Kindergeld für eine deutsche Grenzgängerin

Ist der persönliche Geltungsbereich der VO (EWG) Nr. 1408/71 eröffnet und unterliegt der Steuerpflichtige, der mit seinen Kindern in Deutschland wohnt, wegen einer in den Niederlanden als Grenzgänger ausgeübten abhängigen Beschäftigung gemäß Art. 13 ff. der VO (EWG) Nr. 1408/71 nicht den deutschen, sondern den niederländischen Rechtsvorschriften, dann wird dadurch der gemäß § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG bestehende Kindergeldanspruch nicht ausgeschlossen.

Kindergeld für eine deutsche Grenzgängerin

Die sich hieraus ergebende Konkurrenz zwischen dem niederländischen und dem deutschen Anspruch wird durch Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der VO (EWG) Nr. 574/72 aufgelöst. In diesem Fall darf der im Wohnmitgliedstaat des betreffenden Kindes bestehende Kindergeldanspruch nicht teilweise ausgesetzt werden, wenn zwar ein Anspruch auf Familienleistungen im Beschäftigungsmitgliedstaat besteht, die Familienleistung dort aber faktisch nicht bezogen wird, weil kein entsprechender Antrag gestellt wurde. Ist der persönliche Geltungsbereich der VO (EWG) Nr. 1408/71 nicht eröffnet, dann ist eine etwaige Anspruchskonkurrenz gemäß § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG aufzulösen.

§ 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG, der die Anrechnung von im Ausland gewährten, dem Kindergeld vergleichbaren Leistungen regelt, kann durch Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21.03.1972 über die Durchführung der VO Nr. 1408/71 verdrängt werden. Dies setzt allerdings voraus, dass der Anspruchsberechtigte überhaupt in den persönlichen Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 fällt.

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Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs1 ist in einem ersten Schritt zu prüfen, ob der persönliche Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 eröffnet ist. Hierfür ist erforderlich, aber auch ausreichend, dass eine Person nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 in irgendeinem der von ihrem sachlichen Geltungsbereich erfassten Zweige der sozialen Sicherheit in irgendeinem Mitgliedstaat der EU versichert ist2.

Ist der persönliche Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 nicht eröffnet, dann richtet sich die Kindergeldberechtigung nach §§ 62 ff. EStG und die Anspruchskonkurrenz zwischen dem deutschen Kindergeldanspruch und der ausländischen Familienleistung ist nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG zu lösen.

Unterfällt der Anspruchsberechtigte dem persönlichen Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 und unterliegt er, was anhand der Bundesfinanzhofsrechtsprechung3 im Einzelnen zu prüfen wäre, außerdem wegen einer abhängigen Beschäftigung in den Niederlanden gemäß Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats, dann ist Folgendes zu beachten:

Obgleich Deutschland in diesem Fall im Hinblick auf die Gewährung der Familienleistungen an sich der unzuständige Staat wäre, würde der sich aus § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG ergebende Kindergeldanspruch nicht ausgeschlossen sein. Denn die Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 entfalten keine Sperrwirkung für die Anwendung des Rechts des nicht zuständigen Mitgliedstaats, so dass sich die Anspruchsberechtigung auch bei Personen und bei Leistungen, die dem persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich der VO Nr. 1408/71 unterliegen, allein nach den Bestimmungen des deutschen Rechts richtet. Zur weiteren Begründung verweist der Bundesfinanzhof auf sein Urteil vom 16. Mai 20134.

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Der Zahlung von (Differenz-)Kindergeld für das Kind stünde in diesem Fall auch § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG nicht entgegen. Denn die Konkurrenz zwischen dem niederländischen und dem deutschen Anspruch würde nicht durch diese Vorschrift, sondern durch Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der VO Nr. 574/72 aufgelöst.

Diese Norm ist in einer solchen Konstellation schon nach ihrem Wortlaut anwendbar. Nach Auffassung des Bundesfinanzhofs sind die gemeinschaftsrechtlichen Antikumulierungsvorschriften (Art. 76 der VO Nr. 1408/71 und Art. 10 Abs. 1 der VO Nr. 574/72) gegenüber § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG grundsätzlich vorrangig. Die Auflösung der Konkurrenz zwischen den Kindergeldansprüchen richtet sich nur dann nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG, wenn entweder der persönliche Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 nicht eröffnet ist oder –bei Eröffnung des persönlichen Anwendungsbereichs– Deutschland der nicht zuständige Staat ist und zudem die gemeinschaftsrechtlichen Antikumulierungsvorschriften nicht einschlägig sind, weil der Beschäftigungsmitgliedstaat, der nach Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 als zuständiger Staat bestimmt ist, und der Wohnmitgliedstaat der Kinder identisch sind5. Sollte im Streitfall der persönliche Geltungsbereich eröffnet und die Niederlande gemäß Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 der zuständige Staat sein, dann würden der Beschäftigungsmitgliedstaat, dessen Rechtsvorschriften als anwendbar bestimmt wurden (Niederlande), und der Wohnmitgliedstaat des Kindes (Deutschland) auseinanderfallen.

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Mit dem von Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der VO Nr. 574/72 angeordneten anteiligen Ruhen des deutschen Kindergeldanspruchs wäre die Anspruchskumulation beseitigt. Die Norm erlaubt es hingegen nicht, einen weiter gehenden deutschen Kindergeldanspruch auszuschließen6, so dass der Mutter dem Grunde nach deutsches Differenzkindergeld zustünde.

Sollte der persönliche Geltungsbereich eröffnet und das niederländische Recht als anwendbar bestimmt sein, dann würde nach den gemachten Ausführungen zur Auflösung der Anspruchskonkurrenz zwischen dem niederländischen und dem deutschen Anspruch Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der VO Nr. 574/72 heranzuziehen sein. Zu dieser Vorschrift hat der Gerichtshof der Europäischen Union entschieden, dass der im Wohnmitgliedstaat der Kinder bestehende Anspruch nicht teilweise ausgesetzt werden darf, wenn zwar ein Anspruch auf Familienleistungen im Beschäftigungsmitgliedstaat besteht, die Familienleistungen dort faktisch aber nicht bezogen werden, weil kein entsprechender Antrag gestellt wurde7. Dass in dem dort entschiedenen Fall der andere Elternteil im Beschäftigungsmitgliedstaat den Antrag nicht gestellt hatte, im Streitfall die Mutter aber selbst die Antragstellung versäumt haben dürfte, wäre nach Auffassung des Bundesfinanzhofs nicht rechtserheblich. Denn der EuGH hat in der Rechtssache Schwemmer in abstrakter Weise ausgeführt, dass das Ruhen des deutschen Kindergeldanspruchs nur in Betracht kommt, wenn alle im Beschäftigungsmitgliedstaat aufgestellten Voraussetzungen für den tatsächlichen Leistungsbezug, einschließlich einer vorherigen Antragstellung, erfüllt sind.

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Sollte der persönliche Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 nicht eröffnet sein, wäre die Anspruchskumulation nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG aufzulösen. Schon das bloße Bestehen eines Anspruchs auf niederländische Familienleistungen würde dann zum Ausschluss des deutschen Kindergeldes führen. Die Folgen einer unterbliebenen Antragstellung hätte die Mutter zu tragen.

Bundesfinanzhof, Urteil vom 18. Juli 2013 – III R 51/09

  1. BFH, Urteile vom 04.08.2011 – III R 55/08, BFHE 234, 316; vom 19.04.2012 – III R 87/09, BFHE 237, 150; vom 05.07.2012 – III R 76/10, BFHE 238, 87[]
  2. zur Prüfung im Einzelnen s. BFH, Urteile in BFHE 234, 316; in BFHE 237, 150; in BFHE 238, 87[]
  3. BFH, Urteile in BFHE 234, 316; in BFHE 237, 150; in BFHE 238, 87[]
  4. BFH, Urteil vom 16.05.2013 – III R 8/11[]
  5. vgl. EuGH, Urteil vom 12.06.2012 – C-611/10 [Hudzinski], ZESAR 2012, 475, unter Rdnrn. 73 ff.; vgl. die Überschrift zu Art. 76 der VO Nr. 1408/71[]
  6. vgl. EuGH, Urteil vom 04.07.1985 – C-104/84 [Kromhout], Slg. 1985, 2205[]
  7. EuGH, Urteil vom 14.10.2010 – C-16/09 [Schwemmer], ZESAR 2011, 86, Rdnr. 55[]