Gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags – und Bindungswirkung der Feststellung

Ist der Einkommensteuerbescheid des Verlustentstehungsjahres bestandskräftig und berücksichtigt er keinen Verlust, ist der erstmalige Erlass eines Feststellungsbescheids über den verbleibenden Verlustvortrag nach § 10d Abs. 4 Satz 4 EStG i.d.F. des JStG 2010 nur zulässig, soweit eine Korrektur dieses Steuerbescheids nach den Vorschriften der Abgabenordnung hinsichtlich der bei der Ermittlung des Gesamtbetrags der Einkünfte nicht ausgeglichenen negativen Einkünfte möglich ist und diese der Steuerfestsetzung tatsächlich zu Grunde gelegt worden sind.

Gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags – und Bindungswirkung der Feststellung

§ 351 Abs. 1 AO gilt bei der Anwendung von § 10d Abs. 4 Satz 4 EStG entsprechend; die Aufzählung in § 10d Abs. 4 Satz 4 2. Halbsatz EStG ist nicht abschließend.

Eine Besteuerungsgrundlage ist der Steuerfestsetzung i.S. von § 10d Abs. 4 Satz 4 EStG nicht „zu Grunde gelegt worden“, soweit sie sich wegen § 351 Abs. 1 AO auf die Höhe der festgesetzten Steuer nicht ausgewirkt hat.

Nach § 10d Abs. 4 Satz 1 EStG ist der am Schluss eines Veranlagungszeitraums verbleibende Verlustvortrag gesondert festzustellen. Verbleibender Verlustvortrag sind die bei der Ermittlung des Gesamtbetrags der Einkünfte nicht ausgeglichenen negativen Einkünfte, vermindert um die nach Abs. 1 abgezogenen und die nach Abs. 2 abziehbaren Beträge und vermehrt um den auf den Schluss des vorangegangenen Veranlagungszeitraums festgestellten verbleibenden Verlustvortrag (§ 10d Abs. 4 Satz 2 EStG). Bei der Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags sind die Besteuerungsgrundlagen so zu berücksichtigen, wie sie den Steuerfestsetzungen des Veranlagungszeitraums, auf dessen Schluss der verbleibende Verlustvortrag festgestellt wird, und des Veranlagungszeitraums, in dem ein Verlustrücktrag vorgenommen werden kann, zu Grunde gelegt worden sind; § 171 Abs. 10, § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und § 351 Abs. 2 AO sowie § 42 FGO gelten entsprechend (§ 10d Abs. 4 Satz 4 EStG i.d.F. des JStG 2010). Nach § 10d Abs. 4 Satz 5 EStG i.d.F. des JStG 2010 dürfen die Besteuerungsgrundlagen bei der Feststellung des gesonderten Verlustvortrags nur insoweit abweichend von der Einkommensteuerfestsetzung des Verlustentstehungsjahres berücksichtigt werden, wie die Aufhebung, Änderung oder Berichtigung der Steuerbescheide ausschließlich mangels Auswirkung auf die Höhe der festzusetzenden Steuer unterbleibt. Dies gilt nach § 52 Abs. 25 Satz 5 EStG i.d.F. des JStG 2010 für alle Verluste, für die -wie im Streitfall der Antrag der Eheleute vom 18.11.2011 auf Verlustfeststellung- nach dem 13.12 2010 eine Erklärung zur Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags abgegeben wird.

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Mit der Regelung des § 10d Abs. 4 Satz 4 EStG i.d.F. des JStG 2010 wird eine inhaltliche Bindung des Verlustfeststellungsbescheids an den Einkommensteuerbescheid erreicht, obwohl der Einkommensteuerbescheid kein Grundlagenbescheid ist1. Daraus folgt, dass im Feststellungsverfahren des verbleibenden Verlustvortrags die Einkünfte nicht eigenständig zu ermitteln sind. Die Bindungswirkung an den Einkommensteuerbescheid greift nach dem Gesetzeswortlaut in § 10d Abs. 4 Satz 4 1. Halbsatz EStG i.d.F. des JStG 2010 ein, wenn die streitigen Besteuerungsgrundlagen „den Steuerfestsetzungen des Veranlagungszeitraums (…) zu Grunde gelegt worden sind“. Danach reicht es für die Berechtigung zum Erlass eines Feststellungsbescheids über den verbleibenden Verlustvortrag oder der Änderung eines solchen Feststellungsbescheids nicht aus, dass sich die Besteuerungsgrundlagen als Bezugsgröße betragsmäßig geändert haben; darüber hinaus ist vielmehr erforderlich, dass diese auch zur Änderung der Steuerfestsetzung führen. Diese zuletzt genannte Voraussetzung sichert die Bestandskraft des vorausgehenden Steuerbescheids; anderenfalls könnten durch den Erlass oder eine Änderung des Feststellungsbescheids in einem bestandskräftigen Steuerbescheid enthaltene Fehler ohne verfahrensrechtliche Rechtsgrundlage nachträglich korrigiert werden. Gründe dafür, dass § 10d Abs. 4 Satz 4 EStG i.d.F. des JStG 2010 abweichend von dem Gesetzeswortlaut auszulegen wäre, sind nicht ersichtlich. Die Bindungswirkung setzt aber voraus, dass eine Einkommensteuerveranlagung (ggf. mit einer festzusetzenden Steuer von 0 EUR) durchgeführt worden ist. Wird der Einkommensteuerbescheid bestandskräftig und berücksichtigt er -wie im Streitfall der Einkommensteuerbescheid vom 13.05.2009- keinen Verlust, kommt eine Verlustfeststellung nur noch in Betracht, wenn und soweit der Steuerbescheid des Verlustentstehungsjahres nach den Vorschriften der Abgabenordnung änderbar ist2. Der erstmalige Erlass eines Feststellungsbescheids über den verbleibenden Verlustvortrag nach § 10d Abs. 4 Satz 4 EStG i.d.F. des JStG 2010 ist danach ebenso wie die Änderung der Verlustfeststellung von der Reichweite der verfahrensrechtlichen Änderungsmöglichkeit der Steuerfestsetzung -d.h. gemäß §§ 164 f., §§ 172 ff. AO- im Verlustentstehungsjahr abhängig. Dass § 10d Abs. 4 Satz 4 EStG i.d.F. des JStG 2010 eine Auswirkung der Besteuerungsgrundlage auf die Höhe der Steuerfestsetzung voraussetzt, wird gesetzessystematisch durch die Vorschrift des § 10d Abs. 4 Satz 5 EStG i.d.F. des JStG 2010 bestätigt, die die Verlustfeststellung im Fall der fehlenden Auswirkung auf die Höhe der festzusetzenden Steuer abschließend regelt und mit der Formulierung des einschränkenden Merkmals „ausschließlich“ klarstellt, dass der Eintritt der formellen Bestandskraft des Einkommensteuerbescheids der Verlustfeststellung entgegensteht, soweit nicht die Voraussetzungen einer Korrekturnorm gegeben sind.

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Dieses Ergebnis folgt auch aus der Gesetzesbegründung3. Denn mit der Neufassung von § 10d Abs. 4 Sätze 4 und 5 EStG durch das JStG 2010 wollte der Gesetzgeber gezielt die Rechtsprechung des BFH aushebeln, wonach ein verbleibender Verlustvortrag auch dann erstmals gemäß § 10d Abs. 4 Satz 1 EStG gesondert festzustellen ist, wenn der Einkommensteuerbescheid für das Verlustentstehungsjahr zwar bestandskräftig ist, darin aber keine ausgeglichenen negativen Einkünfte berücksichtigt worden sind4. Dieser Rechtsprechung lag eine zuvor ergangene Einkommensteuerfestsetzung zu Grunde. Daher geht die Gesetzesbegründung durchgängig davon aus, dass der Erlass eines Feststellungsbescheids dann unterbleiben soll, wenn und soweit der entsprechende Einkommensteuerbescheid bestandskräftig ist und verfahrensrechtlich nicht mehr geändert werden kann. Der Gesetzgeber5 wollte damit verhindern, dass der Steuerpflichtige in größerem zeitlichen Abstand nach der Bestandskraft der Steuerfestsetzung Gründe für den erstmaligen Erlass eines Feststellungsbescheids nach § 10d Abs. 4 EStG vorträgt und dadurch die „Abstimmung der materiellen und formellen Änderungserfordernisse“ von Verlustfeststellung und Steuerfestsetzung des Folgejahres nicht mehr gewährleistet ist.

Aus der dargelegten Verknüpfung von Steuerfestsetzung und Verlustfeststellung folgt, dass die nach § 351 Abs. 1 AO beschränkte Anfechtbarkeit des geänderten Einkommensteuerbescheids vom 11.02.2011 -anders als die Steuerpflichtige meint- auch bei der begehrten Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags nach § 10d Abs. 4 Satz 4 EStG i.d.F. des JStG 2010 zu beachten ist. Mit der in § 10d Abs. 4 Satz 4 2. Halbsatz EStG i.d.F. des JStG 2010 vorgesehenen entsprechenden Anwendung der Regelungen des § 171 Abs. 10, § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 351 Abs. 2 AO und § 42 FGO soll die inhaltliche Bindung des Verlustfeststellungsbescheids an den Einkommensteuerbescheid ausdrücklich bestätigt werden; aus der Nichterwähnung allgemein gültiger Verfahrensvorschriften, wie insbesondere § 351 Abs. 1 AO, ist jedoch angesichts des Normzwecks und der Entstehungsgeschichte des § 10d Abs. 4 Satz 4 EStG i.d.F. des JStG 2010 nicht zu folgern, dass diese von der Anwendung ausgeschlossen werden sollten. Gerade § 351 Abs. 1 AO soll im Interesse der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens verhindern, dass der Steuerpflichtige besser gestellt wird, als er bei Eintritt der Unanfechtbarkeit des geänderten Einkommensteuerbescheids stand, soweit die Abgabenordnung nicht selbst eine Durchbrechung der Bestandskraft zulässt6. Dies ist hier nicht der Fall.

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Nach diesen Maßstäben ist im Streitfall die geltend gemachte Verlustfeststellung auf den 31.12 2006 nicht möglich. Denn der Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr vom 13.05.2009 mit einer festgesetzten Steuer in Höhe von 62.964 EUR ist bestandskräftig und die Voraussetzungen einer Korrekturvorschrift liegen insoweit nicht vor. Die im geändertem Einkommensteuerbescheid vom 16.01.2012 bei der Ermittlung des Gesamtbetrags der Einkünfte im Rahmen der Besteuerungsgrundlagen nicht ausgeglichenen negativen Einkünfte in Höhe von 313.990 EUR wurden aufgrund der nach § 351 Abs. 1 AO beschränkten Anfechtbarkeit des geänderten Einkommensteuerbescheids vom 11.02.2011 und des Saldierungsrahmens nach § 177 Abs. 1 AO bei der mit Datum vom 16.01.2012 festgesetzten Einkommensteuer in Höhe von 62.964 EUR nicht i.S. des § 10d Abs. 4 Satz 4 EStG i.d.F. des JStG 2010 „zugrunde gelegt“ und sind daher -auch nach Berücksichtigung des Verlustrücktrags in den Veranlagungszeitraum 2005- nicht als verbleibender Verlustvortrag festzustellen. Im Ergebnis korrigierte der Einkommensteuerbescheid vom 16.01.2012 lediglich die mit Einkommensteuerbescheid vom 11.02.2011 vorgenommene Erhöhung der Steuerfestsetzung.

Durch diese Auslegung des § 10d Abs. 4 Satz 4 EStG i.d.F. des JStG 2010 wird der Rechtsschutz der Steuerpflichtigen nicht in unzulässiger Weise verkürzt. Die Eheleute hätten die Möglichkeit gehabt, innerhalb der Einspruchsfrist für den Einkommensteuerbescheid vom 13.05.2009 den Erlass eines Feststellungsbescheids über den verbleibenden Verlustvortrag mit der Begründung zu beantragen, dass dem Ehemann -anders als ursprünglich erklärt- im Streitjahr 2006 ein nach § 17 EStG zu berücksichtigender Verlust entstanden sei. Diesem Begehren hätte das Finanzamt entsprechen müssen.

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Eine von der Einkommensteuerfestsetzung abweichende Berücksichtigung der Besteuerungsgrundlagen (allein) im Bescheid über den verbleibenden Verlustabzug nach § 10d Abs. 4 Satz 5 EStG i.d.F. des JStG 2010 ist nicht möglich. Denn die Änderung dieser Einkommensteuerfestsetzung ist nicht allein deshalb unterblieben, weil eine Aufhebung, Änderung oder Berichtigung mangels Auswirkung auf die Höhe der festzusetzenden Steuer nicht möglich war. Vielmehr konnte eine Änderung des Einkommensteuerbescheids für 2006 vom 11.02.2011 insoweit -wie dargelegt- deshalb nicht erfolgen, weil der Einkommensteuerbescheid vom 13.05.2009 bestandskräftig war und insoweit die Voraussetzungen einer Korrekturvorschrift im Streitfall nicht vorlagen.

Bundesfinanzhof, Urteil vom 12. Juli 2016 – IX R 31/15

  1. BFH, Urteile vom 13.01.2015 – IX R 22/14, BFHE 248, 530, BStBl II 2015, 829, Rz 15; vom 10.02.2015 – IX R 6/14, BFH/NV 2015, 812, Rz 13[]
  2. vgl. BFH, Urteil in BFH/NV 2015, 812, Rz 13[]
  3. vgl. BT-Drs. 17/2249, S. 51 rechte Spalte, S. 63 rechte Spalte[]
  4. BFH, Urteil vom 17.09.2008 – IX R 70/06, BFHE 223, 50, BStBl II 2009, 897, m.w.N.[]
  5. BT-Drs. 17/2249, S. 51 rechte Spalte[]
  6. vgl. BFH, Urteil vom 29.09.1977 – VIII R 67/76, BFHE 123, 315, BStBl II 1978, 44, Rz 11; Seer in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 351 AO, Rz 1[]