Der Sozialhilfeträger ist grundsätzlich nicht abzweigungsberechtigt, wenn er Leistungen der Grundsicherung nach §§ 41 ff. SGB XII für ein Kind mit Schwerbehinderung zahlt, das im Haushalt des Kindergeldberechtigten untergebracht ist.

Nach § 74 Abs. 1 Satz 1 EStG kann das für ein Kind festgesetzte Kindergeld an das Kind ausgezahlt werden, wenn der Kindergeldberechtigte gegenüber dem Kind seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht nachkommt. Die Auszahlung kann gemäß § 74 Abs. 1 Satz 4 EStG auch an die Person oder Stelle erfolgen, die dem Kind Unterhalt gewährt.
Im Streitfall hat das Finanzgericht zu Recht entschieden, dass die Voraussetzungen für eine Abzweigung nicht vorliegen, da jede andere Entscheidung als die Ablehnung der Abzweigung ermessenswidrig wäre.
Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs sind bei der Ausübung des Ermessens, ob und in welcher Höhe das Kindergeld an Sozialleistungsträger abzuzweigen ist, auch geringe Unterhaltsleistungen der Eltern zu berücksichtigen. Sind die Leistungen mindestens so hoch wie das Kindergeld, ist eine Abzweigung nicht ermessensgerecht [1]. Nach dem BFH-Beschluss in BFH/NV 2012, 1963, scheidet eine Abzweigung aus, wenn der kindergeldberechtigte Elternteil durch Übernahme eines Kostenbeitrags und durch Gewährung von Unterkunft Unterhaltsleistungen mindestens in der Höhe des gesetzlichen Kindergeldbetrags für ein volljähriges behindertes Kind erbringt, das nicht vollstationär untergebracht ist, sondern sich über Nacht und an freien Tagen im Haushalt des Kindergeldberechtigten befindet.
In Übereinstimmung mit dieser Rechtsprechung steht die Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des Einkommensteuergesetzes (DA-FamEStG) zu § 74 Abs. 1 EStG, bei der es sich um eine Verwaltungsvorschrift handelt, die das der Verwaltung durch § 74 Abs. 1 EStG eingeräumte Ermessen lenken soll. Die im Zeitpunkt der Einspruchsentscheidung zu berücksichtigende XII. DA-FamEStG 2009 zu § 74 EStG in der Fassung vom 21.12.2010 ordnete an, dass grundsätzlich keine Abzweigung erfolgen kann, wenn ein Kind in den Haushalt des Berechtigten aufgenommen ist (§ 64 Abs. 2 EStG); ebenso kommt keine Abzweigung in Betracht, wenn der Berechtigte regelmäßig Unterhaltsleistungen erbringt, die den Betrag des anteiligen Kindergeldes übersteigen (DA 74.1.2 Abs. 2 Satz 2 und 3). Hieran hat die Verwaltung auch in der Folgezeit festgehalten (vgl. DA 74.1.2 Abs. 2 Satz 2 und 3 der DA-FamEStG 2012, wonach eine Abzweigung nicht in Betracht kommt, wenn der Berechtigte regelmäßig Unterhaltsleistungen erbringt, die den Betrag des anteiligen Kindergelds übersteigen, wovon grundsätzlich auszugehen ist, wenn das Kind in den Haushalt des Berechtigten aufgenommen worden ist).
Ist eine Behörde ermächtigt, nach ihrem Ermessen zu handeln, hat sie ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten (§ 5 AO). Ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften können nach der Rechtsprechung des BFH unter dem Gesichtspunkt der Selbstbindung der Verwaltung und damit der Beachtung des Gleichbehandlungsgrundsatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) von Bedeutung sein; das gilt aber nur, wenn sich die in ihnen getroffenen Regelungen innerhalb der Grenzen halten, die das GG und die Gesetze der Ausübung des Ermessens setzen [2]. Ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften, die unter Beachtung des Gleichbehandlungsgrundsatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) zur Selbstbindung der Verwaltung führen, sind daher bei der gerichtlichen Prüfung, ob die Finanzverwaltung ihre Ermessensentscheidung fehlerfrei, insbesondere willkürfrei getroffen hat, von den Finanzgerichten zu beachten [3].
Im vorliegend vom Bundesfinanzhof entschiedenen Fall lebte der schwerbehinderte Sohn der Mutter im Haushalt der Mutter. Zudem hat die Beigeladene selbst keine Grundsicherungsleistungen nach §§ 41 ff. SGB XII erhalten, die nach dem BFH-Urteil vom 17. Dezember 2008 [4] dem Kindergeldanspruch entgegenstehen. Die im Streitfall nach § 102 FGO nur im Hinblick auf Ermessensfehler zu überprüfende Verwaltungsentscheidung erweist sich danach unter Berücksichtigung der ermessenslenkenden Verwaltungsvorschriften zu § 74 Abs. 1 EStG als rechtmäßig. Nicht entscheidungserheblich ist daher, ob die Familienkasse bei der Ablehnung der Abzweigung zu Recht und ohne Verstoß gegen die Verpflichtung zur einwandfreien und erschöpfenden Sachverhaltsermittlung [5] davon ausgegangen ist, dass der Mutter für den Unterhalt ihres Sohnes –neben der Haushaltsaufnahme– monatliche Aufwendungen von mehr als dem Kindergeldbetrag von monatlich 184 € entstanden sind.
Die hiergegen gerichteten Einwendungen des Sozialhilfeträgers greifen nicht durch.
Für die Beantwortung der Frage, ob unterhaltsbezogene Aufwendungen der Mutter durch die Unterbringung ihres Sohnes in ihrem Haushalt vorliegen, ist im Hinblick auf den maßgeblichen bürgerlich-rechtlichen Unterhaltsbegriff entscheidend, ob es sich hierbei um Aufwendungen handelt, die als Erfüllung der Unterhaltspflicht nach § 1610 BGB anzusehen sind. Das „Maß“ des bürgerlich-rechtlich zu gewährenden Unterhalts bestimmt sich „nach der Lebensstellung des Bedürftigen“ als sog. „angemessener Unterhalt“ (§ 1610 Abs. 1 BGB), wobei der Unterhalt gemäß § 1610 Abs. 2 BGB „den gesamten Lebensbedarf einschließlich der Kosten einer angemessenen Vorbildung zu einem Beruf, bei einer der Erziehung bedürftigen Person auch die Kosten der Erziehung“ umfasst. Dies ist im Streitfall im Hinblick auf die Kosten für die Unterbringung des Sohnes der Mutter in ihrem Haushalt ohne weiteres zu bejahen.
Entgegen der Auffassung des Sozialhilfeträgers wird durch das Abstellen auf die unterhaltsbezogenen Aufwendungen des Kindergeldberechtigten nicht „pauschal unterstellt, dass sie [die Kindergeldberechtigten] zusätzlich zu den Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung Aufwendungen in Höhe des Kindergelds haben“. Da die Unterhaltspflicht nach § 1610 BGB wegen der Anknüpfung an die Lebensstellung des Berechtigten weiter reicht als die Leistungen zur Grundsicherung, die sich nur auf den „notwendigen Lebensunterhalt“ (§ 41 SGB XII) beziehen, steht der Berücksichtigung unterhaltsbezogener Aufwendungen der Mutter nach § 1610 BGB nicht entgegen, dass der Sozialhilfeträger Mittel für den notwendigen Lebensunterhalt bereit gestellt hat. Unerheblich ist daher –entgegen der Auffassung des Sozialhilfeträgers– auch, dass „die Grundsicherungsleistungen [seiner Ansicht nach] ausreichend bemessen sind, um den notwendigen Lebensbedarf sicherzustellen“. Soweit dies dahingehend zu verstehen sein sollte, dass der Sozialhilfeträger davon ausgeht, dass Leistungen der Grundsicherung nach §§ 41 ff. SGB XII dazu führen sollen, dass Unterhaltsleistungen des Kindergeldberechtigten nicht zu berücksichtigen sind, ist dies im Hinblick auf den zivilrechtlich zu bestimmenden Unterhaltsbegriff des § 74 Abs. 1 EStG nicht zutreffend.
Der Sozialhilfeträger kann sich auch nicht auf § 74 Abs. 1 Satz 3 und 4 EStG berufen.
Nach § 74 Abs. 1 Satz 3 EStG besteht eine Abzweigungsberechtigung zugunsten des Kindes auch, wenn der Kindergeldberechtigte mangels Leistungsfähigkeit nicht unterhaltspflichtig ist oder nur Unterhalt in Höhe eines Betrags zu leisten braucht, der geringer ist als das für die Auszahlung in Betracht kommende Kindergeld. Auch diese Auszahlung kann gemäß § 74 Abs. 1 Satz 4 EStG an die Person oder Stelle erfolgen, die dem Kind Unterhalt gewährt.
Auch die Voraussetzungen des § 74 Abs. 1 Satz 3 EStG liegen nicht vor.
Selbst wenn zugunsten des Sozialhilfeträgers davon auszugehen wäre, dass sich aus der Gewährung von Grundsicherungsleistungen nach §§ 41 ff. SGB XII ergibt, dass die Beigeladene im Umfang dieser Grundsicherung „mangels Leistungsfähigkeit nicht unterhaltspflichtig“ gewesen sein sollte, kommt nach der BFH-Rechtsprechung eine Abzweigung auch nicht in Betracht, soweit der Kindergeldberechtigte trotz dieser Grundsicherungsleistungen eigene Unterhaltsleistungen erbringt, die der Höhe nach mindestens dem Kindergeld entsprechen. So ist es im Streitfall.
Über Erstattungsansprüche nach § 74 Abs. 2 EStG ist im Streitfall nicht zu entscheiden, da der Sozialhilfeträger im Verfahren vor dem Finanzgericht keinen diesbezüglichen Antrag gestellt hat und einen derartigen Anspruch auch nicht mit seiner Revision verfolgt hat.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 18. April 2013 – V R 48/11
- BFH, Urteile vom 23.02.2006 – III R 65/04, BFHE 212, 481, BStBl II 2008, 753, unter II.2.; vom 09.02.2009 – III R 37/07, BFHE 224, 290, BStBl II 2009, 928, unter II.3.b, und BFH, Beschluss vom 17.08.2012 – III B 26/12, BFH/NV 2012, 1963, unter II.3.c aa[↩]
- BFH, Urteil vom 27.07.2011 – I R 44/10, BFH/NV 2011, 2005[↩]
- BFH, Urteile vom 13.01.2011 – V R 43/09, BFHE 233, 58, BStBl II 2011, 610, unter II.2.a; ebenso zuvor vom 19.03.2009 – V R 48/07, BFHE 225, 215, BStBl II 2010, 92, unter II.4.b[↩]
- BFH, Urteil vom 17.12.2008 – III R 6/07, BFHE 224, 228, BStBl II 2009, 926, unter II.2.[↩]
- vgl. hierzu BFH, Urteil vom 19.04.2012 – III R 85/09, BFHE 237, 145, BFH/NV 2012, 1369, unter II.4.b[↩]