der Ansicht entgegen getreten, einen „geringen bis mittleren“ Betreuungsaufwand (pauschal) mit der Hälfte des Kindergeldes zu bewerten12.

Berücksichtigt werden sollen vielmehr nur die den Eltern im Zusammenhang mit der Betreuung und dem Umgang mit dem Kind tatsächlich entstandenen und glaubhaft gemachten Aufwendungen13. Die Aufwendungen sind grundsätzlich zu beziffern. Daneben kommt ggf. eine Schätzung von Aufwendungen in Betracht14.

Bei im Haushalt des Kindergeldberechtigten lebenden volljährigen behinderten Kindern ist von einem „Wirtschaften aus einem Topf“ auszugehen. Dies bedeutet, dass die finanziellen Mittel des Kindes in eine gemeinsame Kasse mit den Eltern fließen, aus der der Lebensbedarfs des Kindes15 gedeckt wird16.

Bei einem nicht aus den eigenen finanziellen Mitteln des Kindes gedeckten Lebensbedarf kann davon ausgegangen werden, dass dieser aus den – ebenfalls in den gemeinsamen Topf fließenden – Einkünften der Eltern befriedigt wird.

Sind die den Kindeseltern monatlich entstehenden Unterhaltsaufwendungen grundsätzlich darzulegen und glaubhaft zu machen, ist es nicht ausreichend, wenn eine Abzweigungsentscheidung auf vom Kindergeldberechtigten geltend gemachte einzelne Aufwendungen gestützt wird, ohne nachvollziehen zu können, ob die aus einem gemeinsamen Wirtschaftstopf der Familie getragenen Aufwendungen wirtschaftlich vom Kindergeldberechtigten getragen wurden.

Bei im Haushalt der Eltern lebenden volljährigen behinderten Kindern ist es daher grundsätzlich geboten, den gesamten Lebensbedarf des Kindes und dessen eigenen Einkünfte und Bezüge — unter Hinzuziehung des Kindergeldberechtigten — zu ermitteln und einander gegenüber zu stellen. Nur wenn sich bei dieser Gegenüberstellung eine Deckungslücke ergibt, ist hinreichend nachvollziehbar, dass ein insoweit bestehender Lebensbedarf des Kindes aus dem in den gemeinsamen Wirtschaftstopf geflossenen Einkommen der Kindeseltern gedeckt wurde.

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Für die zeitliche Zurechnung glaubhaft gemachter Aufwendungen ist im Grundsatz nach dem Monatsprinzip zu verfahren, d. h. die Unterhaltsaufwendungen sind im Monat ihrer Entstehung zu berücksichtigen17.

Abweichend davon sind allerdings Aufwendungen, welche im Kalenderjahr wiederholt nur in einzelnen Monaten anfallen, nicht allein diesen Monaten zuzurechnen. Solche Aufwendungen sind vielmehr gleichmäßig auf das Jahr zu verteilen18.

Bei in größerem zeitlichen Abstand regelmäßig wiederkehrenden Aufwendungen (z. B. Ersatzbeschaffungen für Einrichtungsgegenstände, Hausrat (bspw. Matratzen bei einem an Inkontinenz leidenden behinderten Kind), eine behindertengerechte Umrüstung eines Pkw, etc.) wäre es ebenfalls nicht sachgerecht, diese nur dem Monat der Entstehung zuzurechnen. In diesen Fällen wird auch eine Verteilung auf ein Kalenderjahr den wirtschaftlichen Gegebenheiten häufig widersprechen. Bei solchen Aufwendungen ist eine Verteilung auf mehrere Kalenderjahre in Betracht zu ziehen. Der BGH geht bei der Abgrenzung des Sonderbedarfs des Kindes i. S. v. § 1613 Abs. 2 Nr. 1 BGB von einem durch den monatlichen Unterhalt gedeckten regelmäßigen Mehrbedarf davon aus, dass ein nicht monatlich anfallender notwendiger behinderungsbedingter Mehrbedarf, der bei einer vorausschauenden Bedarfsplanung vorhersehbar ist, auf einen angemessenen Zeitraum zu verteilen und mit einer monatlichen Durchschnittsbelastung anzusetzen ist. Dem ist der Bundesfinanzhof für die Prüfung von § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG gefolgt19. Dieser Gedanke ist auch auf die vorliegende Prüfung glaubhaft gemachter Unterhaltsaufwendungen der Eltern zu übertragen. Dabei ist es eine Frage des jeweiligen Einzelfalls, auf welchen Zeitraum solche wiederkehrenden Aufwendungen zu verteilen sind.

Nach den vorstehenden Rechtsgrundsätzen kam eine Abzweigung des Kindergeldes an die Klin in den Streitmonaten nicht in Betracht. Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens ist davon auszugehen, dass die Kindesmutter Aufwendungen für die Betreuung und Versorgung ihres Kindes getragen hat, welche den Betrag des monatlichen Kindergeldes jedenfalls erreicht haben, so dass nur eine Ablehnung der Abzweigung ermessensgerecht ist (Ermessensreduktion auf Null).

Das Finanzgericht Münster teilt die Ansicht nicht, es komme im Abzweigungsverfahren nur auf Aufwendungen der Kindeseltern an, welche den behinderungsbedingten Mehrbedarf oder das (sozialhilferechtliche) Existenzminimum betreffen.

§ 74 Abs. 1 EStG stellt tatbestandlich auf die Verletzung einer bestehenden Unterhaltspflicht (§ 74 Abs. 1 Satz 1 EStG), das Nichtbestehen einer Unterhaltspflicht des Kindergeldberechtigten mangels Leistungsfähigkeit (§ 74 Abs. 1 Satz 3 Alt. 1 EStG) bzw. auf eine den Betrag des Kindergeldes der Höhe nach nicht erreichenden Unterhaltspflicht des Kindergeldberechtigten (§ 74 Abs. 1 Satz 3 Alt. 2 EStG) ab.

Insoweit sind für das Abzweigungsverfahren die zivilrechtlichen Maßstäbe des Unterhaltsrechts (§§ 1601 ff. BGB) anzulegen, wonach der Unterhaltsanspruch dem Grunde nach den gesamten Lebensbedarf (Grundbedarf und behinderungsbedingten Mehrbedarf) im Sinne von § 1610 Abs. 2 BGB umfasst und sich der Höhe nach nicht am sozialhilferechtliche Existenzminimum orientiert, sondern durch die Leistungsfähigkeit des Unterhaltsverpflichteten (§ 1603 BGB) sowie – in Einzelfällen – durch die sog. Sättigungsgrenze20 begrenzt wird.

Dementsprechend hat die Rechtsprechung zum Abzweigungsrecht (§ 74 Abs. 1 EStG) bislang auch zu Recht nicht danach differenziert, ob Unterhaltsaufwendungen des Kindergeldberechtigten dem Grundbedarf eines schwerbehinderten Kindes oder dem behinderungsbedingten Mehrbedarf zuzurechnen sind.

Auch aus dem Nichtannahmebeschluss des Bundesverfassungsgerichts ergibt sich nichts anderes.

Der Beschluss behandelt die Frage der Anrechnung des Kindergeldes auf die dem minderjährigen Kind gewährte Sozialhilfe und damit eine mit dem vorliegenden Sachverhalt nicht vergleichbare Fallkonstellation.

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Die Anrechnung des Kindergeldes erfolgte in dem Sachverhalt, welcher dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zu Grunde lag, nach § 11 Abs. 1 Satz 3 SGB II. Danach war das Kindergeld bei minderjährigen Kindern diesen als Einkommen zuzurechnen. Auf Sachverhalte, in denen ein im Haushalt des Kindergeldberechtigten lebendes volljähriges schwerbehindertes Kind Leistungen der Grundsicherung nach dem IV. Kapitel SGB XII erhält, findet § 11 Abs. 1 Satz 3 SGB II keine Anwendung.

Die Zuordnung des Kindergeldes ist für das SGB XII in § 82 SGB XII geregelt21. § 82 Abs. 1 Satz 2 SGB XII ordnet das Kindergeld – entsprechend § 11 Abs. 1 Satz 3 SGB II — nur minderjährigen Kindern als deren Einkommen zu. Die Regelung gilt hingegen nicht für volljährige Kinder22. Insoweit ist von dem Rechtsprechungsgrundsatz auszugehen, dass Einkommen grundsätzlich immer bei demjenigen bedarfsmindernd einzusetzen ist, dem es zufließt (Zuflusstheorie). Dies ist im Fall des Kindergeldes der Kindergeldberechtigte, also im Regelfall der Elternteil, an den das Kindergeld ausgezahlt wird23. Nur im Fall der Weiterleitung an das Kind ist es als dessen Einkommen anzurechnen24. Mit der Regelung des § 82 SGB XII oder der Frage einer Anrechnung des Kindergeldes bei volljährigen Kindern hat sich das Bundesverfassungsgerichtg in dem angeführten Beschluss jedoch nicht auseinandergesetzt, so dass bereits kein grundsicherungsrechtlicher Bezug zu dem hier zu entscheidenden Sachverhalt besteht.

Aus dem Umstand, dass das Bundesverfassungsgericht unter Verweis auf § 31 EStG ausführt, dass es sich beim Kindergeld „auch nicht teilweise um eine anderen Zwecken als die Leistungen des SGB II dienende Einnahme“ handele, ergibt sich auch nicht ein Rechtssatz, dass es auf Aufwendungen der Kindeseltern, soweit sie einen über das (sozialhilferechtliche) Existenzminimum hinaus gehenden (unterhaltsrechtlichen) Lebensbedarf betreffen, im Verfahren der Abzweigung nach § 74 Abs. 1 EStG nicht zu berücksichtigen seien.

Zunächst ist zu beachten, dass das Kindergeld auch soweit es nach § 31 Satz 2 EStG der Förderung der Familie dient, keine Sozialleistung im formellen Sinn ist, sondern eine einkommensteuerrechtliche Förderung der Familie durch eine Sozialzwecknorm darstellt25, so dass eine Übertragung sozialhilferechtlicher Maßstäbe auf das Kindergeldrecht nicht unbesehen der Besonderheiten der steuergesetzlichen Regelungen erfolgen kann.

Der Tatbestand des § 74 Abs. 1 EStG geht vom Bestehen von Unterhaltspflichten nach den §§ 1601 ff. BGB aus. Bei der Prüfung der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 74 Abs. 1 EStG sind unterhaltsrechtliche Maßstäbe nach dem BGB und nicht sozialhilferechtliche Maßstäbe nach dem SGB II oder SGB XII anzulegen. Gleiches gilt im Rahmen der im Abzweigungsverfahren zu treffenden Ermessensentscheidung der Familienkasse. In deren Rahmen sind grundsätzlich sämtliche Unterhaltsaufwendungen der Eltern zur Deckung des Lebensbedarfs des Kindes im Sinne von § 1610 Abs. 2 BGB zu berücksichtigen.

Die Bemessung des Lebensbedarfs eines Kindes im Sinne von § 1610 Abs. 2 BGB orientiert sich an den Lebensverhältnissen (Einkommen und Vermögen) der Eltern, da das Kind bei fortbestehender Unterhaltspflicht nur eine abgeleitete Lebensstellung hat26. Die Leistungsfähigkeit des Unterhaltsverpflichteten hat auf die Bestimmung des objektiv bestehenden Unterhaltsbedarfs des Kindes keine Auswirkung27. Unterhaltsrechtlich ist in einem ersten Schritt die objektive Bedürfnislage des Unterhaltsberechtigten zu prüfen und erst in einem zweiten Schritt die wirtschaftliche Lage der Unterhaltsverpflichteten, dessen Leistungsfähigkeit nach § 1603 BGB28.

Als Grenze für eine Berücksichtigung von Aufwendungen des Kindergeldberechtigten im Rahmen der Abzweigungsentscheidung kann daher nicht auf das sozialhilferechtliche Existenzminimum abgestellt werden, sondern entweder auf den sich unter Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit des Kindergeldberechtigten (§ 1603 BGB) ergebenden – und ggf. einklagbaren – Unterhaltsanspruch des Kindes oder aber auf den an den Lebensverhältnissen der Eltern orientierten unterhaltsrechtlichen Lebensbedarf des Kindes im Sinne von § 1610 Abs. 2 BGB, der die Grundbedürfnisse (Ernährung, Kleidung, Wohnung, Heizung, Erholung, Freizeitgestaltung, angemessene kulturelle Bedürfnisse) sowie einen individuellen Mehrbedarf – etwa aufgrund einer Behinderung – umfasst29.

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Für die zweite Lösung spricht, dass der Kindergeldberechtigte, der den Lebensbedarfs seines Kindes über seine eigene Leistungsfähigkeit (§ 1603 BGB) hinaus (tatsächlich) befriedigt, einer wirtschaftlichen Entlastung durch das Kindergeld ebenfalls bedarf und nicht nur der Kindergeldberechtigte, dessen Unterhaltsgewährung sich in den Grenzen seiner gesetzlichen Unterhaltsverpflichtung bewegt.

Aus der Konzeption des Kindergeldrechts ergibt sich nicht, dass das Bestehen einer zivilrechtlichen Unterhaltsverpflichtung generell Voraussetzung des Kindergeldanspruchs nach den §§ 62 ff EStG wäre30.

Der Regelungszweck des § 74 Abs. 1 EStG spricht ebenfalls nicht dafür, im Rahmen der Abzweigung nur solche (tatsächlichen) Aufwendungen zu berücksichtigen, welche im Rahmen der aufgrund der eigenen Leistungsfähigkeit des Kindergeldberechtigten begrenzten Unterhaltspflicht erbracht werden.

§ 74 Abs. 1 EStG eröffnet die Möglichkeit, das Kindergeld nicht an die Kindergeldberechtigten auszuzahlen, sondern an das Kind selbst oder an den tatsächlich Unterhaltsgewährenden, wenn der Unterhaltsverpflichtete zur Deckung des Lebensbedarfs mangels Leistungsfähigkeit nicht oder nur eingeschränkt in der Lage ist (§ 74 Abs. 1 Satz 3 EStG) oder die Unterhaltsleistung trotz Leistungsfähigkeit unterbleibt (§ 74 Abs. 1 Satz 1 EStG). Dabei sollen nach der Rechtsprechung des BFH auch geringe Unterhaltsleistungen des Kindergeldberechtigten zu berücksichtigen sein und einer Abzweigung insoweit entgegen stehen. Begründet wird dies – zu Recht – mit dem Zweck des Kindergeldes, die Eltern wegen ihrer Unterhaltsleistungen steuerlich zu entlasten31. Sollen aber Eltern, die hinter ihrer Leistungsfähigkeit zurück bleiben (§ 74 Abs. 1 Satz 1 EStG), durch das Kindergeld entlastet werden und eine Abzweigung insoweit ausgeschlossen sein, als sie teilweise Unterhalt leisten, muss dies erst Recht für Eltern gelten, welche den unterhaltsrechtlichen Bedarf ihres Kindes über ihre Leistungsfähigkeit hinaus befriedigen.

Dementsprechend ist die Familienkasse bei ihrer Ermessensentscheidung grundsätzlich nicht gehalten, im Einzelfall zu prüfen, ob die dem Kindergeldberechtigten entstandene Aufwendungen unter Berücksichtigung seiner Leistungsfähigkeit (§ 1603 BGB) geschuldet waren oder nicht.

Auch eine von der Klin angeführte, Art. 3 Abs. 1 GG zuwider laufende Ungleichbehandlung zwischen schlechter verdienenden und besser verdienenden Kindergeldberechtigten liegt nicht vor. Die Höhe des ausgezahlten Kindergeldes ist unabhängig vom Einkommen des Kindergeldberechtigten und steht dabei sowohl einem Haushalt mit geringem Familieneinkommen als auch einer Familie mit überdurchschnittlich hohem Einkommen in gleicher Weise zur Verfügung. Wird das Kindergeld in beiden Fällen zweckentsprechend in voller Höhe zur Finanzierung des Lebensbedarfs des Kindes verwendet, scheidet eine Abzweigung in beiden Fällen aus.

Finanzgericht Münster, Urteil vom 25. März 2011 – 12 K 1891/10 Kg

  1. vgl. Born in MünchKomm-BGB, 5. Aufl.2008, Band 8, Familienrecht II, § 1602 Rn. 26, 27 ff. m. w. N.[]
  2. vgl. BGH, Urteil vom 20.12.2006 – XII ZR 84/04, FamRZ 2007, 1158[]
  3. vgl. BSG, Urteil vom 08.02.2007 – B 9b SO 5/06 R, FamRZ 2008, 51[]
  4. vgl. BGH, Urteil vom 20.12.2006 – XII ZR 84/04, a. a. O.[]
  5. BFH, Urteil vom 17.12.2008 – III R 6/07, BFHE 224, 228, BStBl II 2009, 926[]
  6. vgl. BFH, Urteil vom 23.02.2006 – III R 65/04, BFHE 212, 481, BStBl II 2008, 753[]
  7. BFH, Urteile vom 09.02.2009 – III R 37/07, BFHE 224, 290, BStBl. II 2009, 928; vom 21.07.2000 – VI R 153/99, BFHE 192, 316, BStBl II 2000, 566[]
  8. BFH, Urteile vom 09.02.2009 – III R 37/07, BFHE 224, 290, BStBl. II 2009, 928; und vom 15.10.1999 – VI R 40/98, BFHE 189, 449, BStBl. II 2000, 75[]
  9. BFH, Urteile vom 09.02.2009 – III R 37/07, BFHE 224, 290, BStBl. II 2009, 928; vom 23.02.2006 – III R 65/04, BFHE 212, 481, BStBl. II 2008, 753; und vom 27.10.2004 – VIII R 65/04, BFH/NV 2005, 538[]
  10. BFH, Urteile vom 23.02.2006 – III R 65/04, BFHE 212, 481, BStBl. II.2008, 753; und vom 09.02.2009 – III R 39/07[]
  11. BFH, Urteil vom 09.02.2009 – III R 37/07, BFHE 224, 290, BStBl. II.2009, 928[]
  12. in diesem Sinne FG Berlin, Urteil vom 15.09.2006 – 10 K 10352/05, unter Verweis auf BFH, Urteil vom 23.02.2006 – III R 65/04, BFHE 212, 481, BStBl. II.2008, 753, zu einem Sachverhalt mit einem vollstationär untergebrachten schwerbehinderten Kind[]
  13. BFH, Urteil vom 09.02.2009 – III R 37/07, BFHE 224, 290, BStBl II 2009, 928; vgl auch BFH, Urteil vom 17.12.2008 – III R 6/07, BFHE 224, 228, BStBl II 2009, 926[]
  14. vgl. BFH, Urteil vom 09.02.2009 – III R 37/07, BFHE 224, 290, BStBl II 2009, 928[]
  15. und der Eltern[]
  16. vgl. BSG, Urteil vom 08.02.2007 – B 9b SO 6/06 R, BFH/NV 2007, Beilage 4, 476; BFH, Urteil vom 17.12.2008 – III R 6/07, BFHE 224, 228, BStBl II 2009, 926[]
  17. vgl. Weber-Grellet, in Schmidt, EStG 29. Aufl. 2010, § 74 Rn. 2 m. w. N.[]
  18. vgl. BFH, Urteil vom 24.08.2004 – VIII R 59/01, BFHE 207, 237, BStBl II 2010, 1048[]
  19. vgl. BFH, Urteil vom 24.08.2004 – VIII R 59/01, BFHE 207, 237, BStBl. II. 2010, 1048[]
  20. vgl. dazu Born, in MüchKomm-BGB, a. a. O.; § 1610 Rn. 149 ff.[]
  21. vgl. Decker, in Oestreicher, SGB II/SGB XII Grundsicherung für Arbeitssuchende und Sozialhilfe, § 82 SGB XII Rn. 11 ff.[]
  22. vgl. BSG, Urteil vom 08.02.2007 – B 9b SO 5/06 R, NJW 2008, 395[]
  23. vgl. BVerwG, Urteil vom 17.12.2003 – 5 C 25/02, BFH/NV 2005, Beilage 1, 68; BSG, Urteil vom 08.02.2007 – B 9b SO 6/06 R, BFH/NV 2007, Beilage 4, 476[]
  24. vgl BSG, Urteil vom 08.02.2007 – B 9b SO 6/06 R, BFH/NV 2007, Beilage 4, 476 m. w. N.; LSG NRW, Urteil vom 27.04.2009 – L 20 SO 99/07[]
  25. BFH, Urteile vom 23.11.2000 – VI R 165/99, BFHE 193, 569, BStBl II 2001, 279; und vom 14.05.2002 – VIII R 88/01, BFH/NV 2002, 1156; BFH, Beschluss vom 31.01.2007 – III B 167/06, BFH/NV 2007, 865[]
  26. vgl. dazu Born, in MünchKomm-BGB, a. a. O., § 1610 Rn. 7 ff.[]
  27. vgl. Born, in MünchKomm-BGB, a. a. O., § 1610 Rn. 10 f. m. w. N.[]
  28. vgl. Born, in MünchKomm-BGB, a. a. O., § 1610 Rn. 13 m. w. N.[]
  29. vgl. Born, in MünchKomm-BGB, a. a. O., § 1610 59 ff. m. w. N.[]
  30. vgl. dazu BFH, Urteil vom 16.04.2002 – VIII R 50/01, BFHE 199, 105, BStBl II 2002, 575[]
  31. vgl. BFH, Urteil vom 23.02.2006 – III R 65/04, BFH/NV 2006, 1575; vom 17.11.2004 – VIII R 30/04, BFH/NV 2005, 692; vgl. auch FG Berlin, Urteil vom 21.03.2005 – 10 K 10366/04, EFG 2005, 1219[]
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