Schätzung durch das Finanzgericht – und das rechtliche Gehör

Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs wird verletzt, wenn das Finanzgericht in Ausübung eigener Schätzungsbefugnis für die Beurteilung der Höhe des Rohgewinnaufschlagsatzes auf eine nicht allgemein zugängliche -nur für den Dienstgebrauch bestimmte- Quelle aus dem juris-Rechtsportal („Fachinfosystem Bp NRW“) zurückgreift, ohne zuvor die hieraus entnommenen Erkenntnisse dem Kläger inhaltlich in der gebotenen Weise zugänglich gemacht zu haben.

Schätzung durch das Finanzgericht – und das rechtliche Gehör

Der Anspruch auf rechtliches Gehör gemäß § 96 Abs. 2 FGO umfasst das Recht der Verfahrensbeteiligten, sich vor Erlass einer Entscheidung zu den entscheidungserheblichen Tatsachen und -gegebenenfalls- Beweisergebnissen zu äußern, sowie in rechtlicher Hinsicht alles vorzutragen, was sie für wesentlich halten1. Zur Wahrung dieses Äußerungsrechts ist das Gericht -letztlich vorgelagert- verpflichtet, die Beteiligten über alle ihm zugänglich gemachten und für seine Entscheidung zur Verfügung stehenden Tatsachen und Beweisergebnisse uneingeschränkt zu informieren2. Dies gilt unabhängig davon, ob eine anschließende Äußerung der oder des Beteiligten im konkreten Fall Einfluss auf das Entscheidungsergebnis gewinnen kann oder nicht3.

Diesen Anforderungen ist die Vorgehensweise des Finanzgerichts im vorliegenden Fall nicht gerecht geworden. Es hat den für zutreffend erachteten Rohgewinnaufschlagsatz von 300 %, der über den in den amtlichen Richtsätzen des BMF für gastronomische Betriebe ausgewiesenen Mittelwert von 257 % liegt, in entscheidungserheblicher Weise mit den Erkenntnissen aus der „speziellen Richtsatzsammlung“ für Diskotheken begründet. So hat es insbesondere den Ansatz eines sich im oberen Bereich der „allgemeinen Richtsatzsammlung“ liegenden Werts deshalb für gerechtfertigt gehalten, da sich dieser wiederum an der unteren Spannbreite der Diskotheken-Richtsatzsammlung (280 % bis 600 %) bewegte. Über die für die Entscheidung maßgeblichen Inhalte der Abhandlung aus dem „Fachinfosystem Bp NRW“ hat das Finanzgericht den Kläger -so dessen Rüge und auch die Lage der Akten- vorher nicht in der gebotenen Weise in Kenntnis gesetzt, obwohl dem Finanzgericht ausweislich der Urteilsgründe („juris-nfD“) offensichtlich bekannt war, dass weder der Kläger noch dessen Prozessbevollmächtigte in der Lage waren, auf andere Weise Zugang zu dem Dokument zu erhalten. Hierdurch blieb es dem Kläger verwehrt, zu den für die Entscheidung des Finanzgericht maßgeblichen Inhalten der Abhandlung Stellung zu beziehen.

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Der Bundesfinanzhof stellt hiermit keinesfalls die Befugnis der Finanzverwaltung in Abrede, für Schätzungszwecke Datenbanken aufzubauen und zu verwenden, die -anders als die BMF-Richtsatzsammlung- nicht allgemein zugänglich sind4. Beabsichtigt aber das Finanzgericht, seine Entscheidung -in tragender Weise- auf Erkenntnisse aus einer solchen Quelle zu stützen, gebietet es die Wahrung des rechtlichen Gehörsanspruchs und ebenso der prozessualen Waffengleichheit, denjenigen Beteiligten, der sich gezwungenermaßen insoweit in einem Informationsdefizit befindet, in der rechtlich gebotenen Weise in den gleichen Kenntnisstand wie den Prozessgegner zu versetzen5.

Bundesfinanzhof, Beschluss vom 28. Mai 2020 – X B 12/20

  1. u.a. BFH, Beschluss vom 15.05.2019 – IX B 105/18, BFH/NV 2019, 922, Rz 7, m.w.N.[]
  2. vgl. BVerfG, Beschluss vom 15.08.2014 – 2 BvR 969/14, NJW 2014, 3085, Rz 49; ebenso BFH, Beschluss vom 08.05.2017 – X B 150/16, BFH/NV 2017, 1185, Rz 15; Werth in Gosch, § 119 FGO Rz 127[]
  3. BVerfG, Beschluss in NJW 2014, 3085, Rz 49[]
  4. vgl. BFH, Urteil vom 17.10.2001 – I R 103/00, BFHE 197, 68, BStBl II 2004, 171, unter III.A.02.c cc; vgl. auch Koenig/Coester, Abgabenordnung, 3. Aufl., § 162 Rz 109[]
  5. vgl. auch BVerwG, Urteil vom 20.03.1985 – 6 C 22/83, Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 163[]