Nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekanntwerden, die zu einer höheren Steuer führen.

Tatsache im Sinne der Vorschrift ist, was Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Tatbestands sein kann, also Zustände, Vorgänge, Beziehungen, Eigenschaften materieller oder immaterieller Art1. Wird nachträglich bekannt, dass der Steuerpflichtige nicht erklärte Einkünfte erzielt hat, so stellt die Höhe dieser Einkünfte die steuerlich relevante Tatsache dar, die zu einer Änderung nach § 173 Abs. 1 AO führt2.
Eine Tatsache ist nachträglich bekannt geworden, wenn sie das Finanzamt bei Erlass des geänderten Steuerbescheids noch nicht kannte3. Insoweit gilt der Inhalt der in der zuständigen Dienststelle geführten Steuerakten als bekannt, ohne dass es auf die individuelle Kenntnis des jeweiligen Bearbeiters ankommt4. Bei Tatsachen, die sich nicht aus den Akten ergeben, ist hingegen die positive Kenntnis des zuständigen Bearbeiters erforderlich; ein Kennenmüssen reicht nicht aus5.
Ein Steuerbescheid darf wegen nachträglich bekannt gewordener Tatsachen oder Beweismittel nur aufgehoben oder geändert werden, wenn das Finanzamt bei ursprünglicher Kenntnis der Tatsachen und Beweismittel mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit anders entschieden hätte, d.h. die neuen Tatsachen bzw. Beweismittel rechtserheblich sind. § 173 AO bietet keine Rechtsgrundlage für die Beseitigung von Rechtsfehlern6.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 15. November 2022 – VIII R 18/20
- ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH, Urteile vom 21.02.2017 – VIII R 46/13, BFHE 257, 198, BStBl II 2017, 745; und vom 19.02.2013 – IX R 24/12, BFHE 240, 265, BStBl II 2013, 484, m.w.N.[↩]
- BFH, Urteile vom 01.10.1993 – III R 58/92, BFHE 172, 397, BStBl II 1994, 346; und vom 23.04.1991 – VIII R 87/87, BFH/NV 1992, 75[↩]
- vgl. z.B. BFH, Urteil vom 13.01.2011 – VI R 61/09, BFHE 232, 5, BStBl II 2011, 479[↩]
- BFH, Beschluss vom 14.05.2013 – X B 33/13, BFHE 241, 9, BStBl II 2013, 997; BFH, Urteil vom 03.05.1991 – V R 36/90, BFH/NV 1992, 221, m.w.N.[↩]
- vgl. z.B. BFH, Urteile vom 13.06.2012 – VI R 85/10, BFHE 238, 295, BStBl II 2013, 5; und vom 13.01.2011 – VI R 62/09, BFH/NV 2011, 751, m.w.N.[↩]
- vgl. z.B. BFH, Urteil vom 09.04.2014 – X R 1/11, BFH/NV 2014, 1499; BFH (GrS), Beschluss vom 23.11.1987 – GrS 1/86, BFHE 151, 495, BStBl II 1988, 180[↩]