Wird eine verbindlichen Auskunft nach § 89 Abs. 2 AO infolge einer Gesetzesänderung rückwirkend entwertet, ist ein Billigkeitserlass (§§ 163, 227 AO 1977) nicht aus Gründen des grundrechtlichen Vertrauensschutzes geboten.

In einer jetzt vom Bundesverfassungsgericht nicht zur Entscheidung angenommenen Verfassungsbeschwerde war das Ausgangsverfahren ausgelöst worden durch die durch das Gesetz zur Fortsetzung der Unternehmenssteuerreform vom 29.10.19971 im Hinblick auf das Erfordernis der wirtschaftlichen Identität des Unternehmens verschärfte Regelung zum körperschaftsteuerlichen Verlustabzug (§ 8 Abs. 4 BVerfGtG a.F.; vgl. inzwischen § 8c BVerfGtG). Der Bundesfinanzhof legte mit Vorlagebeschluss vom 08.10.20082 dem Bundesverfassungsgericht die Frage vor, ob der die Anwendung in zeitlicher Hinsicht regelnde § 54 Abs. 6 BVerfGtG a.F. wegen Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG verfassungswidrig ist. Danach war § 8 Abs. 4 BVerfGtG a.F. grundsätzlich ab dem Veranlagungszeitraum 1997 anzuwenden (§ 54 Abs. 6 Satz 1 BVerfGtG a.F.); trat der Verlust der wirtschaftlichen Identität erstmals im Jahr 1997 vor dem 6.08.ein, galt die neue Fassung jedoch erstmals für den Veranlagungszeitraum 1998 (§ 54 Abs. 6 Satz 2 BVerfGtG a.F.). Das Bundesverfassungsgericht wies die Vorlage als unzulässig zurück3. Im Schlussurteil vom 01.10.20144 gab der Bundesfinanzhof die Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit der Übergangsregelung auf.
Der Beschwerdeführerin, eine GmbH, war für ihre geplante Umstrukturierung vom zuständigen Finanzamt eine verbindliche Auskunft erteilt worden, nach der die die wirtschaftliche Identität durch die geplante Umstrukturierung unverändert bleibe und die Gesellschaft zur Verlustberücksichtigung auch nach Übernahme von Beteiligungsbesitz und Firmenänderung berechtigt sei. Diese verbindliche Auskunft stand unter dem Vorbehalt einer Änderung der Gesetzeslage: „Diese verbindliche Auskunft tritt außer Kraft, wenn eine Rechtsvorschrift, auf der die Auskunft beruht, aufgehoben oder geändert wird.“ Nachdem sie zunächst unter Nachprüfungsvorbehalt (§ 164 AO) gemäß der verbindlichen Auskunft veranlagt worden war, wurden diese Bescheide später nach einer Betriebsprüfung geändert, da sich aus der § 8 Abs. 4 BVerfGtG a.F. betreffenden Gesetzesänderung die Notwendigkeit einer Korrektur der Bescheide zu Lasten der GmbH ergeben hätten, was das Finanzgericht Hamburg5 und letztinstanzlich auch der Bundesfinanzhof6 billigten. Die hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde nahm das Bundesverfassungsgericht nicht zur Entscheidung an:
Aus der erteilten verbindlichen Auskunft folgt kein atypischer, singulärer Härtefall und auch keine besondere Vertrauensgrundlage, die von Verfassungs wegen einen Steuererlass aus Billigkeitsgründen notwendig machten.
Nach § 163 AO können Steuern niedriger festgesetzt werden, wenn die Erhebung der Steuer nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre. Unter denselben Voraussetzungen können Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder teilweise erlassen werden (§ 227 AO). Der Zweck der §§ 163, 227 AO liegt darin, sachlichen und persönlichen Besonderheiten des Einzelfalles, die der Gesetzgeber in der Besteuerungsnorm nicht berücksichtigt hat, durch eine nicht den Steuerbescheid selbst ändernde Korrektur des Steuerbetrages insoweit Rechnung zu tragen, als sie die steuerliche Belastung als unbillig erscheinen lassen7.
Die Frage, ob im Einzelfall von der Möglichkeit, den Gesetzesvollzug im Wege des Billigkeitserlasses zu suspendieren, in einem der Wirkkraft der Grundrechte (insbesondere aus Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 3 Abs. 1 GG) ausreichend Rechnung tragenden Maße Gebrauch gemacht worden ist, ist der verfassungsgerichtlichen Prüfung nicht schlechthin entzogen8. Ein Billigkeitserlass kann geboten sein, wenn ein Gesetz, das in seinen generalisierenden Wirkungen verfassungsgemäß ist, bei der Steuerfestsetzung im Einzelfall zu Grundrechtsverstößen führt. Mit Billigkeitsmaßnahmen darf jedoch nicht die Geltung des ganzen Gesetzes unterlaufen werden. Müssten notwendige Billigkeitsmaßnahmen ein derartiges Ausmaß erreichen, dass sie die allgemeine Geltung des Gesetzes aufhöben, wäre das Gesetz als solches verfassungswidrig9.
Die Frage nach der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes und der auf seiner Grundlage ergangenen Steuerbescheide ist kein Gegenstand des Billigkeitsverfahrens10, mag auch die Möglichkeit einer individuellen Billigkeitsmaßnahme zur Vermeidung unbilliger Härten dazu beitragen können, die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes zu bestätigen. Billigkeitsmaßnahmen dürfen nicht die einem gesetzlichen Steuertatbestand innewohnende Wertung des Gesetzgebers generell durchbrechen oder korrigieren, sondern nur einem ungewollten Überhang des gesetzlichen Steuertatbestandes abhelfen11. Typische, den gesetzgeberischen Vorstellungen einer gesetzlichen Regelung entsprechende Folgen vermögen keine sachliche Unbilligkeit zu begründen12. Härten, die dem Besteuerungszweck entsprechen und die der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung eines Tatbestandes bewusst in Kauf genommen hat, können einen Billigkeitserlass nicht rechtfertigen, sondern sind gegebenenfalls durch Korrektur des Gesetzes zu beheben13.
Diejenigen Fragen, welche die abstrakt-generelle Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes betreffen, sind zu unterscheiden von jenen, welche die Unbilligkeit im konkret-individuellen Einzelfall betreffen. Nur letztere sind im finanzbehördlichen und fachgerichtlichen Billigkeitsverfahren zu prüfen und zu entscheiden. Gegenstand der den Billigkeitsantrag betreffenden Verfassungsbeschwerde ist allein die Frage, ob die Entscheidung hierüber den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten verletzt14. Um die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes durch Verfassungsbeschwerde geltend machen zu können, muss die steuerpflichtige Person im Ausgangsverfahren demgegenüber gegen den jeweiligen Steuerbescheid vorgegangen sein15.
Auch soweit unter Hinweis auf die Beschlüsse vom 07.07.201016 versucht wird, eine verfassungsrechtliche Gebotenheit der abweichenden Steuerfestsetzung gemäß § 163 AO aus Art. 2 Abs. 1, Art.20 Abs. 3 GG abzuleiten, blieb dieses Argument vor dem Bundesverfassungsgericht ohne Erfolg. Denn die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrauensschutz bei rückwirkenden Steuergesetzen17 bezieht sich wiederum auf die Gesetzesebene und damit auf die Frage, ob und inwieweit ein Gesetz generell verfassungsgemäß oder verfassungswidrig ist. Sie enthält keine unmittelbaren Maßgaben für die verfassungsrechtliche Gebotenheit einzelfallbezogener Billigkeitsentscheidungen in atypischen Fällen.
Abs. 1 GG ist nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ebenfalls nicht verletzt. Für das Bundesverfassungsgericht konnte dabei offenbleiben, ob der maßgebliche Prüfungsmaßstab für die Frage der verfassungsrechtlichen Gebotenheit der von der Beschwerdeführerin begehrten Billigkeitsmaßnahme dem Art. 2 Abs. 1 GG (Übermaßverbot) oder dem Art. 3 Abs. 1 GG (Atypik wegen verbindlicher Auskunft, auf deren Grundlage durch Vollzug der Umstrukturierung irreversibel disponiert wurde) zu entnehmen ist oder ob beide Grundrechte sich im Kontext der Billigkeitsmaßnahmen ergänzen. Die von der Beschwerdeführerin für die Jahre 1998 und 1999 beantragte abweichende Steuerfestsetzung zwecks Berücksichtigung verloren gegangener Verlustabzüge war von Verfassungs wegen jedenfalls nicht geboten.
Es ist keine Frage einer Billigkeitsmaßnahme, ob Verlustvorträge angesichts der Verschärfung der Regeln über die dafür vorausgesetzte wirtschaftliche Identität der Unternehmen aus der Zeit bis 1996 vorliegend über das Jahr 1997 hinaus auch in den Jahren 1998 und 1999 nutzbar bleiben müssen. Der Fall der Beschwerdeführerin birgt insofern keine singuläre Atypik, sondern eine Frage, welche die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes insgesamt betrifft. Deren Entscheidung obliegt nicht der Finanzbehörde im Billigkeitsverfahren.
Kernargument der von der Beschwerdeführerin geltend gemachten Atypik ist die von ihr im Jahr 1996 erhaltene verbindliche Auskunft. Ihr Zweck bestand darin, vor Durchführung der geplanten Umstrukturierung Gewissheit zu erlangen, wie das Finanzamt das geltende Recht auf den konkret geplanten Sachverhalt anwenden würde. Nur insoweit, nicht auch im Hinblick auf zukünftige Gesetzesänderungen erlangte die Beschwerdeführerin als Empfängerin der verbindlichen Auskunft eine rechtlich abgesicherte Position.
Durch den Bezug auf das geltende Recht ist zugleich die Grenze der Reichweite eines Vertrauensschutzes gezogen, der aus der verbindlichen Auskunft abgeleitet werden kann. Eine verbindliche Auskunft vermag gegenüber der Rückwirkung von Gesetzen keine verstärkte Vertrauensbasis zu begründen und führt aufgrund ihrer Beschränkung auf die geltende Rechtslage in Bezug auf künftige Rechtsänderungen nicht zu einer höheren Schutzwürdigkeit der Empfänger im Vergleich zu anderen Steuerpflichtigen. Wie schon in ihrem Text zum Ausdruck kommt („Diese verbindliche Auskunft tritt außer Kraft, wenn eine Rechtsvorschrift, auf der die Auskunft beruht, aufgehoben oder geändert wird.“), kann die verbindliche Auskunft nicht mehr gelten, wenn eine Gesetzesänderung in Kraft tritt, die den mit dem Antrag auf verbindliche Auskunft unterbreiteten Sachverhalt betrifft. Entsprechend ist in § 2 Abs. 2 der Verordnung zur Durchführung von § 89 Abs. 2 AO (Steuer-Auskunftsverordnung) geregelt, dass die Bindungswirkung der verbindlichen Auskunft ab dem Zeitpunkt entfällt, in dem die Rechtsvorschriften, auf denen die Auskunft beruht, aufgehoben oder geändert werden. Die Wirkung der verbindlichen Auskunft entfällt mit dem Inkrafttreten einer relevanten Neuregelung vollständig, ohne dass insoweit zu irgendeinem Zeitpunkt ein zusätzliches Vertrauen bestanden hätte oder zur Entstehung gelangen konnte.
Ginge man davon aus, dass der Gesetzgeber vorher erteilte verbindliche Auskünfte beim Erlass unecht rückwirkender Gesetze besonders zu berücksichtigen hätte, wäre dies im Übrigen regelmäßig eine in abstrakt-genereller Weise behandelbare und damit die Verfassungsmäßigkeit der rückwirkenden Inkraftsetzung allgemein betreffende Fragestellung. Nichts anderes gilt für die Frage des Dispositionsschutzes, die ein typischer Gegenstand der verfassungsrechtlichen Überprüfung einer rückwirkenden Norm ist und nicht allein wegen einer hinzutretenden verbindlichen Auskunft zum geltenden Recht nur noch unter dem Aspekt einer atypische Fälle betreffenden Billigkeitsmaßnahme zu diskutieren ist.
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 11. Mai 2015 – 1 BvR 741/14
- BGBl I S. 2590[↩]
- BVerfG, Beschluss vom 08.10.2008 – I R 95/04, BFHE 223, 105[↩]
- BVerfG, Beschluss vom 01.04.2014 – 2 BvL 2/09[↩]
- BFH; vom 01.10.2014 – I R 95/04, BFHE 247, 246[↩]
- FG Hamburg, Urteil vom 17.05.2013 – 6 K 199/12[↩]
- BFH, Beschluss vom 17.12.2013 – I B 106/13[↩]
- vgl. z.B. BFH, Urteil vom 20.09.2012 – IV R 29/10, BFHE 238, 518; und vom 17.04.2013 – X R 6/11, BFH/NV 2013, S. 1537[↩]
- vgl. BVerfGE 48, 102, 114[↩]
- vgl. BVerfGE 48, 102, 116[↩]
- vgl. BVerfGE 48, 102, 117[↩]
- vgl. BVerfGE 48, 102, 116; 99, 246, 267; 99, 268, 272; 99, 273, 279[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 03.09.2009 – 1 BvR 2539/07, NVwZ 2010, S. 902, 904[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 13.12 1994 – 2 BvR 89/91, NVwZ 1995, S. 989, 990[↩]
- vgl. BVerfGE 48, 102, 117 f.[↩]
- vgl. BVerfGE 48, 102, 118[↩]
- vgl. BVerfGE 127, 1; 127, 31; 127, 61[↩]
- vgl. zur unechten Rückwirkung zuletzt BVerfGE 127, 1; 127, 31; 127, 61; 132, 302[↩]