Hat der Vollstreckungsschuldner einen Antrag auf Steuererlass gestellt, kann eine Vollstreckung wegen der Steuerforderung unbillig sein, wenn mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit mit dem Erfolg des Erlassantrags zu rechnen ist und eine gleichwohl durchgeführte Vollstreckung über die eigentliche Zahlung hinausgehende, nicht oder nur schwer wieder gut zu machende Folgen hätte.

Dem hier vom Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht in Lüneburg entschiedenen Fall des eisntweiligen Rechtsschutzes lag ein Gewerbesteuerbescheid zugrunde, den die Stadt zu vollstrecken versuchte, während der Antragsteller beantragt hatte, die sich aus diesem Gewerbesteuerbescheid ergebende, auf einer Besteuerung von Sanierungsgewinnen beruhende Steuerschuld im Billigkeitswege zu erlassen.
Nach § 24 NVwVG kann die Vollstreckungsbehörde die Vollstreckung ganz oder teilweise einstweilig einstellen, wenn die Vollstreckung auch unter Berücksichtigung der öffentlichen Belange wegen besonderer Umstände für den Vollstreckungsschuldner eine unbillige Härte bedeuten würde. § 24 NVwVG ist hier anwendbar. Nach §§ 3 Abs. 2, 1 Abs. 2 AO gelten für die Realsteuern wie u.a. die Gewerbesteuer im Einzelnen in Bezug genommene Vorschriften der Abgabenordnung entsprechend. Zu den entsprechend anwendbaren Bestimmungen zählen allerdings nicht auch diejenigen über die Vollstreckung. Diese richtet sich nach Landesrecht, hier also nach dem Niedersächsischen Verwaltungsvollstreckungsgesetz1.
Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht sah die Voraussetzungen des § 24 NVwVG als gegeben an: Auch unter Berücksichtigung der öffentlichen Belange würde hier die Vollstreckung für den Antragsteller wegen besonderer Umstände eine unbillige Härte bedeuten. Eine Unbilligkeit ist im Einzelfall anzunehmen, wenn die Vollstreckung dem Schuldner einen unangemessenen Nachteil bringen würde, der etwa durch ein Abwarten vermieden werden könnte. Hat – wie hier – der Vollstreckungsschuldner einen Erlassantrag gestellt, ist die Vollstreckung unbillig, wenn die Voraussetzungen für einen Erlass vorliegen und der vollstreckte Betrag daher unmittelbar nach dessen Beitreibung zurückgezahlt werden müsste. Die Vollstreckung kann auch dann unbillig sein, wenn mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit mit dem Erfolg des Erlassantrags zu rechnen ist und eine gleichwohl durchgeführte Vollstreckung über die eigentliche Zahlung hinausgehende, nicht oder nur schwer wieder gut zu machende Folgen hätte2. So liegt der Fall hier.
Nach summarischer Prüfung ist die Ablehnung des Erlassantrags des Antragstellers durch Bescheid der Antragsgegnerin vom 18. August 2010 ermessensfehlerhaft. Rechtsgrundlage ist §§ 3 Abs. 2, 1 Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 227 HS 1 AO. Nach letztgenannter Vorschrift können Ansprüche aus dem Steuerverhältnis ganz oder teilweise erlassen werden, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Die Antragsgegnerin dürfte bei ihrer Entscheidung über den Erlass von einem unzutreffenden bzw. nicht hinreichend ermittelten Sachverhalt ausgegangen sein und ihr Ermessen nicht in einer dem Zweck der Vorschrift entsprechenden Weise ausgeübt haben. Dazu im Einzelnen:
Soweit sich die Antragsgegnerin auf die Erwägungen des Finanzgerichts München3 beruft und geltend macht, der Gesetzgeber habe die Steuerbefreiung für Sanierungsgewinne in § 3 Nr. 66 EStG a.F. abgeschafft und damit zum Ausdruck gebracht, die hier in Rede stehenden sog. Sanierungsgewinne seien nicht mehr steuerlich zu begünstigen, weswegen eine Anwendung des § 227 AO von vornherein ausscheide, dürften ihre Annahmen nicht tragfähig sein. In seinem Urteil vom 14. Juli 20104 hat der Bundesfinanzhof hierzu ausgeführt, der Gesetzgeber habe zwar § 3 Nr. 66 EStG a.F. aufgehoben, in dem die Steuerfreiheit von (unternehmens- wie unternehmerbezogenen) Sanierungsgewinnen bis einschließlich des Veranlagungszeitraums 1997 spezialgesetzlich geregelt war. Damit hat er jedoch nicht zum Ausdruck gebracht, für Sanierungsgewinne gebe es keine Erlassmöglichkeit. Vielmehr zeigt die Gesetzesbegründung, dass die Steuerbefreiung einen Ausgleich für nicht abziehbare Verluste habe bewirken sollen und dieser Ausgleich seit Einführung eines unbegrenzten Verlustvortrags nicht mehr gerechtfertigt sei. Einzelnen persönlichen oder sachlichen Härtefällen könne –so die Gesetzesbegründung– im Stundungs- und Erlasswege begegnet werden5. Auch in der Begründung des Unternehmensteuerreformgesetzes 20086 ging der Gesetzgeber davon aus, dass von der Besteuerung von Sanierungsgewinnen, die nicht mit Verlustvorträgen verrechnet werden können, ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung im Billigkeitswege nach dem BMF-Schreiben in BStBl I 2003, 240 abgesehen werden könne7. In seiner Stellungnahme zum Gesetz zur verbesserten steuerlichen Berücksichtigung von Vorsorgeaufwendungen (Bürgerentlastungsgesetz Krankenversicherung) vom 3. April 20098 hat der Bundesrat seinen Änderungsantrag zu § 34 Abs. 7b Satz 1 des Körperschaftsteuergesetzes damit begründet, die Steuerbefreiung von Sanierungsgewinnen durch Verwaltungsanweisung (Sanierungserlass) sei nicht ausreichend, negative Effekte zu verhindern. Hinzu kommt, dass nach dem Gesetz zur Umsetzung der Protokollerklärung der Bundesregierung zur Vermittlungsempfehlung zum Steuervergünstigungsabbaugesetz9 Verluste, die weder im Veranlagungszeitraum ihrer Entstehung noch im Wege des Verlustrücktrags ausgeglichen werden können, ab dem Veranlagungszeitraum 2004 (vgl. § 52 Abs. 25 EStG 2004) im Rahmen des Verlustvortrags nur noch begrenzt verrechnungsfähig sind. Angesichts der Verknüpfung der Aufhebung des § 3 Nr. 66 EStG a.F. mit einem unbeschränkten Verlustabzug kommt möglichen Billigkeitsmaßnahmen nach dem BMF-Schreiben in BStBl I 2003, 240 eine besondere Bedeutung zu10. Im Übrigen hat die Rechtsprechung bereits vor Einführung des § 3 Nr. 66 EStG a.F. durch das Körperschaftsteuerreformgesetz11 erkannt, dass der durch eine Sanierung herbeigeführte Gewinn unter bestimmten Voraussetzungen einkommensteuerrechtlich außer Betracht zu bleiben habe12 bzw. die Besteuerung eines Sanierungsgewinns sachlich unbillig sein könne13. Der Auffassung des Finanzgerichts München14, die Finanzverwaltung habe mit dem BMF-Schreiben in BStBl I 2003, 240 eine Verwaltungspraxis contra legem eingeführt, kann daher in dieser Allgemeinheit nicht gefolgt werden.
Danach kommt ein Erlass von auf Sanierungsgewinnen beruhenden Steuern durchaus weiterhin in Betracht. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Erlassvoraussetzungen, wie sie im bereits erwähnten Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom 27. März 200315 definiert sind, vorliegen. Zu erlassen sind danach Steuern auf eine unternehmensbezogene Sanierung, wenn das Unternehmen sanierungsbedürftig und sanierungsfähig ist, der Schulderlass sanierungsgeeignet ist und die Gläubiger eine Sanierungsabsicht haben. Liegt – wie hier – ein Sanierungsplan vor, kann davon ausgegangen werden, dass diese Voraussetzungen erfüllt sind. Die Stadt hat sich in ihrem Bescheid auf den Standpunkt gestellt, das Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom 27. März 2003 entfalte für sie keine Bindungswirkung, sie habe in eigener Zuständigkeit zu prüfen, ob ein Sanierungsgewinn und eine Unbilligkeit für den Gewerbetreibenden vorlägen. Aus Anlass des vorliegenden Eilverfahrens bedarf keiner Klärung, ob und inwieweit diese Auffassung zutrifft. Unabhängig davon gibt es keinen Anhaltspunkt dafür, dass die Antragsgegnerin diese ihr aus ihrer Sicht obliegende Prüfung auch tatsächlich vorgenommen hat. Der Bescheid enthält weder Ausführungen dazu, unter welchen Voraussetzungen sie einen Sanierungsgewinn und eine Unbilligkeit für den Gewerbetreibenden anzunehmen gedenkt, noch eine Erläuterung, warum sie diese Voraussetzungen im Falle des Antragstellers als nicht erfüllt ansieht. Den zu stellenden Anforderungen ist damit nicht Genüge getan.
Nach Lage der Akten spricht alles dafür, dass die im Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom 27. März 200315 definierten Erlassvoraussetzungen hier gegeben sind. Es liegt ein Sanierungsplan vor. Das Finanzamt Cuxhaven hat ausweislich seines Bescheides einen Sanierungsgewinn in Höhe von 50.000,- € bejaht und die hierauf entfallende Steuer mit dem Ziel des Erlasses gestundet. Selbst wenn diese Einschätzung des Finanzamts die Antragsgegnerin nicht binden sollte, stellt sie doch eine gewichtige und durch sie zu berücksichtigende Entscheidungsgrundlage dar16. Dass die Antragsgegnerin die Einschätzung des Finanzamts in ihrer Bedeutung erfasst und sie in ihre Erwägungen einbezogen hat, ist indes nicht erkennbar. Die Antragsgegnerin hat nicht deutlich gemacht, dass sie sich mit dem vom Finanzamt gefundenen Ergebnis auseinandergesetzt hat und aus welchen Gründen sie eine andere Einschätzung für gerechtfertigt hält. Indem sie sich darauf beschränkt hat, das Vorliegen der Erlassvoraussetzungen anzuzweifeln, hat sie die Einschätzung des Finanzamts nicht mit dem gebotenen Gewicht bei ihrer Ermessensentscheidung berücksichtigt.
Es ist in dem für den Erlass einer einstweiligen Anordnung erforderlichen Maße wahrscheinlich, dass die Antragsgegnerin bei der voraussichtlich unter Berücksichtigung der Auffassung des Senats vorzunehmenden Neu- bzw. ergänzenden Bescheidung des Erlassantrags des Antragstellers die Gewerbesteuer zu erlassen haben wird. Dies folgt daraus, dass das Finanzamt Cuxhaven eine Stundung der auf den Sanierungsgewinn entfallenden Steuer mit dem Ziel des Erlasses ausgesprochen hat, und gewichtige Gründe, die eine abweichende Beurteilung rechtfertigen, weder vorgetragen noch dem Senat bei summarischer Prüfung ersichtlich sind. Sie folgen nicht bereits aus der von der Antragsgegnerin angeführten Haushaltslage.
Unter den gegebenen Umständen würde die Vollstreckung dem Antragsteller einen unangemessenen Nachteil bringen. Würde die Vollstreckung durchgeführt, träten voraussichtlich über die eigentliche Zahlung hinausgehende, nicht oder nur schwer wieder gut zu machende Folgen ein. Der Antragsteller hat glaubhaft gemacht, dass er nicht in der Lage ist, Zahlungen auf die festgesetzte Steuer zu leisten. Soweit erkennbar verfügt er nicht mehr über privates Vermögen. Ausweislich des vorgelegten Sanierungsplans (S. 17) hat er sein Wohnhaus veräußert. Der ein Minussaldo ausweisende Kontoauszug ist Beleg dafür, dass ihm die Liquidität für eine Zahlung fehlt. Die Stadtsparkasse Cuxhaven hat bestätigt, dass sie sich in Anbetracht seiner wirtschaftlichen Situation nicht in der Lage sieht, ihm zusätzliche finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen. Vor diesem Hintergrund ist auch sein weiteres Vorbringen glaubhaft, eine Vollstreckung würde dazu führen, dass er die ihm als Arbeitgeber obliegenden Lohn- und Abgabeverpflichtungen nicht mehr nachkommen könnte und er Insolvenz anmelden müsste. Insofern drohen über die Zahlung hinausgehende, nicht wieder gut zu machende Folgen, die den Antragsteller in Anbetracht der Wahrscheinlichkeit des Bestehens eines Erlassanspruchs unverhältnismäßig treffen. Überwiegende öffentliche Belange sind weder dargetan noch erkennbar.
Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 1. April 2011 – 9 ME 216/10
- Klein, AO, Kommentar, 9. Aufl., 2006, § 1 Rdn. 11[↩]
- zu alle dem SächsOVG, Beschluss vom 02.09.2010 – 5 B 555/09; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 11.02.2008 – OVG 9 S 38.07; Klein, AO, Kommentar, 9. Aufl., 2006, § 258 Rdn. 9; Kopp/Schenke, VwGO, Kommentar, 16. Aufl., 2009, § 80 Rdn. 116[↩]
- FG München, Urteil vom 12.12.2007 – 1 K 4487/06, EFG 2008, 615[↩]
- BFH, Urteil vom 14.07.2010 – X R 34/08, BFHE 229, 502[↩]
- BT- Drucks 13/7480, S. 192[↩]
- vom 14.08.2007, BGBl I 2007, 1912[↩]
- BT-Drucks 16/4841, S. 76[↩]
- BR-Drucks 168/09, S. 30[↩]
- vom 22.12.2003, BGBl I 2003, 2840[↩]
- vgl. auch Seer, FR 2010, 306[↩]
- vom 31.08.1976, BGBl I 1976, 2597, BStBl I 1976, 445[↩]
- RFH, Urteil vom 21.10.1931 – VI A 968/31, RFHE 29, 315, RStBl 1932, 160[↩]
- BFH, Urteil in BFHE 176, 3, BStBl II 1995, 297[↩]
- iFG München, Urteil in EFG 2008, 615[↩]
- BStBl. I 2003, 240[↩][↩]
- vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 11.2.2008 – OVG 9 S 38.07[↩]