Tatbestandswirkung von Entscheidungen des Sozialversicherungsträgers im Besteuerungsverfahren

Entscheidungen des zuständigen Sozialversicherungsträgers über die Sozialversicherungspflicht eines Arbeitnehmers sind im Besteuerungsverfahren zu beachten, soweit sie nicht offensichtlich rechtswidrig sind1. Dies gilt, wie der Bundesfinanzhof jetzt entschied, auch für Zahlungen einer GmbH an ihren (Minderheits-)Gesellschafter-Geschäftsführer.

Tatbestandswirkung von Entscheidungen des Sozialversicherungsträgers im Besteuerungsverfahren

In dem jetzt vom Bundesfinanzhof entschiedenen Fall war der betroffene Gesellschafter-Geschäftsführer im streitigen Zeitraum (Mai 1997 bis März 2001) mit 24 % am Stammkapital der Klägerin beteiligt. Zwei weitere Gesellschafterinnen hielten Anteile von 52 % sowie von 24 % am Stammkapital der Klägerin. Die Techniker Krankenkasse stufte mit Bescheid vom 1. Juli 1994 ebenso wie die Landesversicherungsanstalt Sachsen-Anhalt durch Bescheid vom 24. Juli 1998 die Geschäftsführungstätigkeit als selbständige Tätigkeit und damit als nicht sozialversicherungspflichtig ein. Dennoch führte die Klägerin für ihn im streitigen Zeitraum Beiträge in Höhe von 16.179,75 DM für Kranken- und Pflegeversicherung an die Techniker-Krankenkasse als Sozialversicherungsträger ab. Die Klägerin behandelte diese Zahlungen als steuerfrei nach § 3 Nr. 62 EStG. Das Finanzamt führte bei der Klägerin eine Lohnsteuer-Außenprüfung für den streitigen Zeitraum durch. Die Prüferin kam zu dem Ergebnis, dass die gezahlten Beträge zur Kranken- und Pflegeversicherung mangels sozialversicherungsrechtlicher Verpflichtung der Klägerin, die Leistungen zu erbringen, steuerpflichtiger Arbeitslohn seien. Das Finanzamt schloss sich der Auffassung der Prüferin an und nahm die Klägerin in Lohnsteuerhaftung.

Zu Recht, wie jetzt der Bundesfinanzhof befand: Das Finanzamt hat die Klägerin zu Recht gemäß § 42d Abs. 1 Nr. 1 EStG in Haftung genommen, weil diese zu Unrecht die erbrachten Arbeitgeberanteile zur Sozialversicherung nicht der Lohnsteuer unterworfen hatte. Die Zahlungen stellten Arbeitslohn dar, denn es bestand für die Klägerin keine gesetzliche Verpflichtung zur Beitragserbringung.

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Nach § 42d Abs. 1 Nr. 1 EStG haftet der Arbeitgeber für die Lohnsteuer, die er nach § 38 Abs. 3 Satz 1 EStG einzubehalten und nach § 41a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG abzuführen hat. Nach § 38 Abs. 3 Satz 1 EStG hat der Arbeitgeber die Lohnsteuer für Rechnung des Arbeitnehmers bei jeder Lohnzahlung vom Arbeitslohn einzubehalten. Diese Voraussetzungen sind hier gegeben.

Zum Arbeitslohn gehören grundsätzlich auch Beiträge, die ein Arbeitgeber für die Zukunftssicherung eines Arbeitnehmers an einen Dritten leistet. Denn die Zukunftssicherung fällt typischerweise in den Verantwortungsbereich des Arbeitnehmers; finanziert sie der Arbeitgeber, wendet er Arbeitslohn zu. Etwas anderes gilt für die gesetzlich geschuldeten Arbeitgeberanteile zur Sozialversicherung, weil die Entrichtung des Arbeitgeberanteils nicht als Gegenleistung für die Arbeitsleistung zu beurteilen ist. § 3 Nr. 62 EStG, der die Steuerfreiheit gesetzlicher Zukunftssicherungsleistungen vorsieht, hat insoweit lediglich deklaratorische Bedeutung2.

Die Frage, ob der Arbeitgeber gesetzlich zur Zahlung von Arbeitgeberanteilen zur Sozialversicherung verpflichtet ist, entscheidet sich nach sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften3. Personen, die gegen Arbeitsentgelt beschäftigt sind, unterliegen in der gesetzlichen Krankenversicherung der Versicherungs- und Beitragspflicht (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V). Beurteilungsmaßstab für das Vorliegen einer abhängigen Beschäftigung ist § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB IV. Danach ist Beschäftigung die nichtselbständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis.

Die Entscheidung, ob ein GmbH-Gesellschafter-Geschäftsführer in einem Beschäftigungsverhältnis steht, obliegt den Krankenkassen als Einzugsstellen der Sozialversicherungsträger nach § 28h Abs. 2 SGB IV. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs sind die Feststellungen der Sozialversicherungsträger in der Regel für das Besteuerungsverfahren beachtlich. Dies folgt aus der Tatbestandswirkung dieser Entscheidungen4. Selbst bei einer Änderung der Rechtsansicht des Versicherungsträgers hin zum Wegfall der Versicherungspflicht entfällt die Steuerfreiheit nachfolgender Zahlungen erst ab dem Zeitpunkt der Entscheidung5.

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Nach diesen Grundsätzen –an denen der Bundesfinanzhof festhält– stellen die Zahlungen der Klägerin steuerpflichtigen Arbeitslohn dar. Es lag keine sozialversicherungsrechtliche Versicherungspflicht des Gesellschafter-Geschäftsführers vor.

Die Techniker-Krankenkasse hat mit Bescheid vom 1. Juli 1994 unter Zugrundelegung der höchstrichterlichen Sozialgerichtsrechtsprechung entschieden, dass der Gesellschafter-Geschäftsführer selbständig tätig ist und damit nicht der Sozialversicherungspflicht unterliegt. Diese von der Krankenkasse getroffene Feststellung entfaltet vorliegend Tatbestandswirkung, da die Entscheidung verbindlich, wirksam und nicht offensichtlich rechtswidrig ist.

Der Bundesfinanzhof kann im Streitfall offenlassen, ob die Bindungswirkung, welche von der Entscheidung der Krankenkasse für die Finanzverwaltung und die Steuergerichte ausgeht, aus § 171 Abs. 10 AO herzuleiten ist6.

Nach Auffassung des Bundesfinanzhofs entfalten die Entscheidungen der Sozialversicherungsträger jedenfalls insofern eine Bindungswirkung, als sie ein eigenes Prüfungsrecht der Finanzverwaltung und -gerichtsbarkeit –im Rahmen des § 3 Nr. 62 EStG–, abgesehen von Fällen offensichtlicher Rechtswidrigkeit, ausschließen. Die Tatbestandswirkung von Verwaltungsakten ist in der obergerichtlichen Rechtsprechung anerkannt. Der Bundesgerichtshof, das Bundesverwaltungsgericht, das Bundesarbeitsgericht sowie das Bundessozialgericht gehen überwiegend davon aus, dass Verwaltungsakte, derentwegen sie nicht angerufen werden, mit der für einen bestimmten Rechtsbereich getroffenen Regelung als gegeben hingenommen werden müssen7. In der Literatur wird die Tatbestandswirkung von Verwaltungsakten, die zu einer Bindung ressortfremder Behörden und Gerichte führt, ebenfalls überwiegend bejaht8.

Die Tatbestandswirkung ergibt sich, wie das FG zutreffend ausgeführt hat, nicht aus dem Wortlaut des Gesetzes. Allerdings bedarf die Berücksichtigung der Tatbestandswirkung eines Verwaltungsaktes auch keiner gesetzlichen Grundlage, sondern erst deren Ausschluss erfordert eine explizite Regelung9. Ein gesetzlich geregelter Ausschluss der Tatbestandswirkung ist dem § 3 Nr. 62 EStG jedoch nicht zu entnehmen. Die Tatbestandswirkung eines Verwaltungsaktes ist Ausfluss von Art. 20 Abs. 3 GG10 und bezweckt, dass die Entscheidung über Rechtmäßigkeit und Bestand eines behördlichen Bescheids den dazu berufenen Spezialgerichten vorbehalten bleibt11. Durch diese ressortbezogene Betrachtung werden auch nicht die Rechtsschutzmöglichkeiten des Betroffenen vermindert. Vorliegend stand es der Klägerin frei, gegen die Entscheidung der Krankenkasse Widerspruch einzulegen bzw. den Sozialrechtsweg zu beschreiten.

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Die Tatbestandswirkung ist regelmäßige Folge der Wirksamkeit des Verwaltungsaktes12. Sie tritt folglich bereits mit Erlass des Verwaltungsaktes13 und nicht erst mit dessen Bestandskraft ein14. Dies ist zudem unter Rechtsschutzgesichtspunkten für den Betroffenen unbedenklich. Denn dieser hat die Möglichkeit, bei erfolgreichem Abschluss des außersteuerlichen Widerspruchs- oder Klageverfahrens eine Berücksichtigung des Ergebnisses über eine Änderung des Steuerbescheids aufgrund eines rückwirkenden Ereignisses im Sinne des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO zu erreichen15. Es kommt folglich im Streitfall nicht darauf an, ob und wann der Bescheid der Krankenkasse bestandskräftig geworden ist.

Aber auch für den Fall, dass für die Tatbestandswirkung ein vollziehbarer Verwaltungsakt vorausgesetzt wird16, führt dies im Streitfall zu keinem anderen Ergebnis. Der Bescheid der Krankenkasse wurde wirksam bekanntgegeben und ist in seinem Vollzug nicht aufgeschoben. Ein Widerspruch der Klägerin hätte jedenfalls gemäß § 86 SGG (in der 1994 gültigen Fassung) keine dafür erforderliche aufschiebende Wirkung gehabt. Eine behördlich oder gerichtlich angeordnete Aussetzung der Vollziehung wurde seitens der Klägerin nicht vorgetragen.

Die Entscheidung der Krankenkasse ist zudem nicht offensichtlich rechtswidrig. Die Krankenkasse hat die im Urteil des Bundessozialgerichts vom 8. Dezember 198717 niedergelegten Grundsätze beachtet und ist auch von einem vollständig ermittelten Sachverhalt ausgegangen. Damit hat die Krankenkasse als zuständiger Sozialversicherungsträger eine Entscheidung getroffen, die jedenfalls nicht offensichtlich gegen Sozialversicherungsrecht verstößt. Dies gilt umso mehr, als gerade bei Gesellschafter-Geschäftsführern mit Minderheitsbeteiligung stets eine einzelfallbezogene Gesamtwürdigung zur Frage der Versicherungspflicht vorzunehmen ist18.

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Bundesfinanzhof, Urteil vom 21. Januar 2010 – VI R 52/08

  1. Anschluss an BFH, Urteil vom 06.06.2002 – VI R 178/97, BFHE 199, 524, BStBl II 2003, 34[]
  2. BFH, Urteile in BFHE 199, 524, BStBl II 2003, 34; vom 18.05.2004 – VI R 11/01, BFHE 206, 158, BStBl II 2004, 1014[]
  3. BFH, Urteil vom 02.12.2005 – VI R 16/03, BFH/NV 2006, 544; Bergkemper in Herrmann/Heuer/Raupach, § 3 Nr. 62 EStG Rz 2[]
  4. BFH, Urteile vom 29.10.1965 – VI 142/64 U, BFHE 84, 53, BStBl III 1966, 19; und in BFHE 199, 524, BStBl II 2003, 34[]
  5. BFH, Beschluss vom 30.04.2002 – VI B 237/01, BFH/NV 2002, 1029[]
  6. vgl. FG Niedersachsen, Urteil vom 22.05.2003 – 10 K 535/99, EFG 2004, 469; FG Düsseldorf, Urteil vom 17.12.1993 – 14 K 5416/91 H (L), EFG 1994, 566; FG Baden-Württemberg, Urteile vom 29.03.1990 – III K 356/86, rkr., EFG 1990, 620; und vom 08.09.1994 – 3 K 285/88, rkr., EFG 1995, 194; OFD Düsseldorf, Verfügung vom 03.01.2000 – S 2333-47-St 12 H-K, FR 2000, 637; zweifelnd: BFH, Urteil vom 28.05.1998 – X R 7/96, BFHE 186, 521, BStBl II 1999, 95[]
  7. BGH, Urteile vom 19.06.1998 – V ZR 43/97, NJW 1998, 3055; und vom 14.06.2007 – I ZR 125/04, NVwZ-RR 2008, 154; BVerwG, Urteil vom 28.11.1986 – 8 C 122/84, 8 C 123/84, 8 C 124/84 und 8 C 125/84, NVwZ 1987, 496; BAG, Urteile vom 18.07.2007 – 5 AZR 854/06, Die Personalvertretung 2008, 33; und vom 23.06.1993 – 5 AZR 248/92, NZA 1994, 381; BSG, Urteil vom 17.06.2009 – B 6 KA 16/08 R; einschränkend für den hier nicht vorliegenden Fall der Ablehnung eines Leistungsbegehrens: BVerwG, Urteil vom 26.09.1991 – 5 C 24/89; sowie BSG, Urteil vom 24.07.1986 – 7 RAr 13/85, SozR 4100, § 105b Nr. 6 S. 28[]
  8. allgemein: Seer in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 88 AO Rz 36; Kirchhof, NJW 1985, 2977, 2983; Erichsen in Erichsen/Ehlers, Allgemeines Verwaltungsrecht, 12. Aufl., § 13 Rz 5; Meyer in Meyer/Borgs, Verwaltungsverfahrensgesetz, 2. Aufl., § 35 Rz 9; Henneke, in: Knack, VwVfG, 9. Aufl., Vor § 35 Rz 30; Kopp/Ramsauer, Verwaltungsverfahrensgesetz, 10. Aufl., § 43 Rz 18; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 7. Aufl., § 43 Rz 142; speziell zu § 3 Nr. 62 EStG: v. Beckerath, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 3 Nr. 62 Rz B 62/86 Bindungswirkung; Bergkemper in Herrmann/Heuer/ Raupach, § 3 Nr. 62 EStG Rz 2[]
  9. BVerwG, Urteil vom 23.04.1980 – 8 C 82/79, BVerwGE 60, 111[]
  10. Kirchhof, a.a.O.[]
  11. BGH NJW 1998, 3055; Henneke, a.a.O.[]
  12. BGH, Urteil in NJW 1998, 3055; Kopp/ Ramsauer, a.a.O., § 43 Rz 23[]
  13. Kirchhof, a.a.O.; Kopp/Ramsauer, a.a.O., § 43 Rz 16[]
  14. Randak, JuS 1992, 33, 39; Kopp/Ramsauer, a.a.O., § 43 Rz 23[]
  15. vgl. dazu BFHE 186, 521, BStBl II 1999, 95; FG Köln, Urteil vom 20.08.2008 – 12 K 1173/04, EFG 2009, 117; Loose in Tipke/Kruse, a.a.O., § 175 AO Rz 46, 47[]
  16. vgl. BSG, Urteil vom 17.07.2009 – B 6 KA 16/08 R[]
  17. BSG, Urteil vom 08.12.1987 – 7 RAr 14/86, BB 1989, 73[]
  18. BSG, Urteil vom 14. Dezember 1999 – B 2 U 48/98 R, GmbH-Rundschau 2000, 618[]
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