Die Nichtanrechnung der für einen Vorerwerb fehlerhaft festgesetzten Schenkungsteuer im Rahmen des § 14 Abs. 1 Satz 3 ErbStG ist nicht unbillig, wenn die fehlerhafte Festsetzung auf einer aufgegebenen Rechtsprechung beruht, auf deren Fortbestand der Steuerpflichtige nicht vertrauen durfte.

Gemäß § 163 Satz 1 AO in der bis zum 31.12.2016 geltenden Fassung (a.F.) können Steuern niedriger festgesetzt werden und einzelne Besteuerungsgrundlagen, die die Steuern erhöhen, bei der Festsetzung unberücksichtigt bleiben, wenn die Erhebung der Steuer nach Lage des Einzelfalls unbillig wäre.
Der Zweck des § 163 AO liegt darin, sachlichen und persönlichen Besonderheiten des Einzelfalls, die der Gesetzgeber in der Besteuerungsnorm nicht berücksichtigt hat, durch eine nicht den Steuerbescheid selbst ändernde Korrektur des Steuerbetrags insoweit Rechnung zu tragen, als sie die steuerliche Belastung als unbillig erscheinen lassen1.
Die Entscheidung über die abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen ist eine Ermessensentscheidung der Finanzverwaltung (§ 5 AO), die gemäß § 102 Satz 1 FGO, ggf. i.V.m. § 121 Satz 1 FGO nur daraufhin überprüft werden kann, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist. Stellt das Gericht eine Ermessensüberschreitung oder einen Ermessensfehler fest, ist es grundsätzlich auf die Aufhebung der angefochtenen Verwaltungsentscheidung beschränkt. Nur wenn der Ermessensspielraum im konkreten Fall derart eingeengt ist, dass nur eine einzige Entscheidung als ermessensgerecht in Betracht kommt (sog. Ermessensreduzierung auf Null), ist es befugt, seine Entscheidung an die Stelle der Ermessensentscheidung der Verwaltungsbehörde zu setzen und nach § 101 Satz 1 FGO eine Verpflichtung zum Erlass auszusprechen2.
§ 163 Satz 1 AO a.F. gewährt der Finanzbehörde allerdings kein voraussetzungsloses Ermessen. Eine abweichende Steuerfestsetzung nach dieser Vorschrift setzt vielmehr voraus, dass die Erhebung der Steuer nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre. Der Begriff „unbillig“ ragt in den Ermessensbereich hinein und bestimmt damit zugleich Inhalt und Grenzen der Ermessensausübung3. Da das Merkmal „unbillig“ danach ein im gerichtlichen Verfahren überprüfbarer Rechtsbegriff ist, kommt ein dieses Merkmal einschließendes behördliches Ermessen nicht in Betracht4.
Die Festsetzung einer Steuer ist aus -im Streitfall allein in Betracht kommenden- sachlichen Gründen unbillig, wenn sie zwar äußerlich dem Gesetz entspricht, aber den Wertungen des Gesetzgebers im konkreten Fall derart zuwiderläuft, dass die Erhebung der Steuer unbillig erscheint. Das ist der Fall, wenn nach dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers angenommen werden kann, dass er die im Billigkeitswege zu entscheidende Frage -wenn er sie als regelungsbedürftig erkannt hätte- im Sinne der begehrten Billigkeitsmaßnahme entschieden hätte. Dies wiederum kann seinen Grund entweder in Gerechtigkeitsgesichtspunkten oder in einem Widerspruch zu dem der gesetzlichen Regelung zu Grunde liegenden Zweck haben5.
Eine Billigkeitsentscheidung darf jedoch die generelle Geltungsanordnung des den Steueranspruch begründenden Gesetzes nicht unterlaufen. Sie darf nicht die Wertung des Gesetzes durchbrechen oder korrigieren, sondern nur einem -sich lediglich in einem Einzelfall zeigenden- ungewollten Überhang des gesetzlichen Steuertatbestands abhelfen. Eine für den Steuerpflichtigen ungünstige Rechtsfolge, die der Gesetzgeber bewusst angeordnet oder in Kauf genommen hat, rechtfertigt keine Billigkeitsmaßnahme6.
Die Nichtanrechnung der für einen Vorerwerb fehlerhaft festgesetzten Schenkungsteuer im Rahmen des § 14 Abs. 1 Satz 3 ErbStG ist materiell-rechtlich zutreffend und auch nicht unbillig, wenn die Fehlerhaftigkeit der Festsetzung auf einer erst später aufgegebenen Rechtsprechung beruht, auf deren Bestand der Steuerpflichtige jedoch nicht vertrauen durfte.
Die tatsächlich zu entrichtende Steuer i.S. des § 14 Abs. 1 Satz 3 ErbStG ist diejenige Steuer, die bei zutreffender Beurteilung der Sach- und Rechtslage auf den Zeitpunkt des Vorerwerbs festzusetzen gewesen wäre. Es ist nicht maßgebend, welche Steuer bestandskräftig festgesetzt oder entrichtet worden ist.
Gemäß § 14 Abs. 1 Satz 1 ErbStG werden mehrere innerhalb von zehn Jahren von derselben Person anfallende Vermögensvorteile in der Weise zusammengerechnet, dass dem letzten Erwerb die früheren Erwerbe nach ihrem früheren Wert zugerechnet werden. Von der Steuer für den Gesamtbetrag wird gemäß § 14 Abs. 1 Satz 2 ErbStG die Steuer abgezogen, die für die früheren Erwerbe nach den persönlichen Verhältnissen des Erwerbers und auf der Grundlage der geltenden Vorschriften zur Zeit des letzten Erwerbs zu erheben gewesen wäre. Anstelle dieser fiktiven anrechenbaren Steuer ist nach § 14 Abs. 1 Satz 3 ErbStG die tatsächlich für die in die Zusammenrechnung einbezogenen früheren Erwerbe zu entrichtende Steuer abzuziehen, wenn diese höher ist als die fiktive anrechenbare Steuer nach Satz 2 der Vorschrift. Durch diese Regelungen soll verhindert werden, dass mehrere Teilerwerbe durch Kumulation von Freibeträgen (§ 16 Abs. 1 ErbStG) und/oder Vermeidung der Progression (§ 19 Abs. 1 ErbStG) gegenüber einem einheitlichen Erwerb steuerlich begünstigt werden7.
Die „tatsächlich für die in die Zusammenrechnung einbezogenen früheren Erwerbe zu entrichtende Steuer“ i.S. des § 14 Abs. 1 Satz 3 ErbStG ist die Steuer, die bei zutreffender Beurteilung der Sach- und Rechtslage für diese Erwerbe festzusetzen gewesen wäre, nicht die dafür wirklich festgesetzte Steuer. Der Gesetzgeber wollte mit § 14 Abs. 1 Satz 3 ErbStG unbillige Folgen vermeiden, die sich aus für den Steuerpflichtigen günstigen Gesetzesänderungen wie höheren Freibeträgen oder niedrigeren Steuersätzen ergeben können. Derartige Änderungen können bewirken, dass die nach § 14 Abs. 1 Satz 2 ErbStG anrechenbare fiktive Steuer niedriger ausfällt als die für den Vorerwerb tatsächlich zu entrichtende Steuer. § 14 Abs. 1 Satz 3 ErbStG verfolgt hingegen nicht das Ziel, eine Korrekturmöglichkeit für Fehler zu eröffnen, die bei der Steuerfestsetzung für die Vorerwerbe zugunsten oder zulasten des Steuerpflichtigen unterlaufen sind8.
Die Fehlerhaftigkeit der Steuerfestsetzung für einen Vorerwerb rechtfertigt grundsätzlich keine Steueranrechnung im Billigkeitswege. Eine Unbilligkeit i.S. des § 163 AO liegt nicht vor, wenn die fehlerhafte Festsetzung auf einer aufgegebenen Rechtsprechung beruht, auf deren Bestand der Steuerpflichtige nicht vertrauen durfte.
Bestandskräftig festgesetzte Steuern können im Billigkeitsverfahren nur dann sachlich überprüft werden, wenn die Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig unrichtig ist und es dem Steuerpflichtigen nicht möglich oder nicht zumutbar war, sich gegen die Fehlerhaftigkeit der Festsetzung zu wehren9. Dieser Grundsatz gilt nicht nur für diejenige Festsetzung, für die der Steuerpflichtige eine Billigkeitsmaßnahme begehrt, sondern auch dann, wenn der Steuerpflichtige die Fehlerhaftigkeit der Steuerfestsetzung für einen Vorerwerb im Rahmen der Steueranrechnung nach § 14 Abs. 1 Satz 3 ErbStG beanstandet.
Ist die Einlegung eines Rechtsbehelfs im Hinblick auf eine -später geänderte- höchstrichterliche Rechtsprechung unterblieben, war die Rechtsverfolgung jedenfalls dann nicht unzumutbar, wenn das Vertrauen in den Fortbestand der früheren Rechtsprechung nicht schützenswert war. Vertrauensschutz ist nur dann und solange zu gewähren, als die Steuerpflichtigen nicht mit einer Änderung der Rechtslage rechnen oder ihnen zumindest Zweifel kommen müssen10. Daran kann es insbesondere dann fehlen, wenn die frühere Rechtsprechung auf einer zwischenzeitlich geänderten Gesetzeslage beruhte.
Ausgehend von diesen Grundsätzen hat das Finanzgericht Münster im hier entschiedenen Fall die Ablehnung des Antrags durch das Finanzamt zu Recht nicht beanstandet11. Die Voraussetzungen für eine abweichende Festsetzung der Schenkungsteuer für den Erwerb 2006 aus Billigkeitsgründen liegen nicht vor:
Die Nichtanrechnung der für den Vorerwerb 2000 fehlerhaft zu hoch festgesetzten Steuer nach § 14 Abs. 1 Satz 3 ErbStG ist nicht unbillig. Die Rechtswidrigkeit der Festsetzung beruht zwar auf einer Auslegung des § 14 Abs. 1 Satz 2 ErbStG, die mit der früheren Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs im Einklang stand und von der der Bundesfinanzhof erst nach Bestandskraft des Bescheids mit seinem Urteil in BFHE 209, 153, BStBl II 2005, 728 ausdrücklich abgekehrt ist. Bereits aus der Aufnahme des § 14 Abs. 1 Satz 3 in das ErbStG durch das Jahressteuergesetz 1997 vom 20.12.199612 hatten sich aber Zweifel an der Fortgeltung der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Überprogression13 ergeben. Diese Gesetzesänderung bildet eine Zäsur. Es gab keine Hinweise darauf, dass die bisherige Rechtsprechung fortgelten würde. Vielmehr hat der Bundesfinanzhof in seinem Urteil vom 30.01.2002 – II R 78/9914 ausgeführt, die Neuregelung des § 14 Abs. 1 Satz 3 ErbStG werfe die Frage auf, ob sie die künftige Anwendung seiner Rechtsprechung zu § 14 Abs. 1 Satz 2 ErbStG ausschließe, diese Frage aber offen gelassen. In der Literatur wurde ebenfalls darauf hingewiesen, dass die Neuregelung möglicherweise zur Aufgabe der bestehenden Bundesfinanzhof-Rechtsprechung führen werde15. Auch wenn diese Äußerungen nach dem Erwerb 2000 getätigt wurden, zeigen sie doch, dass bereits mit der Gesetzesänderung 1997 Zweifel am Fortbestand der Rechtsprechung zur Überprogression aufkommen mussten.
Die Nichtanrechnung der rechtswidrig festgesetzten Steuer bedeutet auch keine doppelte Besteuerung. Vielmehr wird der dem Beschenkten durch die rechtswidrige Festsetzung entstandene Nachteil lediglich nicht korrigiert.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 22. Juli 2020 – II R 42/17
- BFH, Urteile vom 22.10.2014 – II R 4/14, BFHE 247, 170, BStBl II 2015, 237, Rz 12; und vom 26.09.2019 – V R 36/17, BFH/NV 2020, 86, Rz 19, jeweils m.w.N.[↩]
- ständige Rechtsprechung, BFH, Urteile vom 27.02.2019 – VII R 34/17, BFHE 264, 563, BFH/NV 2019, 736, Rz 14; und vom 26.09.2019 – V R 13/18, BFHE 266, 16, BFH/NV 2020, 35, Rz 12, jeweils m.w.N.[↩]
- vgl. GmS-OBG, Beschluss vom 19.10.1971 – GmS-OGB 3/70, BFHE 105, 101, BStBl II 1972, 603, unter 6.[↩]
- vgl. BFH (GrS), Beschluss vom 28.11.2016 – GrS 1/15, BFHE 255, 482, BStBl II 2017, 393, Rz 98 ff., 106; BFH, Beschluss vom 11.07.2018 – XI R 33/16, BFHE 262, 114, BStBl II 2019, 258, Rz 32; BFH, Urteil in BFHE 264, 563, BFH/NV 2019, 736, Rz 17[↩]
- ständige Rechtsprechung, BFH, Urteil in BFH/NV 2020, 35, Rz 11, m.w.N.[↩]
- ständige Rechtsprechung, BFH, Urteile vom 21.12.2016 – I R 24/15, BFH/NV 2017, 923, Rz 9, und in BFH/NV 2020, 35, Rz 11, jeweils m.w.N.; BFH, Beschluss vom 30.08.2017 – II B 16/17, BFH/NV 2017, 1611, Rz 8, m.w.N.[↩]
- vgl. BFH, Urteil vom 08.05.2019 – II R 18/16, BFHE 264, 287, BStBl II 2019, 681, Rz 12, m.w.N.[↩]
- vgl. BFH, Urteil vom 09.07.2009 – II R 55/08, BFHE 225, 498, BStBl II 2009, 969, unter II. 1.b[↩]
- ständige Rechtsprechung, z.B. BFH, Urteil vom 13.01.2005 – V R 35/03, BFHE 208, 398, BStBl II 2005, 460, unter II. 1., m.w.N.; BFH, Beschlüsse vom 08.10.2014 – X B 24/14, BFH/NV 2015, 153, Rz 26, m.w.N.; und vom 08.02.2017 – X B 80/16, BFH/NV 2017, 760, Rz 18[↩]
- vgl. BFH, Urteile vom 23.02.1979 – III R 16/78, BFHE 127, 476, BStBl II 1979, 455, unter 2.f; und vom 31.10.1990 – I R 3/86, BFHE 163, 478, BStBl II 1991, 610, unter II. 4.a cc, m.w.N.[↩]
- FG Münster, Urteil vom 12.10.2017 – 3 K 1625/15 Erb[↩]
- BGBl I 1996, 2049[↩]
- grundlegend BFH, Urteil vom 17.11.1977 – II R 66/68, BFHE 124, 216, BStBl II 1978, 220[↩]
- BFHE 197, 280, BStBl II 2002, 316, unter II. 5.[↩]
- Viskorf, Finanz-Rundschau 2002, 688, 691[↩]
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