Ergänzender Haftungsbescheid nach Lohnsteueraußenprüfung

Das Finanzamt ist zum Erlass eines ergänzenden Haftungsbescheids berechtigt, wenn die Erhöhung der dem ersten Haftungsbescheid zu Grunde liegenden Lohnsteuerschuld auf neuen im Rahmen einer Außenprüfung festgestellten Tatsachen beruht. Dass die Lohnsteuerschuld und damit der Haftungsanspruch im Zeitpunkt des Erlasses des ersten Haftungsbescheids bereits materiell-rechtlich entstanden waren, steht einer weiteren Haftungsinanspruchnahme nicht entgegen.

Ergänzender Haftungsbescheid nach Lohnsteueraußenprüfung

Mit dieser Begründung sah der Bundesfinanzhof in einem aktuellen Fall das Finanzamt nicht durch den ersten Haftungsbescheid gehindert, in dem zweiten Haftungsbescheid auch die in der Lohnsteueraußenprüfung für das zweite bis vierte Quartal 2005 ermittelten weiteren Lohnsteuern zu erfassen und den Arbeitgeber hierfür als Haftungsschuldner (§ 69 Satz 1 i.V.m. § 34 Abs. 1 AO) in Anspruch zu nehmen.

Der Bundesfinanzhof hat in seinem Urteil vom 25. Mai 20041 entschieden, dass für die Zulässigkeit eines neben einen bereits bestehenden Haftungsbescheid gegenüber einem bestimmten Haftungsschuldner tretenden weiteren Haftungsbescheids entscheidend ist, ob dieser den gleichen Gegenstand regelt wie der bereits ergangene Haftungsbescheid oder ob die Haftungsinanspruchnahme für verschiedene Sachverhalte oder zu verschiedenen Zeiten entstandene Haftungstatbestände erfolgen soll. Nur im letzten Fall handele es sich um Haftungsfälle, die nicht voneinander abhingen und zu rechtlich selbständigen Haftungsansprüchen führten, die Gegenstand verschiedener Haftungsbescheide sein könnten. Gegenstand eines Haftungsbescheids, mit dem der Haftungsschuldner aufgrund eines bestimmten Haftungstatbestands für eine Jahressteuerschuld des Steuerschuldners in Anspruch genommen werden soll, sei stets der gesamte zum 31.12. des Kalenderjahres entstandene Steueranspruch und nicht ein Teilanspruch.

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In dem entschiedenen Fall war der Gesellschafter-Geschäftsführer in einem ersten Haftungsbescheid nur hinsichtlich eines Teilbetrags der festgesetzten Umsatzsteuer, der nicht von der Vollziehung ausgesetzt war, in Haftung genommen worden. Mit dem zweiten Haftungsbescheid wurde der bei Erlass des ersten Haftungsbescheids von der Vollziehung ausgesetzte Restbetrag der Gesamtrückstände eingefordert. Bei dieser Sachverhaltskonstellation hat der Bundesfinanzhof den Erlass eines ergänzenden Haftungsbescheids für unzulässig angesehen, weil der erste Bescheid über denselben Sachverhalt entschieden hat wie auch der zweite und die Inanspruchnahme auf eine zu niedrige Haftungssumme auf einer rechtsirrtümlichen Beurteilung des Sachverhalts oder einer fehlenden Ermessensentscheidung beruhte.

Die Sachverhaltskonstellation im hier vom Bundesfinanzhof entschiedenen Streitfall unterscheidet sich hiervon wesentlich: Während im ersten Urteil2 den Haftungsbescheiden eine festgesetzte Jahressteuerschuld zu Grunde lag, betraf im Streitfall der erste Haftungsbescheid lediglich angemeldete bzw. geschätzte Lohnsteuern, während der zweite Haftungsbescheid die Lohnsteuer erfasste, die auf die –erst durch die Lohnsteueraußenprüfung ermittelten und nicht versteuerten– Spesenzahlungen entfiel. Erst durch die –nach Erlass des ersten Haftungsbescheids durchgeführte– Lohnsteueraußenprüfung wurde festgestellt, dass an die Arbeitnehmer der Ltd. Spesen gezahlt worden sind, die zu Unrecht nicht der Lohnsteuer unterworfen wurden. Dieser Sachverhalt war dem Finanzamt im Gegensatz zu der Konstellation des v BFH-Urteils2 bei Erlass des ersten Haftungsbescheids –dem die unrichtige Anmeldung für das zweite und die Schätzungsbescheide für das dritte und vierte Kalendervierteljahr 2005 zu Grunde lagen– nicht bekannt und konnte folglich bei Erlass des Bescheids auch nicht berücksichtigt werden. Somit lag seitens des Finanzamt im Streitfall, anders als im ersten BFH-Urteil2 bei der Inanspruchnahme auf eine zu niedrige Haftungssumme durch den ersten Haftungsbescheid weder eine rechtsirrtümliche Sachverhaltsbeurteilung noch eine fehlende Ermessensentscheidung, sondern eine unvollständige Sachverhaltskenntnis zu Grunde.

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In dem ersten Urteil2 hat der Bundesfinanzhof ausdrücklich offengelassen, ob eine Nachforderung weiterer Haftungsbeträge ohne vorherige Rücknahme oder Widerruf eines bereits ergangenen Haftungsbescheids nach Maßgabe der allgemeinen Grundsätze des Vertrauensschutzes zulässig wäre und für die Fälle in Betracht kommen könnte, in denen die Haftungsinanspruchnahme durch Erlass eines weiteren Bescheids veränderten Sachverhalten angepasst werden soll, so z.B. bei einer Erhöhung der Steuerschuld, für die der Haftungsschuldner in Anspruch genommen worden ist, infolge des Bekanntwerdens neuer Tatsachen oder eines Rechtsbehelfsverfahrens.

Der Streitfall gibt Anlass, insoweit die BFHsrechtsprechung fortzuentwickeln:

Der vom Bundesfinanzhof2 aufgestellte Rechtssatz, wonach einem weiteren –ergänzenden– Haftungsbescheid ein erster Haftungsbescheid entgegensteht, in dem der Haftungsbetrag zu niedrig festgesetzt worden ist, obwohl die Steuerschuld, für die gehaftet werden soll, tatsächlich mit einem höheren Betrag entstanden ist, ist vor dem Hintergrund der konkret entschiedenen Sachverhaltskonstellation zu verstehen. Ihm kann jedoch keine allgemein gültige Aussage dahingehend zukommen, dass in einem solchen Fall stets eine spätere weitere Haftungsinanspruchnahme ausgeschlossen sein soll. Es kann nämlich Fallkonstellationen geben, in denen –wie im Streitfall– die Erhöhung der Steuerschuld auf neuen Tatsachen beruht, die das Finanzamt mangels Kenntnis im ersten Haftungsbescheid nicht berücksichtigen konnte. In solchen Fällen hält der Bundesfinanzhof einen ergänzenden Haftungsbescheid für zulässig.

Auch nach Maßgabe der allgemeinen Grundsätze des Vertrauensschutzes3 ist in der Konstellation des Streitfalls der Erlass des zweiten Haftungsbescheids nicht zu beanstanden, auch wenn dem ersten Haftungsbescheid kein ausdrücklicher Vorbehalt zu entnehmen war, zunächst nur einen Teilbetrag der Steuerschuld geltend machen zu wollen4. Da die Lohnsteueranmeldung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung steht (§§ 168, 164 AO) und eine Schätzung naturgemäß ungewiss ist, musste die als Haftungsschuldnerin in Anspruch genommene Klägerin bei einer Erhöhung der Lohnsteuerschuld infolge einer Außenprüfung mit einem ergänzenden Nachforderungsbescheid rechnen.

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Auf Vertrauensschutz kann sich die Klägerin im hier entschiedenen Fall darüber hinaus schon deshalb nicht berufen, weil sie durch die unzutreffende Lohnsteueranmeldung für das zweite Kalendervierteljahr 2005 und durch die fehlenden Lohnsteueranmeldungen für das dritte und vierte Kalendervierteljahr 2005 die zu geringe erste Haftungsinanspruchnahme selbst verursacht hat. Daran ändert auch nichts, dass das Finanzamt das Ergebnis der Lohnsteueraußenprüfung nicht abgewartet und erst danach einen einzigen –das Ergebnis der Lohnsteueraußenprüfung berücksichtigenden „umfassenden“– Haftungsbescheid erlassen hat. Allein aus der zeitlichen Nähe zwischen dem ersten Haftungsbescheid (14. Juni 2006) und der Lohnsteueraußenprüfung (Juli und August 2006) kann eine erhöhte Schutzwürdigkeit der Klägerin und damit die Unzulässigkeit des zweiten ergänzenden Haftungsbescheids nicht hergeleitet werden.

Auch im Übrigen ist der zweite Haftungsbescheid rechtmäßig.

Die Klägerin hat durch die Nichtabführung der einzubehaltenden und anzumeldenden Lohnsteuer die ihr als Geschäftsführerin der Ltd. obliegenden steuerlichen Pflichten zumindest grob fahrlässig verletzt5. Denn als Geschäftsführerin und gesetzlicher Vertreterin der Ltd. i.S. des § 34 Abs. 1 AO oblag ihr die Pflicht zur Einbehaltung und fristgerechten Abführung der angemeldeten Lohnsteuerabzugsbeträge (§ 38 Abs. 3 Satz 1 und § 41a EStG).

Zwischen der schuldhaften Pflichtverletzung der Klägerin und dem Eintritt des durch die Nichtentrichtung der Lohnsteuer entstandenen Vermögensschadens besteht auch ein adäquater Kausalzusammenhang.

Die Pflicht der Klägerin zur Entrichtung der Lohnsteuer entfällt auch nicht aufgrund etwaiger Liquiditätsprobleme der Ltd. Zwar hat das FG offengelassen, ab welchem Zeitpunkt sich die Ltd. in einem Liquiditätsengpass befand. Der Bundesfinanzhof kann die Frage gleichwohl dahingestellt lassen, ob und zu welchen Zeitpunkten in den Jahren 2005 und 2006 die Ltd. über ausreichende finanzielle Mittel verfügte, aufgrund derer die Klägerin in der Lage war, die einzubehaltende und anzumeldende Lohnsteuer zu entrichten. Jedenfalls hätte ein –vom FG nicht festgestellter– Liquiditätsengpass der Ltd. ihre Pflicht, die Lohnsteuer abzuführen, nicht entfallen lassen; ggf. hätten die Löhne entsprechend gekürzt ausgezahlt werden müssen6.

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Unerheblich ist auch, dass offensichtlich die Lohnsteueranmeldungen nicht gemäß § 164 Abs. 2 AO aufgrund der Ergebnisse der Lohnsteueraußenprüfung geändert worden sind. Denn der Haftungsanspruch entsteht unabhängig von der Fälligkeit oder der Festsetzung der Steuer, sobald der Tatbestand verwirklicht ist, der zum Entstehen der Steuerschuld führt (§ 38 AO); daher kommt es auf die Festsetzung der Steuerschuld nicht an7. Lohnsteuer entsteht nach § 38 Abs. 2 Satz 2 EStG in dem Zeitpunkt, in dem der Arbeitslohn dem Arbeitnehmer zufließt. Der Anspruch auf Abführung der Lohnsteuer, der Grundlage der Steuerfestsetzung ist, entsteht somit nicht erst mit der Abgabe der Lohnsteueranmeldung8.

Bundesfinanzhof, Urteil vom 15. Februar 2011 – VII R 66/10

  1. BFH, Urteil vom 25.05.2004 – VII R 29/02, BFHE 205, 539, BStBl II 2005, 3[]
  2. in BFHE 205, 539, BStBl II 2005, 3[][][][][]
  3. vgl. BFH, Urteil in BFHE 205, 539, BStBl II 2005, 3[]
  4. vgl. dazu Rüsken, Entscheidungen des Bundesfinanzhofs für die Praxis der Steuerberatung 2004, 413 f.[]
  5. vgl. BFH, Urteil vom 23.09.2008 – VII R 27/07, BFHE 222, 228, BStBl II 2009, 129; sowie Klein/Rüsken, AO, 10. Aufl., § 69 Rz 46, 71, m.w.N.[]
  6. BFH, Urteil vom 27.02.2007 – VII R 67/05, BFHE 216, 491, BStBl II 2009, 348[]
  7. vgl. BFH, Urteil in BFHE 205, 539, BStBl II 2005, 3, m.w.N.[]
  8. BFH, Urteil vom 07.07.2004 – VI R 171/00, BFHE 206, 562, BStBl II 2004, 1087[]
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