Wird eine selbständige Tätigkeit gemäß § 35 Abs. 2 InsO aus dem Insolvenzbeschlag freigegeben, ist ein Einkommensteuererstattungsanspruch, der auf Vorauszahlungen beruht, die erst nach der Freigabe festgesetzt und allein nach den zu erwartenden Einkünften aus der freigegebenen Tätigkeit berechnet worden sind, nicht i.S. des § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO der Insolvenzmasse geschuldet1.

Darüber hinaus ist ein Einkommensteuererstattungsanspruch auch dann nicht der Insolvenzmasse geschuldet, wenn er auf Vorauszahlungen beruht, die nach der Freigabe aus Mitteln geleistet worden sind, die zum freigegebenen Vermögen gehören.
Im hier vom Bundesfinanzhof entschiedenen Fall hatte das Finanzamt hinsichtlich desjenigen Teils des Guthabens, das zeitanteilig auf die Zeit nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens entfiel, gegenüber dem Insolvenzschuldner die Aufrechnung mit Insolvenzforderungen (Einkommensteuer 2003). Hinsichtlich des restlichen Guthabens erklärte das Finanzamt gegenüber dem Insolvenzverwalter die Aufrechnung mit Insolvenzforderungen (ebenfalls Einkommensteuer 2003). Zu Recht, wie jetzt der Bundesfinanzhof befand:
Dabei konnte es der Bundesfinanzhof dahingestellt lassen, ob der Einkommensteuererstattungsanspruch aufgrund der fehlenden Einkünfte der Ehefrau tatsächlich -wie vom Finanzamt in dem angefochtenen Abrechnungsbescheid vom 19.04.2010 angenommen- allein dem Insolvenzschuldner zuzuordnen war2. Jedenfalls ist der dem Insolvenzschuldner zuzuordnende Einkommensteuererstattungsanspruch auch hinsichtlich des nachinsolvenzlichen Zeitraums durch die vom Finanzamt erklärte Aufrechnung mit Insolvenzforderungen erloschen (§ 47 AO).
Die Voraussetzungen für eine Aufrechnung nach § 226 AO i.V.m. §§ 387 ff. BGB waren erfüllt.
Unabhängig von der Problematik, ob der Einkommensteuererstattungsanspruch zur Insolvenzmasse i.S. des § 35 Abs. 1 InsO oder zum insolvenzfreien Vermögen i.S. des § 35 Abs. 2 InsO gehörte, war insbesondere die Gegenseitigkeit der Insolvenzforderungen des Finanzamt einerseits und des Einkommensteuererstattungsanspruchs andererseits gegeben3. Denn das Insolvenzverfahren führt lediglich zu unterschiedlichen Haftungs- bzw. Vermögensmassen. Deren alleiniger Rechtsträger bleibt in jedem Fall der Insolvenzschuldner4.
Darüber hinaus hat das Finanzamt die Aufrechnung für den nachinsolvenzlichen Zeitraum zutreffend gegenüber dem Insolvenzschuldner erklärt. Zwar sind Aufrechnungen im Rahmen eines Insolvenzverfahrens grundsätzlich gegenüber dem Insolvenzverwalter zu erklären. Dies gilt aber nicht, wenn die Hauptforderung, gegen die aufgerechnet wird, nicht unter die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis des Insolvenzverwalters gemäß § 80 Abs. 1 InsO fällt, sondern -wie im Folgenden noch näher auszuführen sein wird- zum insolvenzfreien Vermögen i.S. des § 35 Abs. 2 InsO gehört.
Die vom Finanzamt für den nachinsolvenzlichen Zeitraum erklärte Aufrechnung ist auch nicht durch ein besonderes insolvenzrechtliches Aufrechnungsverbot ausgeschlossen.
Aufrechnungen werden zunächst nicht von den allgemeinen Vollstreckungsverboten in § 89 Abs. 1, § 294 Abs. 1 InsO erfasst5.
In Betracht kommt allenfalls § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO, der jedoch voraussetzt, dass der Insolvenzgläubiger etwas zur Insolvenzmasse schuldig geworden ist. Diese Voraussetzung ist im Streitfall nicht erfüllt. Dabei geht der Bundesfinanzhof davon aus, dass der Insolvenzschuldner das Einzelunternehmen -wie vom Finanzgericht festgestellt- am 16.04.2008 aus dem Insolvenzbeschlag freigegeben hat. Diese Feststellung des Finanzgericht, die mit dem eigenen Vortrag des fachkundig vertretenen Insolvenzschuldners in der Vorinstanz übereinstimmte, ist für den Bundesfinanzhof bindend (§ 118 Abs. 2 FGO), auch wenn der neue Prozessbevollmächtigte des Insolvenzschuldners in der mündlichen Verhandlung Unterlagen vorgelegt hat, die dem zu widersprechen scheinen. Insbesondere kommt keine Ausnahme aufgrund einer ansonsten drohenden Wiederaufnahme des Verfahrens gemäß § 134 FGO i.V.m. § 580 Nr. 7 Buchst. b ZPO in Betracht. Dies folgt aus § 582 ZPO, da der Insolvenzschuldner diese Unterlagen schon in der Vorinstanz hätte vorlegen können, und zwar spätestens im Rahmen eines Antrags auf Tatbestandsberichtigung gemäß § 108 FGO.
Der Bundesfinanzhof hat in seinem Beschluss in BFHE 230, 490, BStBl II 2011, 336 entschieden, dass ein Umsatzsteuervergütungsanspruch, den der Insolvenzschuldner durch eine gemäß § 35 Abs. 2 InsO aus dem Insolvenzbeschlag freigegebene selbständige Tätigkeit erworben hat, nicht i.S. des § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO der Insolvenzmasse geschuldet wird und das Finanzamt gegen diesen Anspruch mit vorinsolvenzlichen Steuerschulden aufrechnen kann6. Mit Beschluss vom 06. März 20147 hat der Bundesfinanzhof diese Rechtsprechung auf Einkommensteuererstattungsansprüche ausgedehnt, die auf Vorauszahlungen beruhen, bei deren Berechnung nur die Einkünfte aus der freigegebenen Tätigkeit zu Grunde gelegt worden sind. Dies ergibt sich bereits aus der weiten Formulierung „Vermögen aus der selbständigen Tätigkeit“, aus der sich entgegen der Auffassung des Insolvenzschuldners keine Beschränkung auf Betriebssteuern bzw. auf Betriebseinnahmen und Betriebsausgaben ableiten lässt. Vielmehr erstreckt sich die Freigabe auf eine Gesamtheit von Gegenständen und Werten, die der freigegebenen Tätigkeit gewidmet sind8 bzw. die auf dieser Tätigkeit beruhen, d.h. infolge der freigegebenen Tätigkeit entstehen oder vereinnahmt werden. Eine Zuordnung zum steuerlichen Betriebsvermögen ist zwar die Regel, aber nicht zwingend erforderlich.
Bei Einkommensteuererstattungsansprüchen sind diese Voraussetzungen jedenfalls dann erfüllt, wenn die zugrunde liegenden Einkommensteuervorauszahlungen erst nach der Freigabe festgesetzt und allein nach den zu erwartenden Einkünften aus der vom Insolvenzbeschlag befreiten Tätigkeit berechnet worden sind. Ein solcher Sachverhalt lag dem BFH-Beschluss in BFH/NV 2014, 1013 zugrunde.
Darüber hinaus ist es ausreichend, wenn Vorauszahlungen nach der Freigabe aus Mitteln geleistet werden, die zum freigegebenen Vermögen gehören. In diesem Fall muss auch ein etwaiger Erstattungsanspruch wieder in das freigegebene Vermögen gelangen. Denn Mittel, die einmal zum freigegebenen Vermögen gehört haben, können nicht nachträglich wieder der Insolvenzmasse zugeordnet werden.
Vorliegend beruhten die Einkommensteuervorauszahlungen ausschließlich auf der gewerblichen Tätigkeit des Insolvenzschuldners, d.h. auf seiner nach § 35 Abs. 2 InsO freigegebenen Tätigkeit. Im Hinblick auf die zeitanteilige Aufteilung des Einkommensteuererstattungsanspruchs im Abrechnungsbescheid sowie den Umstand, dass nach Aktenlage vor der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO allenfalls ein geringer Betrag in Höhe von 247 € als Einkommensteuervorauszahlung geleistet worden ist, kann diese Feststellung nur so verstanden werden, dass die auf den nachinsolvenzlichen Zeitraum entfallende Einkommensteuererstattung aus Mitteln des freigegebenen Vermögens gezahlt worden ist. Denn der prozentuale Anteil der möglicherweise vor der Freigabe gezahlten 247 € an den insgesamt geleisteten Vorauszahlungen in Höhe von 3.569,70 € ist mit ca. 7% wesentlich kleiner als der prozentuale Anteil des auf den vorinsolvenzlichen Zeitraum entfallenden Einkommensteuererstattungsbetrags im Vergleich zum gesamten Erstattungsbetrag (234,60 € von 1.420,40 € = ca. 16,5%)).
Bundesfinanzhof, Urteil vom 26. November 2014 – VII R 32/13
- vgl. auch BFH, Beschluss vom 06.03.2014 – VII S 47/13 (PKH), BFH/NV 2014, 1013[↩]
- vgl. hierzu BFH, Urteil vom 22.03.2011 – VII R 42/10, BFHE 233, 10, BStBl II 2011, 607, m.w.N.[↩]
- a.A. Peters in Münchener Kommentar InsO, 3. Aufl., 2013, § 35 Rz 47h[↩]
- vgl. eingehend BFH, Beschluss in BFHE 230, 490, BStBl II 2011, 336[↩]
- BGH, Urteil vom 21.07.2005 – IX ZR 115/04, BGHZ 163, 391[↩]
- bestätigt durch den BFH, Beschluss vom 23.08.2011 – VII B 8/11, BFH/NV 2011, 2115; vgl. auch schon BFH, Urteil vom 15.12 2009 – VII R 18/09, BFHE 228, 6, BStBl II 2010, 758[↩]
- BFH, Beschluss vom 06.03.2014 – VII S 47/13 (PKH), BFH/NV 2014, 1013[↩]
- vgl. BGH, Urteil vom 09.02.2012 – IX ZR 75/11, BGHZ 192, 322[↩]