Der Erwerber eines erbschaftsteuerrechtlich begünstigten Familienheims ist aus zwingenden Gründen an dessen Nutzung zu eigenen Wohnzwecken gehindert, wenn die Selbstnutzung objektiv unmöglich oder aus objektiven Gründen unzumutbar ist. Zweckmäßigkeitserwägungen reichen nicht aus. Gesundheitliche Beeinträchtigungen können zwingende Gründe darstellen, wenn sie dem Erwerber eine selbständige Haushaltsführung in dem erworbenen Familienheim unzumutbar machen.

Zieht der überlebende Ehepartner aus dem geerbten Familienheim aus, weil ihm dessen weitere Nutzung aus gesundheitlichen Gründen unmöglich oder unzumutbar ist, entfällt die ihm beim Erwerb des Hauses gewährte Erbschaftsteuerbefreiung nicht rückwirkend. Dies hat der Bundesfinanzhof bereits im vergangenen Jahr zu § 13 Abs. 1 Nr. 4b ErbStG entschieden1. Gleiches gilt für die Steuerbefreiung gem. § 13 Abs. 1 Nr. 4c ErbStG, die erbende Kinder begünstigt2.
In dem hier vom Bundesfinanzhof entschiedenen Fall hatten die Eheleute ein Einfamilienhaus bewohnt. Nach dem Tod des Ehemanns wurde die Ehefrau aufgrund Testaments Alleineigentümerin. Nach knapp zwei Jahren veräußerte sie das Haus und zog in eine Eigentumswohnung. Die Ehefrau berief sich gegenüber dem Finanzamt erfolglos darauf, sie habe wegen einer depressiven Erkrankung, die sich nach dem Tod ihres Ehemannes gerade durch die Umgebung des ehemals gemeinsam bewohnten Hauses verschlechtert habe, dieses auf ärztlichen Rat verlassen.
Auch das Finanzgericht Münster wies ihre Klage ab, denn, so das Finanzgericht, es habe keine zwingenden Gründe für den Auszug gegeben, da der Ehefrau nicht die Führung eines Haushalts schlechthin unmöglich gewesen sei3. Auf die Revision der Erbin hob der Bundesfinanzhof nun das finanzgerichtliche Urteil auf und verwies die Sache zurück an das Finanzgericht Münster: Grundsätzlich setze die Steuerbefreiung gemäß § 13 Abs. 1 Nr. 4b ErbStG voraus, dass der Erbe für zehn Jahre das geerbte Familienheim selbst nutzt, es sei denn, er ist aus „zwingenden Gründen“ daran gehindert. „Zwingend“, so der Bundesfinanzhof, erfasse nicht nur den Fall der Unmöglichkeit, sondern auch die Unzumutbarkeit der Selbstnutzung des Familienheims. Diese könne auch gegeben sein, wenn der Erbe durch den Verbleib im Familienheim eine erhebliche Beeinträchtigung seines Gesundheitszustands zu gewärtigen habe. Das Finanzgericht hat deshalb im zweiten Rechtsgang, ggf. mit Hilfe ärztlicher Begutachtung, die geltend gemachte Erkrankung einschließlich Schwere und Verlauf zu prüfen.
Nach § 13 Abs. 1 Nr. 4b Satz 1 ErbStG bleibt steuerfrei u.a. der Erwerb von Todes wegen des Eigentums an einem im Inland belegenen bebauten Grundstück i.S. des § 181 Abs. 1 Nr. 1 bis 5 des Bewertungsgesetzes durch den überlebenden Ehegatten, soweit der Erblasser darin bis zum Erbfall eine Wohnung zu eigenen Wohnzwecken genutzt hat oder bei der er aus zwingenden Gründen an einer Selbstnutzung zu eigenen Wohnzwecken gehindert war und die beim Erwerber unverzüglich zur Selbstnutzung zu eigenen Wohnzwecken bestimmt ist (Familienheim). Dies gilt vorbehaltlich der Einschränkungen in § 13 Abs. 1 Nr. 4b Sätze 2 bis 4 ErbStG4.
Nach § 13 Abs. 1 Nr. 4b Satz 5 ErbStG fällt die Steuerbefreiung mit Wirkung für die Vergangenheit weg, wenn der Erwerber das Familienheim innerhalb von zehn Jahren nach dem Erwerb nicht mehr zu Wohnzwecken selbst nutzt, es sei denn, er ist aus zwingenden Gründen an einer Selbstnutzung zu eigenen Wohnzwecken gehindert (sog. Nachversteuerungstatbestand, vgl. BFH, Urteil vom 11.07.2019 – II R 38/16, BFHE 265, 437, BStBl II 2020, 314, Rz 11).
Die Steuerbefreiungsvorschrift ist eng auszulegen. Damit begegnet sie keinen verfassungsrechtlichen Bedenken5. Entsprechendes gilt für die in § 13 Abs. 1 Nr. 4b Satz 5 Halbsatz 2 ErbStG geregelte Rückausnahme von der Nachversteuerung.
Tritt der Nachversteuerungstatbestand ein, ist der Steuerbescheid nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO zu ändern. Nach § 175 Abs. 1 Satz 2 AO beginnt in diesen Fällen die Festsetzungsfrist mit Ablauf des Kalenderjahrs, in dem das Ereignis eintritt.
In dem Merkmal „aus zwingenden Gründen an einer Selbstnutzung zu eigenen Wohnzwecken gehindert“ müssen sich die Hinderungsgründe auf die Selbstnutzung des betreffenden Familienheims beziehen. Ob der Erwerber an einem anderen Ort einen Haushalt führen kann, ist nicht entscheidend. Der Bundesfinanzhof teilt nicht die bereits früher vertretene Auffassung des Finanzgericht, die Unmöglichkeit, selbständig einen Haushalt zu führen, müsse sich auf das Führen eines eigenen Haushalts schlechthin -d.h. auch an einem anderen Ort als in dem erworbenen Familienheim- beziehen6.
Die Nachversteuerung setzt nach dem Gesetzeswortlaut zunächst voraus, dass „der Erwerber das Familienheim … nicht mehr zu Wohnzwecken selbst nutzt“. Die unmittelbar folgende Wendung „an einer Selbstnutzung zu eigenen Wohnzwecken gehindert“ kann nur die Selbstnutzung des betreffenden Familienheims meinen. Sie bezieht sich nicht auf die Führung jeglichen Haushalts auch andern Orts.
Eine solche (ungeschriebene) Voraussetzung verfehlte zudem die Zielrichtung der Vorschrift. Die Begünstigung des Familienheims in § 13 Abs. 1 Nr. 4b ErbStG soll u.a. das Familiengebrauchsvermögen erhalten und den gemeinsamen familiären Lebensraum schützen7. Bei Aufgabe der Selbstnutzung fällt dieses Schutzziel fort. Soweit das Gesetz aus Billigkeitsgründen zugunsten eines Erwerbers den Nachversteuerungstatbestand mit einer Rückausnahme wegen einer Zwangslage versieht, kann dies sinnvoll nur so verstanden werden, dass sich die Zwangslage gerade auf das nicht mehr erfüllte Tatbestandsmerkmal mit dem entsprechenden Schutzziel bezieht. Das ist die Selbstnutzung des Familienheims mit dem familiären Lebensraum. Das verfassungsrechtliche Gebot enger Auslegung vermag keine zweckwidrige Auslegung zu rechtfertigen. Dem entsprechend ging das Vorstellungsbild bereits im Gesetzgebungsverfahren dahin, die Steuerbefreiung zu belassen, wenn zwingende Gründe das selbständige Führen eines Haushalts „in dem erworbenen Familienheim“ unmöglich machen8.
Der Erwerber muss aus zwingenden Gründen an einer Selbstnutzung des Familienheims zu eigenen Wohnzwecken gehindert sein. Es reicht nicht aus, wenn sich der Erwerber nur aufgrund persönlicher oder wirtschaftlicher Zweckmäßigkeitserwägungen an der Selbstnutzung gehindert fühlt.
Das Merkmal „zwingend“ schließt Gründe aus, kraft derer die Beendigung der Selbstnutzung aus Sicht des Erwerbers nachvollziehbar und auch verständig scheint, jedoch Gegenstand seiner freien Entscheidung ist. Es gehört dann zur Lebensgestaltung des Erwerbers, ob und wie er das Familienheim nutzen möchte. Das ist insbesondere der Fall, wenn es nach Art und Gestaltung nicht den persönlichen Vorstellungen des Erwerbers entspricht.
Der Erwerber ist hingegen aus zwingenden Gründen an einer Selbstnutzung des Familienheims zu eigenen Wohnzwecken gehindert, wenn diese ihm unter den konkreten Umständen objektiv unmöglich oder unzumutbar wird. Das entspricht dem Billigkeitscharakter der Vorschrift.
Zwingende Gründe liegen -offenkundig- vor, wenn dem Erwerber die Selbstnutzung des Familienheims objektiv unmöglich wird, sie sind jedoch nicht auf diese Fälle beschränkt. Andernfalls erschöpfte sich der Anwendungsbereich der Rückausnahme praktisch im Tod des Erwerbers. Eine solche Regelung war aber ersichtlich nicht gesetzgeberisches Ziel. Selbst der Fall der Pflegebedürftigkeit, der im Gesetzgebungsverfahren als Beispiel diente8 und auch von der Finanzverwaltung übernommen wurde9 begründet regelmäßig keine objektive Unmöglichkeit. Die Pflege kann im Allgemeinen auch mit Hilfe entsprechender Dienste im eigenen Heim durchgeführt werden. Ob dies wirtschaftlich sinnvoll ist, ist eine Frage der Zweckmäßigkeit.
Vielmehr ist es erforderlich, aber auch ausreichend, wenn dem Erwerber aus objektiven Gründen die Selbstnutzung des Familienheims nicht mehr zuzumuten ist. Dabei ist ein strenger Maßstab anzulegen, um eine verfassungswidrige Begünstigung zu vermeiden. Ein abgeschlossener Katalog von Gründen besteht jedoch nicht.
Wann mit dieser Maßgabe von zwingenden Gründen auszugehen ist, ist nach § 118 Abs. 2 FGO Gegenstand der tatsächlichen Würdigung durch das Finanzgericht. Maßgeblich ist die Gesamtwürdigung aller Tatsachen. Das gilt auch für die Frage, welche Rückschlüsse aus der Lebensführung des Erwerbers nach Verlassen des Familienheims gezogen werden können, insbesondere aus dem Umzug in einen anderen selbst geführten Haushalt oder in eine Wohnform mit Betreuung und Pflege.
Die Feststellungslast für diejenigen Umstände, die die Selbstnutzung des Familienheims objektiv unmöglich machen oder objektiv unzumutbar erscheinen lassen, trägt der Erwerber10.
Nach diesen Kriterien kann ein zwingender Grund i.S. von § 13 Abs. 1 Nr. 4b Satz 5 Halbsatz 2 ErbStG auch vorliegen, wenn der Erwerber im Falle der weiteren Selbstnutzung des Familienheims eine erhebliche Beeinträchtigung seines Gesundheitszustands zu gewärtigen hat, die ein weiteres Verbleiben dort unzumutbar macht. Dazu können die Folgen eines Traumas gehören. Ob eine Erkrankung vorliegt, die dazu führt, dass die Unzumutbarkeitsschwelle überschritten wird, kann regelmäßig allein mit Hilfe ärztlicher Begutachtung festgestellt werden. Hat der Erwerber zunächst tatsächlich das Familienheim selbst genutzt, ist auch festzustellen, ob eine etwaige Erkrankung erst nach gewisser Zeit der Nutzung aufgetreten oder ihre Schwere manifest geworden ist.
Ist der Erwerber aus zwingenden Gründen an einer Selbstnutzung zu eigenen Wohnzwecken gehindert, führt weder die Aufgabe des Eigentums an dem Familienheim11 noch der Abriss des Gebäudes zur Nachversteuerung. Ist die Beendigung der Selbstnutzung des Familienheims aus den oben dargestellten zwingenden Gründen erbschaftsteuerrechtlich unschädlich, muss dies auch -als Annex- für eine spätere Veräußerung oder einen späteren Abriss gelten. Wenn der Schutzzweck des § 13 Abs. 1 Nr. 4b Satz 1 ErbStG aus zwingenden Gründen nicht mehr erfüllt werden kann, hat die Entäußerung des Familienheims keine Bedeutung mehr.
Das Finanzgericht ist von anderen Maßstäben ausgegangen. Die Vorentscheidung war aufzuheben und an das Finanzgericht zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen. Das Finanzgericht hat -von seiner Rechtsauffassung ausgehend zu Recht- nicht alle erforderlichen tatsächlichen Feststellungen getroffen, um abschließend beurteilen zu können, ob sich das Urteil im Ergebnis (§ 126 Abs. 4 FGO) dennoch als richtig erweist.
Die Klage ist aus den geschilderten Gründen nicht allein deshalb abzuweisen, weil der Ehefrau die selbständige Haushaltsführung an einem anderen Ort als dem ererbten Familienheim möglich war. Ob nach den beschriebenen Maßstäben die Ehefrau aufgrund einer depressiven Erkrankung an der Selbstnutzung aus zwingenden Gründen gehindert war, lässt sich derzeit nicht beurteilen. Das Finanzgericht hat keine konkreten Feststellungen dazu getroffen, ob diese Erkrankung tatsächlich bestand und so beschaffen war, dass sie der Ehefrau unter Anlegung des gebotenen strengen Maßstabs die weitere Selbstnutzung des Familienheims unzumutbar machte. Dies ist unter Mitwirkung der Ehefrau (§ 90 Abs. 1 Satz 1 AO) nachzuholen. Die abschließende Würdigung des Sachverhalts ist dem Finanzgericht vorbehalten.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 1. Dezember 2021 – II R 1/21
- BFH, Urteil vom 01.12.2021 – II R 1/21[↩]
- BFH Urteil vom 01.12.2021 – II R 18/20[↩]
- FG Münster, Urteil vom 10.12.2020 – 3 K 420/20 Erb[↩]
- zur Grundstücksdefinition: BFH, Urteil vom 23.02.2021 – II R 29/19, BFHE 272, 497; zur Bestimmung zur Selbstnutzung BFH, Urteil vom 06.05.2021 – II R 46/19, BFHE 273, 554[↩]
- vgl. BFH, Urteil vom 29.11.2017 – II R 14/16, BFHE 260, 372, BStBl II 2018, 362, Rz 27, m.w.N.[↩]
- s. FG Münster, Urteil vom 31.01.2013 – 3 K 1321/11 Erb, EFG 2013, 715, Rz 42; offengelassen im Urteil des Hessischen Finanzgericht vom 10.05.2016 – 1 K 877/15 Rz 19 f.; kritisch auch Jülicher in Troll/Gebel/Jülicher/Gottschalk, ErbStG, § 13 Rz 72a; Curdt in Kapp/Ebeling, § 13 ErbStG, Rz 39.5[↩]
- vgl. BT-Drs. 16/11107, S. 8[↩]
- BT-Drs. 16/11107, S. 8[↩][↩]
- R E 13.4 Abs. 6 Satz 9 sowohl der Erbschaftsteuer-Richtlinien 2011 vom 19.12.2011, BStBl I 2011, Sondernummer 1/2011, S. 2, wie auch der Erbschaftsteuer-Richtlinien 2019 vom 16.12.2019, BStBl I 2019, Sondernummer 1/2019, S. 2[↩]
- vgl. BFH, Urteil in BFHE 273, 554, Rz 23[↩]
- dazu BFH, Urteil in BFHE 265, 437, BStBl II 2020, 314[↩]