Kindergeldanspruch des polnischen Saisonarbeiters

Behandelt das Finanzamt einen vorübergehend im Inland tätigen Saisonarbeiter, der seinen Familienwohnsitz im EU-Ausland hat, als unbeschränkt steuerpflichtig, hängt die von der Familienkasse vorzunehmende Prüfung der kindergeldrechtlichen Anspruchsberechtigung von der Art der persönlichen Steuerpflicht ab.

Kindergeldanspruch des polnischen Saisonarbeiters

Das durch § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG geforderte Vorliegen eines Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts des Anspruchstellers im Inland haben Familienkasse (und Finanzgericht) ohne Bindung an die Feststellungen des Finanzamtes im Besteuerungsverfahren zu prüfen.

Die Anspruchsberechtigung nach § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG setzt voraus, dass das Finanzamt den Anspruchsteller aufgrund einer entsprechenden Ausübung seines Antragswahlrechts nach § 1 Abs. 3 EStG als fiktiv unbeschränkt steuerpflichtig behandelt hat. Ergibt sich eine vom Finanzamt vorgenommene Behandlung nach § 1 Abs. 3 EStG nicht unmittelbar aus dem Wortlaut des Steuerbescheids selbst, kommt es darauf an, ob der Anspruchsteller nach den ihm im Laufe des Veranlagungsverfahrens bekannt gewordenen Umständen unter Berücksichtigung von Treu und Glauben und mit Rücksicht auf die Verkehrssitte den objektiven Inhalt des Bescheids so verstehen konnte, dass seinem Antrag entsprochen wurde.

Nach § 62 Abs. 1 EStG hat für Kinder i.S. des § 63 EStG Anspruch auf Kindergeld nach diesem Gesetz, wer im Inland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt (Nr. 1) hat oder ohne Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland nach § 1 Abs. 2 EStG unbeschränkt einkommensteuerpflichtig ist (Nr. 2 Buchst. a) oder nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wird (Nr. 2 Buchst. b).

Weiterlesen:
Kindergeld und die EU-Verordnung 1408/71

Ob der Anspruchsteller i.S. des § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG im Inland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, müssen die Familienkasse und das Finanzgericht ohne Bindung an die im Einkommensteuerfestsetzungsverfahren vom zuständigen Finanzamt getroffenen Feststellungen selbständig entscheiden1.

In der angegriffenen Entscheidung hat das Finanzgericht hingegen das Vorliegen der Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG bejaht, ohne Feststellungen zu einem Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland getroffen zu haben. Vielmehr wurde im Tatbestand des Urteils nur ein (Familien-)Wohnsitz in Polen festgestellt. Soweit das Finanzgericht in den Entscheidungsgründen darüber hinaus festgestellt hat, dass der Kläger vom zuständigen Finanzamt als unbeschränkt Steuerpflichtiger behandelt wurde und dass das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen der unbeschränkten Steuerpflicht von den Beteiligten nicht in Zweifel gezogen wurde, ist dies für die vom Finanzgericht zu prüfende Frage, ob ein Wohnsitz oder gewöhnlicher Aufenthalt im Inland vorlag, nicht von Bedeutung.

Für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a EStG i.V.m. § 1 Abs. 2 EStG ergaben sich für das Finanzgericht nach dem festgestellten Sachverhalt ebenfalls keine Anhaltspunkte.

Eine Kindergeldberechtigung nach § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG i.V.m. § 1 Abs. 3 EStG hängt nach der Rechtsprechung des erkennenden BFHs davon ab, dass der Anspruchsteller aufgrund eines entsprechenden Antrags vom zuständigen Finanzamt nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wird2. Die Tatsache allein, dass beispielsweise bei einem ausländischen Saisonarbeitnehmer im Einkommensteuerbescheid von einer unbeschränkten Steuerpflicht ausgegangen wurde, besagt nicht notwendigerweise, dass es sich um eine Behandlung nach § 1 Abs. 3 EStG gehandelt hat. Vielmehr kann einem solchen Bescheid z.B. auch eine –für die Familienkasse und das Finanzgericht nicht bindende– unzutreffende Bejahung der Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 EStG zugrunde liegen. Soweit sich daher eine Behandlung nach § 1 Abs. 3 EStG nicht unmittelbar aus dem Wortlaut des Steuerbescheids selbst ergibt, ist zu prüfen, ob der Anspruchsteller sein Antragswahlrecht gegenüber dem Finanzamt entsprechend ausgeübt hat (insbesondere durch entsprechende Erklärung im Antragsformular). Da § 124 Abs. 1 Satz 2 der Abgabenordnung die Auslegung des Verwaltungsakts nach dem „objektiven Verständnis- bzw. Empfängerhorizont” für maßgebend erklärt, ist ein entsprechender Einkommensteuerbescheid so auszulegen, wie der Empfänger ihn verstehen konnte und musste3. Für die mit der Wirksamkeit des Einkommensteuerbescheids verbundenen Rechtsfolgen kommt es damit nicht auf das von der Behörde Gewollte an, sondern darauf, wie der Empfänger nach den ihm im Laufe des Veranlagungsverfahrens bekannt gewordenen Umständen den materiellen Gehalt (objektiven Inhalt) der Erklärung unter Berücksichtigung von Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte verstehen konnte. Das Erklärte gilt damit auch dann, wenn der Steuerbescheid nach dem Willen der Finanzbehörde einen anderen Inhalt haben sollte4. Es ist daher gegebenenfalls unter Rückgriff auf die Veranlagungsakten zu klären, wie der Anspruchsteller den Einkommensteuerbescheid verstehen konnte.

Weiterlesen:
Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge für Kinder

Im Streitfall hat das Finanzgericht zwar festgestellt, dass das Finanzamt den Kläger als unbeschränkt steuerpflichtig behandelt hat, nicht hingegen, dass der Kläger einen Antrag auf Behandlung nach § 1 Abs. 3 EStG gestellt hat und die ergangenen Einkommensteuerbescheide nach den Gesamtumständen auch so verstehen durfte, dass das Finanzamt diesem Antrag entsprochen hat. Auch lässt sich aus dem Wortlaut der in der Kindergeldakte befindlichen Einkommensteuerbescheide 2005 und 2006 nicht entnehmen, dass der Kläger nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt steuerpflichtig behandelt wurde.

Unbeachtlich ist in diesem Zusammenhang, ob das Finanzamt im Laufe des Revisionsverfahrens bestätigt hat, dass es den Kläger nach § 1 Abs. 3 EStG behandelt hat. Zum einen handelt es sich insoweit um neues tatsächliches Vorbringen, das im Revisionsverfahren keine Berücksichtigung finden kann. Zum anderen kommt es nach den dargelegten Grundsätzen nicht auf die Sichtweise der Behörde an, sondern auf die Auslegung des Bescheids aus der Sicht eines objektiven Empfängers.

Sollte das Finanzgericht im zweiten Rechtsgang feststellen, dass das Finanzamt einem Antrag des Klägers, ihn nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt steuerpflichtig zu behandeln, entsprochen hat, wäre überdies festzustellen, ob der Kläger in den streitigen Monaten Einkünfte i.S. des § 49 EStG erzielt hat5.

Soweit die nachzuholende Prüfung des Finanzgericht das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 oder Nr. 2 EStG ergeben sollte, wäre weiter zu prüfen, wie eine Konkurrenz zu etwaigen Ansprüchen des Klägers oder seiner Ehefrau auf in Polen zu gewährende Familienleistungen aufzulösen ist6. Hinsichtlich der Frage, unter welchen Voraussetzungen bei einer etwaigen Anwendung des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ein Anspruch auf Familienleistungen in Polen zu berücksichtigen ist, ist auf das BFH-Urteil vom 13. Juni 20137 zu verweisen.

Weiterlesen:
Noch einmal: Kindergeld für Ausländer

Bundesfinanzhof, rteil vom 18. Juli 2013 – III R 9/09

  1. BFH, Urteil vom 20.11.2008 – III R 53/05, BFH/NV 2009, 564[]
  2. BFH, Urteil vom 24.05.2012 – III R 14/10, BFHE 237, 239, BStBl II 2012, 897[]
  3. Müller-Franken in Hübschmann/Hepp/Spitaler –HHSp–, § 124 AO Rz 183[]
  4. Müller-Franken in HHSp, § 124 AO Rz 183 f.[]
  5. vgl. insofern BFH, Urteil vom 24.10.2012 – V R 43/11, BFHE 239, 327, BStBl II 2013, 491; BFH, Urteil vom 16.05.2013 – III R 8/11[]
  6. BFH, Urteil vom 16.05.2013 – III R 8/11[]
  7. BFH, Urteil vom 13.06.2013 – III R 10/11[]