Kürzung des Kindergeldanspruchs um die niederländischen Familienleistungen

Ein nach §§ 62 ff. EStG bestehender Kindergeldanspruch ist entgegen § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG nicht ausgeschlossen, wenn ein Wanderarbeitnehmer in einem nach den gemeinschaftsrechtlichen Verordnungen zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit für die Gewährung von Familienleistungen zuständigen Beschäftigungsmitgliedstaat dem Kindergeld vergleichbare Familienleistungen erhält. Solche Leistungen sind auf den Kindergeldanspruch anzurechnen.

Kürzung des Kindergeldanspruchs um die niederländischen Familienleistungen

Nach dem Wortlaut des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ist der Kindergeldanspruch ausgeschlossen, wenn für ein Kind Leistungen im Ausland zu zahlen sind oder bei entsprechender Antragstellung zu zahlen wären und diese Leistungen dem Kindergeld oder einer der in § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG genannten Leistungen vergleichbar sind.

Dieser Ausschluss gilt indes nicht, wenn ein Wanderarbeitnehmer in einem nach den gemeinschaftsrechtlichen Verordnungen zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit für die Gewährung von Familienleistungen zuständigen Beschäftigungsmitgliedstaat dem Kindergeld vergleichbare Familienleistungen erhält. Solche Leistungen sind entgegen dem Regelungswortlaut des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG lediglich anzurechnen. Dies folgt aus dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts gegenüber nationalem Recht, der gilt, soweit der Kompetenzverstoß des Gerichtshofs der Europäischen Union –wie möglicherweise hier– noch nicht hinreichend qualifiziert erscheint. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts ist naturgemäß nicht umfassend. Insoweit gilt vielmehr unverändert das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und das Letztentscheidungsrecht durch das Bundesverfassungsgericht zur Ultra-vires-Kontrolle des Handelns europäischer Organe und Einrichtungen, das unter Umständen auch die Unanwendbarkeit kompetenzüberschreitender Handlungen für die deutsche Rechtsordnung festzustellen hat1. Danach ist die Grenze der zulässigen Rechtsfortbildung erst überschritten, wenn der Unionsgerichtshof ausdrückliche (vertrags-)gesetzliche Entscheidungen abändert und ohne ausreichende gesetzliche Rückbindung neue Regelungen schafft2. Für den hier vorliegenden Streitfall ist die Spruchpraxis des Unionsgerichtshofs einschlägig aus dessen Urteilen „Bosman“3, „Hudzinski4 und „Wawrzyniak5.

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Zeitliche Einschränkung eines Kindergeldantrags

Nach diesen Grundsätzen sind in dem hier vom Bundesfinanzhof entschiedenen Rechtsstreit auf den zugunsten des Klägers bestehenden Kindergeldanspruch die nach niederländischen Rechtsvorschriften zu gewährenden Familienleistungen anzurechnen.

Denn in dem Streitzeitraum Januar bis April 2010 unterlag der in den Niederlanden als Arbeitnehmer sozialversicherte Kläger aufgrund seiner dortigen Beschäftigung den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaates (Art. 2 Abs. 1, Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung (EWG) Nr. 1408/716. In derartigen Fällen ist die nationale Antikumulierungsregel des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG unter Beachtung der vom Unionsgerichtshof7 aufgestellten Grundsätze dahingehend auszulegen, dass die nach dem Recht des Beschäftigungsmitgliedstaates zu gewährenden, mit dem Kindergeld vergleichbaren Familienleistungen zu einer entsprechenden Kürzung des Kindergeldanspruchs führen.

Gleiches gilt für den Streitzeitraum Mai 2010, für den die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit Anwendung findet8. Denn die Grundsätze der EuGH-Urteile „Bosman“ und „Wawrzyniak“9 greifen auch für die VO Nr. 883/200410. Da die Niederlande für den Streitzeitraum Mai 2010 aufgrund der dortigen Beschäftigung des Klägers gemäß Art. 2 Abs. 1, Art. 11 Abs. 3 Buchst. a der VO Nr. 883/2004 der für die Gewährung von Familienleistungen zuständige Mitgliedstaat ist und der Kläger weiterhin Wanderarbeitnehmer war, ist der Kindergeldanspruch folglich auch in diesem Streitzeitraum um die nach dem niederländischen Recht gewährten Familienleistungen zu kürzen.

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Kindergeldberechtigung für im Inland lebende Ausländer

Bundesfinanzhof, Urteil vom 11. Juli 2013 – VI R 68/11

  1. BVerfG, Beschluss vom 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286[]
  2. dazu im Einzelnen BVerfG, Beschluss in BVerfGE 126, 286, 302 ff.[]
  3. EuGH, Urteil vom 20.05.2008 – C-352/06 [Bosmann], Slg. 2008, I-3827[]
  4. EuGH, Urteil vom 12.06.2012 – C-611/10 [Hudzinski][]
  5. EuGH, Urteil vom 12.06.2012 – C-612/10 [Wawrzyniak], DStRE 2012, 999[]
  6. Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14.06.1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern[]
  7. in EuGH, Urteile in Slg. 2008, I-3827; und in DStRE 2012, 999[]
  8. vgl. zur zeitlichen Anwendbarkeit der VO Nr. 883/2004 näher BFH, Urteil vom 27.09.2012 – III R 40/09, BFHE 239, 102[]
  9. EuGH, Urteil in Slg. 2008, I-3827; und in DStRE 2012, 999[]
  10. Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Kommentar, Fach D, I. Kommentierung, Stand 6/10, Art. 68 der VO Nr. 883/2004 Rz 10; Steinmeyer in Fuchs, Europäisches Sozialrecht, 6. Aufl.2013, Art. 11 Rz 5; im Ergebnis ebenso bereits Devetzi in Eichenhofer, 50 Jahre nach ihrem Beginn – Neue Regeln für die Koordinierung sozialer Sicherheit, S. 291, 300[]