Lohnsteuer-Haftungsbescheid – und das unterschrittene Auswahlermessen

Die Finanzbehörde übt ihr Auswahlermessen fehlerhaft aus, wenn sie ohne nähere Begründung nur den Arbeitgeber für die Lohnsteuer in Haftung nimmt, obwohl nach den im Streitfall gegebenen Umständen eine Haftung des Geschäftsführers i.S. der §§ 34, 35, 69 AO in Betracht kommt.

Lohnsteuer-Haftungsbescheid – und das unterschrittene Auswahlermessen

 Nach § 42d Abs. 1 Nr. 1 EStG haftet der Arbeitgeber für die Lohnsteuer, die er nach § 38 Abs. 1, Abs. 3 Satz 1 EStG bei jeder Lohnzahlung vom Arbeitslohn für Rechnung des Arbeitnehmers einzubehalten und nach § 41a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG abzuführen hat.

Die GmbH ist als inländische Arbeitgeberin (§ 38 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG) zur Einbehaltung und Abführung der auf den ausgezahlten Löhnen ihrer Angestellten lastenden Lohn- und Annexsteuern verpflichtet. Das steht zwischen den Beteiligten nicht im Streit. Auch ist zwischen den Beteiligten unstreitig, dass die streitbefangenen Lohneinkünfte -soweit sie für eine in Deutschland ausgeübte Tätigkeit gezahlt wurden- gemäß Art. … des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und … zur Vermeidung der Doppelbesteuerung der deutschen Einkommensbesteuerung unterliegen. Der Bundesfinanzhof sieht deshalb von Ausführungen hierzu ab.

Zudem sind sich die Beteiligten darüber einig, dass die GmbH die streitbefangene Lohnsteuer der in Rede stehenden Arbeitnehmer entgegen der gesetzlichen Vorgaben (§ 39c EStG) nicht nach der Lohnsteuerklasse VI, sondern nach der Lohnsteuerklasse I/III einbehalten und abgeführt hat. Nach den unangefochtenen und den Bundesfinanzhof somit nach § 118 Abs. 2 FGO bindenden Feststellungen des Finanzgericht haben für die im Streitzeitraum Januar 2011 bis April 2014 beschäftigten Arbeitnehmer die für einen Lohnsteuerabzug nach der Steuerklasse I/III erforderlichen Lohnsteuerkarten/Ersatzbescheinigungen mit entsprechendem Lohnsteuerklassen-Eintrag (betrifft den Streitzeitraum bis Dezember 2012) oder ELStAM-Daten oder Bescheinigungen des Finanzamtes als Betriebsstättenfinanzamt i.S. von § 39d EStG a.F. bzw. nach § 39 Abs. 3 Satz 1 EStG n.F. über die Lohnsteuerabzugsmerkmale mit Steuerklasse I/III nicht vorgelegen. Der Haftungstatbestand des § 42d Abs. 1 Nr. 1 EStG ist damit hinsichtlich der streitgegenständlichen Arbeitnehmer im Streitzeitraum dem Grunde nach unstreitig erfüllt.

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Der angefochtene Lohnsteuer-Haftungsbescheid ist inhaltlich auch hinreichend bestimmt. Das Finanzamt hat zur Begründung des Haftungsbescheids auf den Bericht über die Lohnsteuer-Außenprüfung vom 17.03.2015, aus dem sich die für die inhaltliche Bestimmtheit des Bescheids erforderlichen Angaben zur Zusammensetzung der Haftungsforderung ergaben, verwiesen1. Der Bericht über die Lohnsteuer-Außenprüfung vom 17.03.2015 enthält eine Zusammenstellung des Prüfungsergebnisses sowie eine genaue, auf die einzelnen Arbeitnehmer (benannt nach Personalnummern) und Nachforderungszeiträume bezogene Auflistung der Haftungsbeträge. Zudem enthält die -nach mehrfachen, von der GmbH beantragten Änderungen des Haftungsbescheids zu ihren Gunsten- ergangene Einspruchsentscheidung wiederum ausführliche Anlagen, in denen die Höhe der Lohnsteuer für jeden einzelnen Arbeitnehmer kalenderjahrbezogen aufgeführt ist2. Der Umstand, dass das Finanzamt die Haftungsforderung im Laufe des (Haftungs-)Verfahrens wiederholt durch Änderungsbescheide herabgesetzt hat, steht deren Bestimmtheit ebenfalls nicht entgegen. Denn die Änderungen beruhen auf von der GmbH nachträglich zu einzelnen Arbeitnehmern vorgelegten Unterlagen (Einkommensteuerbescheiden). Damit ist für sie jedenfalls in Zusammenschau mit ihren eigenen Änderungsanträgen und der Einspruchsentscheidung stets (noch) erkennbar, für welche Steuerforderungen welcher ihrer Arbeitnehmer sie als Haftende (weiterhin) in Anspruch genommen wird.

Der streitbefangene Haftungsbescheid verletzt die GmbH jedoch insoweit in ihren Rechten, als das Finanzamt seiner Pflicht zur Ausübung des eingeräumten Auswahlermessens nicht rechtsfehlerfrei nachgekommen ist.

Nach § 191 Abs. 1 Satz 1 AO können die Finanzbehörden die Steuerschuld oder die Haftungsschuld nach pflichtgemäßem Ermessen (§ 5 AO) gegenüber jedem Gesamtschuldner geltend machen (§ 42d Abs. 3 Satz 2 EStG).

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Die Ermessensentscheidung ist nach § 102 FGO gerichtlich jedoch nur daraufhin zu überprüfen, ob der Verwaltungsakt deshalb rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist. Wegen der Befugnis und Verpflichtung des Gerichts zur Überprüfung behördlicher Ermessensentscheidungen, die dem Gericht keinen Raum für eigene Ermessenserwägungen lässt, muss die Ermessensentscheidung spätestens in der Einspruchsentscheidung begründet werden3. Daher muss die Behörde insbesondere zum Ausdruck bringen, warum sie den Haftungsschuldner anstatt des Steuerschuldners oder anstelle anderer ebenfalls für die Haftung in Betracht kommender Personen in Anspruch nimmt4.

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze erweist sich die Entscheidung des Finanzamtes als ermessensfehlerhaft und damit rechtswidrig.

Denn die unrichtige Einbehaltung und Anmeldung der Lohnsteuer nebst Annexabgaben nach den Steuerklassen I/III anstelle der zutreffenden Steuerklasse – VI können unter den im Streitfall gegebenen Umständen eine -wenn nicht vorsätzliche- zumindest grob fahrlässige Verletzung der Pflichten des Geschäftsführers der GmbH i.S. der §§ 34, 35, 69 AO darstellen. Daher kommt im Streitfall neben der GmbH im Streitzeitraum auch deren (damaliger) Geschäftsführer als Haftungsschuldner in Betracht.

Allerdings ist nicht ersichtlich, dass das Finanzamt eine mögliche Haftung des Geschäftsführers der GmbH oder sonstiger Dritter im Rahmen seines Auswahlermessens überhaupt geprüft hat. Ausweislich des angefochtenen Haftungsbescheids sowie der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung hat das Finanzamt als Gesamtschuldner i.S. des § 42d Abs. 3 Satz 1 EStG lediglich die GmbH als Arbeitgeberin und die betroffenen Arbeitnehmer in den Blick genommen. Hierauf hätte es sich jedoch nicht beschränken dürfen, sondern in seine Ermessenserwägungen auch die mögliche Inanspruchnahme des Geschäftsführers einbeziehen müssen. Denn zwischen den Haftungsvorschriften besteht keine Rangordnung5.

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Angesichts des Umstandes, dass der Lohnsteuerabzug nach Steuerklasse I/III im Streitfall offensichtlich fehlerhaft war, hätte eine solche Prüfung nahegelegen; zumal gegen den Geschäftsführer der GmbH ein Strafverfahren wegen des Verdachts der Lohnsteuerhinterziehung durch Abgabe falscher Lohnsteuer-Anmeldungen gemäß § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO eingeleitet und -wenn auch erst nach Erlass der Einspruchsentscheidung- Anklage erhoben wurde.

Aufgrund der vorliegenden Ermessensunterschreitung war der angefochtene Haftungsbescheid aufzuheben und der Klage stattzugeben.

Bundesfinanzhof, Urteil vom 2. September 2021 – VI R 47/18

  1. s. hierzu BFH, Urteil vom 28.11.1990 – VI R 55/87, BFH/NV 1991, 600[]
  2. vgl. insoweit z.B. BFH, Beschluss vom 27.08.2009 – V B 75/08, BFH/NV 2009, 1964[]
  3. z.B. BFH, Urteile vom 12.02.2009 – VI R 40/07, BFHE 224, 306, BStBl II 2009, 478, unter II. 1.b aa; und vom 24.09.2015 – VI R 69/14, BFHE 251, 247, BStBl II 2016, 176, Rz 21, jeweils m.w.N.[]
  4. z.B. BFH, Urteil vom 13.06.1997 – VII R 96/96, BFH/NV 1998, 4, unter 2.a, m.w.N., sowie BFH, Urteil vom 09.08.2002 – VI R 41/96, BFHE 200, 200, BStBl II 2003, 160, zur Ausübung pflichtgemäßen Ermessens bei Zusammentreffen einer Arbeitgeberhaftung nach § 42d EStG und der Haftung eines Dritten[]
  5. z.B. BFH, Urteil vom 22.09.1992 – VII R 73-74/91, BFH/NV 1993, 215, unter II. 3.b, m.w.N.[]
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