Ungeachtet der Frage, ob die Unrichtigkeit der Zinsfestsetzung im Hinblick auf die Höhe des Zinssatzes ab dem Verzinsungszeitraum 2014 offensichtlich gewesen wäre, liefe es jedenfalls den Wertungen der Anordnung des Bundesverfassungsgerichts im Beschluss vom 08.07.20211 zur Fortgeltung der §§ 233a, 238 Abs. 1 Satz 1 AO für Verzinsungszeiträume vom 01.01.2014 bis zum 31.12.2018 zuwider, wenn das für diese Zeiträume im (vorrangigen) Festsetzungsverfahren nicht erreichbare Ziel einer niedrigeren Zinsfestsetzung über ein (nachrangiges) Erlassverfahren erreicht werden könnte.

Erlass der Nachzahlungszinsen wegen verfassungswidriger Zinshöhe?
Ein Erlass der Nachzahlungszinsen aus Billigkeitsgründen, der im Fall einer offensichtlich und eindeutig unrichtigen Steuer- bzw. Zinsfestsetzung unter weiteren Bedingungen ausnahmsweise möglich ist2, kommt für den Bundesfinanzhof nicht in Betracht.
Das Bundesverfassungsgericht hat bereits entschieden3, dass der Zinssatz für die Vollverzinsung von 0, 5 % Zinsen pro Monat des Zinslaufs (§§ 233a AO, 238 Abs. 1 Satz 1 AO) unter den sich seit dem Jahr 2008 fortlaufend verändernden tatsächlichen Verhältnissen noch für bis in das Jahr 2013 fallende Verzinsungszeiträume den durch die Vollverzinsung auszugleichenden Vorteil hinreichend abgebildet habe. Ab dem Verzinsungszeitraum 2014 sei dieser Zinssatz zwar wegen Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes verfassungswidrig, die bisherige gesetzliche Regelung gelte aber für Verzinsungszeiträume vom 01.01.2014 bis zum 31.12.2018 noch fort, ohne dass der Gesetzgeber verpflichtet wäre, auch für diesen Zeitraum rückwirkend eine verfassungsgemäße Regelung zu schaffen.
Nach dem Beschluss des BVerfG in BVerfGE 158, 282 war der bisherige Zinssatz für die Vollverzinsung für Zeiträume bis Ende des Jahres 2013 verfassungsgemäß, sodass hier insoweit schon keine unrichtige Zinsfestsetzung vorlag. Im Übrigen liefe es -ungeachtet der Frage, ob die Unrichtigkeit der Zinsfestsetzung ab dem Verzinsungszeitraum 2014 offensichtlich gewesen wäre- jedenfalls den Wertungen der Anordnung des BVerfG zur Fortgeltung der §§ 233a, 238 Abs. 1 Satz 1 AO für Verzinsungszeiträume vom 01.01.2014 bis zum 31.12.2018 zuwider, wenn das für diese Zeiträume im (vorrangigen) Festsetzungsverfahren nicht erreichbare Ziel einer niedrigeren Zinsfestsetzung nunmehr doch über ein (nachrangiges) Erlassverfahren erreicht werden könnte.
Erlass der Nachzahlungszinsen wegen verzögerter Außenprüfung?
Soweit zur Begründung des Erlassbegehrens geltend gemacht wird, die Nachforderungszinsen gemäß § 233a AO beruhten teilweise auf einem durch das Finanzamt verzögerten Ablauf der Außenprüfung, ist die Ablehnung des (Teil-)Erlassantrags in Übereinstimmung mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht ermessensfehlerhaft.
Die Verzinsungsregelung in § 233a AO bezweckt einen typisierten Ausgleich für die Liquiditätsverschiebungen, die aus dem individuell sehr unterschiedlichen Verlauf des Besteuerungsverfahrens entstehen können. Es soll ein Ausgleich dafür geschaffen werden, dass die Steuern bei den einzelnen Steuerpflichtigen zu unterschiedlichen Zeitpunkten festgesetzt und fällig werden. Insoweit beruht die Vorschrift auf der zulässig typisierenden Annahme, dass derjenige, dessen Steuer ganz oder zum Teil zu einem späteren Zeitpunkt festgesetzt wird, gegenüber demjenigen, dessen Steuer bereits frühzeitig festgesetzt wird, einen Liquiditäts- und damit auch einen potenziellen Zinsvorteil hat. Aus welchem Grund es zu einem Unterschiedsbetrag gekommen ist und ob die möglichen Zins- und Liquiditätsvorteile tatsächlich bestanden und genutzt wurden, ist grundsätzlich unbeachtlich. Der durch die Verzinsung bezweckte Vorteilsausgleich behält grundsätzlich auch dann seinen Sinn, wenn staatliche Stellen für deren Entstehung und Höhe (mit-)verantwortlich sind. Eine verzögerte Bearbeitung des Steuerfalles durch die Finanzbehörde ist deshalb für sich genommen nicht geeignet, eine abweichende Zinsfestsetzung aus Billigkeitsgründen zu begründen4.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 27. Juli 2022 – X R 5/20
- BVerfG, Beschluss vom 08.07.2021 – 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17, BVerfGE 158, 282, Rz 249[↩]
- vgl. dazu BFH, Urteil vom 11.03.1988 – III R 236/84, BFH/NV 1989, 432, unter II. 2.a, m.w.N.[↩]
- BVerfG, Beschluss vom 08.07.2021 – 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17, BVerfGE 158, 282[↩]
- vgl. BFH, Urteil in BFHE 266, 501, BStBl II 2020, 214, Rz 16 ff., m.w.N.[↩]