Vorläufigkeitsvermerk bei der Mindestbesteuerung

Die abstrakte Möglichkeit, dass in späteren Veranlagungszeiträumen Ereignisse eintreten, die (als sog. Definitiveffekte) im Rahmen einer verfassungskonformen Auslegung der Regelungen zur sog. Mindestbesteuerung auf den Veranlagungszeitraum zurückwirken könnten, führt nicht zu einer Ungewissheit i.S. des § 165 Abs. 1 Satz 1 AO darüber, ob die Voraussetzungen für die Entstehung einer Steuer in diesem Veranlagungszeitraum eingetreten sind.

Vorläufigkeitsvermerk bei der Mindestbesteuerung

Da § 165 Abs. 1 Satz 1 und 2 AO es in das Ermessen der Finanzbehörde stellt1, ob einem Steuer- oder einem Feststellungsbescheid ein Vorläufigkeitsvermerk beigefügt wird, kann die entsprechende Entscheidung im Finanzprozess nur eingeschränkt überprüft werden: Sind die tatbestandlichen Voraussetzungen erfüllt und hat das Finanzamt den für die Ermessensausübung maßgeblichen Sachverhalt vollständig ermittelt sowie seine Entscheidung hinreichend begründet (§ 121, ggf. i.V.m. § 126 AO; vgl. auch § 102 Satz 2 FGO), ist die gerichtliche Kontrolle (bezogen auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung) nach § 102 Satz 1 FGO darauf beschränkt, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten worden sind (sog. Ermessensüberschreitung), ob das Finanzamt von seinem Ermessen in einer dem Zweck der (Ermessens-)Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht (sog. Ermessensfehlgebrauch) oder ein ihm zustehendes Ermessen nicht ausgeübt hat (sog. Ermessensunterschreitung) oder ob die Behörde die verfassungsrechtlichen Schranken der Ermessensbetätigung, insbesondere den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, missachtet hat2.

Die Ermessensentscheidung des Finanzamt ist im hier vom Bundesfinanzhof entschiedenen Fall schon deswegen fehlerfrei ergangen, weil der Gegenstand des klägerischen Begehrens -eine hinsichtlich der Anwendung der sog. Mindestbesteuerung vorläufige Steuerfestsetzung bzw. Feststellung im Hinblick auf den möglichen zukünftigen Verlust der Verlustvorträge- den Tatbestand des § 165 Abs. 1 AO nicht erfüllt.

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Aufhebung des Vorläufigkeitsvermerks durch das Finanzgericht

Zwar kann nach § 165 Abs. 1 Satz 1 AO eine Steuer vorläufig festgesetzt werden, soweit ungewiss ist, ob die Voraussetzungen für die Entstehung einer Steuer eingetreten sind. Dieser Regelungsinhalt gilt sinnentsprechend für die Feststellung von Besteuerungsgrundlagen (§ 181 Abs. 1 Satz 1 AO). Eine solche Ungewissheit bei der Entstehung der Steuer und im Zusammenhang mit der Feststellung der Besteuerungsgrundlagen des Streitjahres 2004 bestand jedoch nicht.

Die im Gesetz angesprochene Ungewissheit bezieht sich nach ständiger Rechtsprechung des BFH auf die Tatsachengrundlage eines Steuertatbestands; eine Unsicherheit in der steuerrechtlichen Beurteilung eines feststehenden Sachverhalts rechtfertigt die Anordnung der Vorläufigkeit nicht3. Diese Auffassung wird im Schrifttum geteilt4. Dass § 165 Abs. 1 Satz 2 AO erweiternd auch rechtliche Gesichtspunkte in den Tatbestandsbereich des § 165 AO einbezieht, indem „diese Regelung“ (als Satz 1) für die dort (in Nr. 1 bis 4) explizit angeführten Situationen „auch anzuwenden (ist)“, berührt den durch Satz 1 der Regelung auf die tatsächlichen Sachumstände beschränkten Anwendungsbereich des § 165 Abs. 1 Satz 1 AO nicht.

An einem solchen „vorübergehenden Aufklärungshindernis“5 im Rahmen der Sachverhaltsermittlung fehlt es. Die Steuerfestsetzungen und die Feststellungen beruhen auf einem vollständig ermittelten und unstreitigen Sachverhalt, der nach Maßgabe des im Veranlagungs- und Feststellungszeitraum geltenden Rechts (§ 38 AO) zur Anwendung der sog. Mindestbesteuerung führt.

Ansatzpunkt für das klägerische (Verpflichtungs-)Begehren ist die Frage, ob ein aus der Perspektive des Steuerentstehungszeitpunktes (Ablauf des 31.12.2004) in der Zukunft möglicherweise eintretendes Ereignis aus verfassungsrechtlichen Gründen auf das Streitjahr zurückwirken wird6 und dort zu einer veränderten Steuerfestsetzung und Feststellung führt. Sie verweist insoweit darauf, es drohe der Eintritt eines sog. Definitiveffekts durch ihr zwar bisher nicht bekannte, aber wegen der in das Ausland reichenden Beteiligungskette ihrer Gesellschafter nicht ausgeschlossene „schädliche Beteiligungserwerbe“ i.S. des § 8c Abs. 1 Satz 2 KStG 2002 n.F. (als tatbestandsrelevante mittelbare Beteiligungserwerbe) in 2008, die im Zuge der wegen einer Außenprüfung noch offenen Veranlagung dieses Jahres Anlass für eine Kürzung des Verlustvortrags sein könnten7.

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Begrenzung der gewerbesteuerlichen Verlustverrechnung

Ob ein -aus der Sicht des Streitjahres- zukünftiges Ereignis in 2008 (oder in Folgejahren) eintreten wird, das den Steueranspruch möglicherweise -und in Abhängigkeit von einer bisher ungeklärten Rechtsfrage zur verfassungskonformen Auslegung der Mindestbesteuerung- rückwirkend beeinträchtigt, begründet aber eine Ungewissheit, die bezogen auf den Entstehungszeitpunkt der Steuer (§ 38 AO) unaufklärbar und nicht -wie für eine „Ungewissheit im Tatsächlichen“ erforderlich- „nur“ mit einem Aufklärungshindernis behaftet ist8. Insoweit besteht keine Parallele zur materiell-rechtlichen Grundlage für die Rückwirkung eines zukünftigen verlustvortragsgefährdenden Ereignisses9. Auch wenn ein etwaiges tatsächliches Ereignis (hier: ein schädlicher Beteiligungserwerb in 2008) Ausgangspunkt der Beurteilung sein mag, geht es im Kern doch immer um eine Rechtsfrage, welche sodann in mehreren voneinander zu unterscheidenden Ebenen der rechtlichen Subsumtion zu beantworten ist (sog. Definitivsituation; verfassungswidriger Eingriff in den Kernbereich des Verlustabzugs; Möglichkeit der verfassungskonformen Einschränkung der Regelungen zur sog. Mindestbesteuerung).

Auch die Voraussetzungen des § 165 Abs. 1 Satz 2 AO sind nicht erfüllt.

Zwar können eine Steuerfestsetzung und Feststellung nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO10 auch dann vorläufig ergehen, wenn die Vereinbarkeit eines Steuergesetzes mit höherrangigem Recht Gegenstand eines Verfahrens bei dem Gerichtshof der Europäischen Union, dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) oder einem obersten Bundesgericht ist. Doch ist dieser Anwendungsgrund im Streitjahr nicht einschlägig, weder im Hinblick auf den Gleichbehandlungsgrundsatz durch eine Ermessensbindung infolge einer entsprechenden allgemeinen behördlichen Weisung11, noch im Hinblick auf die ansonsten bestehende Notwendigkeit, ein entsprechendes Klageverfahren nach § 74 FGO auszusetzen12.

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Die unzutreffende Auslegung eines Klageantrags

Insoweit hat das Finanzgericht Köln13 zu Recht darauf verwiesen, dass das zum BFH-Beschluss in BFHE 230, 445, BStBl II 2011, 826 ergangene Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom 19.10.201114 nur für bestimmte Konstellationen die Aussetzung der Vollziehung (AdV) angewiesen, aber keine Ausführungen zu einem Vorläufigkeitsvermerk gemacht hat. Es besteht auch keine Verpflichtung für die Aussetzung eines gerichtlichen Verfahrens nach § 74 FGO. Eine solche Aussetzung kann ausgelöst werden, wenn ein nicht offensichtlich aussichtsloses Musterverfahren beim BVerfG anhängig ist, dessen Gegenstand die Verfassungsmäßigkeit einer im Streitfall entscheidungserheblichen gesetzlichen Regelung und nicht (nur) die Verfassungsmäßigkeit der Auslegung und Anwendung an sich verfassungsgemäßer Normen ist, und zahlreiche Parallelverfahren anhängig sind. An alldem fehlt es im Streitfall. So betrifft die beim Bundesverfassungsgericht anhängige Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des Bundesfinanzhofs in BFHE 238, 419, BStBl II 2013, 51215 die Steuerfestsetzung (begehrt wird die Nichtanwendung der streitbefangenen Mindestbesteuerungsvorschriften) und nicht die Frage der Anwendung des § 165 Abs. 1 AO, und damit einen davon zu unterscheidenden Streitgegenstand16. Selbst wenn man aber der Auffassung wäre, dass der vorgreifliche Rechtsstreit, dessentwegen der Vorläufigkeitsvermerk erfolgen soll, seinerseits nicht die Anwendung des § 165 Abs. 1 AO zum Gegenstand haben muss, ändert sich für die hier zu beurteilende Situation nichts. Denn Gegenstand des beim Bundesverfassungsgericht anhängigen Verfahrens ist die Frage, ob ein sog. Definitiveffekt schon aus einer aktuell und voraussichtlich auch zukünftig gewinnlosen Geschäftstätigkeit erwächst; es ist dies nicht die Frage der in die Vergangenheit zurückwirkenden künftigen Definitivsituation.

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Vorläufige Festsetzung des Gewerbesteuermessbetrags

Gleichermaßen scheidet im Streitfall eine Vorläufigkeitserklärung nach Maßgabe des Anwendungsgrundes des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AO aus. Dafür müsste die Auslegung eines Steuergesetzes Gegenstand eines Verfahrens bei dem BFH sein. Auch daran aber fehlt es hier.

Der Bundesfinanzhof hat in seinem Beschluss in BFHE 230, 445, BStBl II 2011, 826 allerdings eine verfassungskonforme Auslegung der Regelungen zur sog. Mindestbesteuerung erwogen und in diesem Zusammenhang ausgeführt, ein solches Auslegungsergebnis ließe sich „verfahrensrechtlich … durch die Beifügung eines Vorläufigkeitsvermerks i.S. des § 165 Abs. 1 Satz 1 … (AO) … in den Fällen einer Besteuerung … absichern“. Ein Anspruch der Klägerin auf Vorläufigkeitserklärung kann daraus aber nicht abgeleitet werden. Es handelte sich insoweit um eine für das dortige Verfahren um AdV nicht entscheidungserhebliche Äußerung, die nicht unbesehen auf alle Fallgestaltungen übertragbar ist.

Schließlich kann der Klägerin auch nicht geholfen werden, sollte ihr für den Fall eines späteren „Definitivwerdens“ der Verlustabzugserschwernisse, welche durch die Mindestbesteuerung ausgelöst werden, möglicherweise keine anderweitige verfahrensrechtliche Handhabe zur Bescheidänderung zur Verfügung stehen. Die Klägerin macht dazu geltend, eine rückwirkende Korrektur nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO drohe wegen Zeitablaufs zu scheitern, obschon die Festsetzungs- und Feststellungsfrist nach Maßgabe von § 175 Abs. 1 Satz 2 AO hinausgeschoben werde. Denn die Fristen begännen danach mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem das rückwirkende Ereignis eintritt; das aber sei bei einem schädlichen Beteiligungserwerb i.S. des § 8c Abs. 1 Satz 2 KStG 2002 n.F. in 2008 der Zeitpunkt der Übertragung des wirtschaftlichen Eigentums und nicht der Zeitpunkt, in welchem der den gesetzlich entstandenen Steueranspruch lediglich konkretisierende Änderungsbescheid unter erstmaliger Anwendung des § 8c KStG 2002 n.F. für das Jahr 2008 bekanntgegeben werde. Dem braucht hier indessen nicht weiter nachgegangen zu werden. Selbst wenn das zuträfe, könnten die Tatbestandsvoraussetzungen des § 165 Abs. 1 AO auch dadurch nicht erweitert werden.

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Der Vorläufigkeitsvermerk im Steuerbescheid - und das Rechtsschutzbedürfnis

Bundesfinanzhof, Urteil vom 17. Dezember 2014 – I R 32/13

  1. s. z.B. BFH, Urteile vom 07.02.1992 – III R 61/91, BFHE 167, 279, BStBl II 1992, 592; vom 11.02.2009 – X R 51/06, BFHE 226, 1, BStBl II 2009, 892[]
  2. z.B. BFH, Urteil vom 28.08.2012 – I R 10/12, BFHE 239, 1, BStBl II 2013, 266; BFH, Urteil vom 24.04.2014 – IV R 25/11, BFHE 245, 499, BStBl II 2014, 819[]
  3. z.B. BFH, Beschluss vom 08.07.1998 – I B 111/97, BFHE 186, 313, BStBl II 1998, 702, m.w.N.; s.a. BFH, Urteil vom 04.09.2008 – IV R 1/07, BFHE 222, 220, BStBl II 2009, 335[]
  4. z.B. Buciek in Beermann/Gosch, AO § 165 Rz 17 f.; Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 165 AO Rz 7; Klein/Rüsken, AO, 12. Aufl., § 165 Rz 5, 16; Seer in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 165 AO Rz 7 f.[]
  5. Seer in Tipke/Kruse, a.a.O., § 165 AO Rz 8[]
  6. s. insoweit BFH, Beschluss vom 26.08.2010 – I B 49/10, BFHE 230, 445, BStBl II 2011, 826[]
  7. s. dazu allgemein z.B. Dötsch/Pung, Der Betrieb 2008, 1706; Suchanek/Jansen, GmbH-Rundschau -GmbHR- 2009, 412; Kraft/Kraft, Finanz-Rundschau 2011, 841[]
  8. s. insoweit auch Buciek in Beermann/Gosch, AO § 165 Rz 32; Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 165 AO Rz 10; Klein/Rüsken, a.a.O., § 165 Rz 16; im Ergebnis auch Klomp, GmbHR 2012, 675, 680[]
  9. zu Grenzen für eine Wirkung eines prognostizierten zukünftigen sog. Definitiveffekts im Rahmen der Steuerfestsetzung s. aber auch das BFH, Urteil vom 22.08.2012 – I R 9/11, BFHE 238, 419, BStBl II 2013, 512[]
  10. i.d.F. des Gesetzes zur Umsetzung der Amtshilferichtlinie sowie zur Änderung steuerlicher Vorschriften -Amtshilferichtlinie-Umsetzungsgesetz- vom 26.06.2013, BGBl I 2013, 1809, BStBl I 2013, 790[]
  11. s. insoweit Nr. 6 Satz 2 des sog. AO-Anwendungserlasses zu § 165 AO[]
  12. BFH, Urteil in BFHE 167, 279, BStBl II 1992, 592[]
  13. FG Köln, Urteil vom 11.04.2013 – 13 K 889/12[]
  14. BMF, Schreiben vom 19.10.2011, BStBl I 2011, 974[]
  15. BVerfG – 2 BvR 2998/12[]
  16. s. z.B. BFH, Urteil in BFHE 226, 1, BStBl II 2009, 892; BFH, Urteil vom 23.01.2013 – I R 35/12, BFHE 240, 140, BStBl II 2013, 508[]
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Verdeckte Gewinnausschüttung