Veranlagung zur Einkommensteuer – bei ausschließlichem Bezug von Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit

Die Veranlagung zur Einkommensteuer ist vorbehaltlich der Veranlagungstatbestände in § 46 Abs. 2 Nrn. 1 bis 8 EStG gemäß § 46 Abs. 2 Halbsatz 1 EStG nur dann ausgeschlossen, wenn von den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit tatsächlich ein inländischer Lohnsteuerabzug vorgenommen worden ist.

Veranlagung zur Einkommensteuer – bei ausschließlichem Bezug von Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit

Insoweit ist für den Bundesfinanzhof die Rechtsfrage nicht klärungsbedürftig, ob über den Wortlaut des Einleitungssatzes des § 46 Abs. 2 EStG hinaus auch dann bei Nichtvorliegen der Veranlagungsgründe des § 46 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 8 EStG nach § 46 Abs. 4 EStG eine Veranlagung zu unterbleiben hat (sog. Veranlagungssperre), wenn ein (inländischer) Lohnsteuerabzug zu Unrecht nicht vorgenommen worden ist:

Gemäß § 25 Abs. 1 EStG wird die Einkommensteuer nach Ablauf des Kalenderjahres (Veranlagungszeitraum) nach dem Einkommen veranlagt, das der Steuerpflichtige in diesem Veranlagungszeitraum bezogen hat, soweit nicht nach § 43 Abs. 5 EStG und § 46 EStG eine Veranlagung unterbleibt.

Die Einkommensteuer wird hiernach grundsätzlich im Wege der Veranlagung erhoben. Besteht das Einkommen jedoch ganz oder teilweise aus Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit, von denen ein Steuerabzug vorgenommen worden ist, so wird die Veranlagung gemäß § 46 Abs. 2 EStG nur in den in § 46 Abs. 2 Nrn. 1 bis 8 EStG abschließend aufgezählten Fällen durchgeführt.

Die Veranlagung zur Einkommensteuer ist gemäß § 46 Abs. 2 Halbsatz 1 EStG -vorbehaltlich der Veranlagungstatbestände in § 46 Abs. 2 Nrn. 1 bis 8 EStG- folglich nur dann ausgeschlossen, wenn von den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit tatsächlich ein Steuerabzug nach den §§ 38 ff. EStG, also ein inländischer1 Lohnsteuerabzug, vorgenommen worden ist. Der Wortlaut des Gesetzes ist insoweit eindeutig. Für eine abweichende Auslegung, wie sie teilweise in dem vom Kläger herangezogenen Schrifttum2 und im Urteil des Finanzgerichts München vom 15.05.20033 vertreten wird, ist kein Raum4. Sie ist insbesondere nicht aus gesetzessystematischen oder teleologischen Gründen geboten.

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Die Systematik des Gesetzes spricht vielmehr für eine wortlautgetreue Auslegung des § 46 Abs. 2 EStG. Denn nach § 46 Abs. 4 Satz 1 EStG gilt die Einkommensteuer, die auf die Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit entfällt, für den Steuerpflichtigen durch den Lohnsteuerabzug als abgegolten, wenn eine Veranlagung nach § 46 Abs. 2 EStG nicht in Betracht kommt. Wurde kein Lohnsteuerabzug vorgenommen, ist für eine abgeltende Wirkung -des nicht durchgeführten Lohnsteuerabzugs- allerdings von vornherein kein Raum.

Die Auslegung nach dem Wortlaut steht ferner mit dem Gesetzeszweck in Einklang. So sind die Fälle der Amtsveranlagung in § 46 Abs. 2 Nrn. 1 bis 7 EStG dadurch gekennzeichnet, dass die einbehaltene Lohnsteuer die entstandene Einkommensteuer möglicherweise nicht in vollem Umfang abdeckt und es deshalb bei der Veranlagung zu einer Nachzahlung kommt. Der (nicht ausreichende) Lohnsteuerabzug soll in diesen Fällen keine abgeltende Wirkung nach § 46 Abs. 4 Satz 1 EStG haben5. Hierdurch werden Sachverhalte erfasst, bei denen die Verwirklichung des Einkommensteueranspruchs allein durch den Lohnsteuerabzug fraglich erscheint6. Die Einkommensteuerveranlagung ist nach dem Gesetzeszweck folglich erst recht geboten, wenn überhaupt kein Lohnsteuerabzug vorgenommen worden ist.

Die von § 46 Abs. 2 EStG intendierte Verfahrensvereinfachung rechtfertigt -anders als der Kläger unter Berufung auf verschiedene Stimmen im Schrifttum meint7- ebenfalls kein anderes Ergebnis. Zwar ist die Finanzbehörde befugt, den steuerpflichtigen Arbeitnehmer, dessen Lohnsteuer nicht vorschriftsmäßig vom Arbeitslohn einbehalten wurde, als Schuldner der Lohnsteuer (§ 38 Abs. 2 Satz 1 EStG) auch nach Ablauf des jeweiligen Kalenderjahres bis zum Ende der Festsetzungsfrist durch Lohnsteuer-Nachforderungsbescheid in Anspruch zu nehmen (s. § 42d Abs. 3 Satz 4 Nr. 1 EStG)8. Ergeht gegenüber dem Arbeitnehmer ein Lohnsteuer-Nachforderungsbescheid wegen zu Unrecht nicht einbehaltener Lohnsteuer, sind insoweit auch keine Ermessensüberlegungen anzustellen, da es sich beim Lohnsteuer-Nachforderungsbescheid als Steuerfestsetzung um eine gebundene Entscheidung handelt9.

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Die Finanzbehörde ist aber nicht darauf beschränkt, den vorschriftswidrigen Lohnsteuerabzug nur im Rahmen der Lohnsteuernachforderung gegenüber dem Arbeitnehmer als Schuldner der Lohnsteuer (§ 38 Abs. 2 Satz 1 EStG) oder durch Erlass eines Haftungsbescheids gegenüber dem Arbeitgeber geltend zu machen. Liegen die Voraussetzungen für eine Veranlagung des Arbeitnehmers zur Einkommensteuer nach § 25 Abs. 1 i.V.m. § 46 Abs. 2 EStG vor, ist die Finanzbehörde nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs vielmehr verpflichtet, den Arbeitnehmer für nicht einbehaltene und abgeführte Lohnsteuer durch Einkommensteuerbescheid in Anspruch zu nehmen10. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass neben dem Arbeitnehmer als dem Steuerschuldner auch dessen Arbeitgeber als Haftungsschuldner durch Haftungsbescheid in Anspruch genommen werden kann oder in Anspruch genommen worden ist.

Im Übrigen führt die Inanspruchnahme des Arbeitnehmers durch Lohnsteuer-Nachforderungsbescheid nicht zu einer signifikanten Verfahrensvereinfachung gegenüber einer Inanspruchnahme des Arbeitnehmers durch Einkommensteuerbescheid. Denn der Arbeitnehmer kann (jedenfalls nach Ablauf des Kalenderjahres) auch im Rahmen des Nachforderungsverfahrens Ermäßigungsgründe geltend machen. Die Finanzbehörde muss solche steuerermäßigenden Besteuerungsgrundlagen insoweit berücksichtigen, als der Arbeitnehmer die Ermäßigungsgründe im Veranlagungsverfahren hätte vorbringen können11.

Letztlich ergibt sich auch aus dem vom Kläger herangezogenen BFH-Urteil vom 13.11.198712 für die im Streitfall aufgeworfene Rechtsfrage nichts Gegenteiliges. Das Urteil ist nämlich nicht zu § 46 Abs. 2 EStG, sondern zu § 46 Abs. 1 Nr. 2 EStG ergangen. Letztere Vorschrift hatte in den Streitjahren keine Geltung mehr. Zudem betrifft jene Entscheidung die im Streitfall nicht vorliegende Konstellation einer Nettolohnvereinbarung. Im Übrigen hat der Bundesfinanzhof auch in seinem Urteil in BFH/NV 1988, 566 entschieden, dass ein Arbeitnehmer (auch bei Vorliegen einer Nettolohnvereinbarung) zur Einkommensteuer veranlagt werden kann, wenn von den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit zu Unrecht kein Steuerabzug vorgenommen worden ist.

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Bundesfinanzhof, Beschluss vom 7. März 2023 – VI B 4/22

  1. s. dazu z.B. Schmidt/Kulosa, EStG, 41. Aufl., § 46 Rz 7; Hettler in Lademann, EStG, § 46 EStG Rz 7; BeckOK EStG/Holzner, 14. Ed. [01.10.2022], EStG § 46 Rz 30; Paetsch, in Frotscher/Geurts, EStG, § 46 Rz 8[]
  2. z.B. Tillmann in Herrmann/Heuer/Raupach -HHR-, § 46 EStG Rz 22; Tormöhlen in Korn, § 46 EStG Rz 9; wohl auch Hummel in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 46 Rz B5[]
  3. FG München, Urteil vom 15.05.2003 – 11 K 2986/02, EFG 2003, 1281[]
  4. zutreffend demgegenüber z.B. Niedersächsisches FG, Urteil vom 20.06.2022 – 4 K 136/20, EFG 2022, 1693; Schmidt/Kulosa, a.a.O., § 46 Rz 6; Paetsch, in Frotscher/Geurts, a.a.O., § 46 Rz 11; Brandis/Heuermann/Brandl, § 46 EStG Rz 40; Schmieszek in Bordewin/Brandt, § 46 EStG Rz 21[]
  5. s. BFH, Urteil vom 30.03.2017 – VI R 43/15, BFHE 257, 333, BStBl II 2017, 1046, Rz 23[]
  6. vgl. BVerfG, Beschluss vom 18.09.2013 – 1 BvR 924/12, HFR 2013, 1157, m.w.N.[]
  7. z.B. HHR/Tillmann, § 46 EStG Rz 22[]
  8. s. BFH, Urteil vom 17.10.2013 – VI R 44/12, BFHE 243, 266, BStBl II 2014, 892, Rz 11; Schmidt/Krüger, a.a.O., § 42d Rz 19 und Rz 22[]
  9. BFH, Urteil vom 21.02.1992 – VI R 141/88, BFHE 167, 131, BStBl II 1992, 565, unter 2.b[]
  10. BFH, Urteil vom 17.05.1985 – VI R 137/82, BFHE 144, 217, BStBl II 1985, 660, unter 1.[]
  11. s. BFH, Urteil vom 26.01.1973 – VI R 136/69, BFHE 108, 338, BStBl II 1973, 423; Schmidt/Krüger, a.a.O., § 42d Rz 22, m.w.N.[]
  12. BFH, Urteil vom 13.11.1987 – VI R 4/84, BFH/NV 1988, 566[]
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