Geht das Finanzamt davon aus, dass sich ein Steuerpflichtiger in einem bestimmten Land aufhält, ohne dessen dortige Anschrift zu kennen, muss es im Vorfeld einer öffentlichen Zustellung wegen „unbekannten Aufenthaltsorts“ gemäß § 15 Abs. 1 Buchst. a VwZG versuchen, die gültige ausländische Anschrift im Wege des zwischenstaatlichen Informationsaustauschs zu ermitteln1. Erst wenn feststeht, dass eine Anschriftenermittlung auf diesem Wege nicht möglich oder fehlgeschlagen ist, darf das Finanzamt zur öffentlichen Zustellung übergehen, entschied jetzt der Bundesfinanzhof für den Fall eines in Spanien lebenden Steuerpflichtigen.

Öffentliche Zustellung wegen unbekannten Aufenthalts
Ein Steuerbescheid kann gemäß § 15 Abs. 1 Buchst. a VwZG a.F. i.V.m. § 122 Abs. 5 AO öffentlich zugestellt werden, wenn der Aufenthaltsort des Empfängers „unbekannt“ ist. Wegen des Anspruchs des Zustellungsempfängers auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG)2 ist die Zustellungsfiktion verfassungsrechtlich nur zu rechtfertigen, wenn eine andere Form der Zustellung aus sachlichen Gründen nicht oder nur schwer durchführbar ist. § 15 Abs. 1 Buchst. a VwZG a.F. setzt deshalb voraus, dass nicht nur der zustellenden Behörde die Anschrift des Zustellungsempfängers unbekannt, sondern dessen Aufenthaltsort allgemein unbekannt ist. Die öffentliche Zustellung ist erst als „letztes Mittel“ zulässig, wenn alle Möglichkeiten erschöpft sind, das Schriftstück dem Empfänger in anderer Weise zu übermitteln3.
Die Anforderungen an die Behörde, den Aufenthaltsort des Bekanntgabeadressaten ermitteln zu müssen, dürfen jedoch im Einzelfall nicht überspannt werden. Eine Rechtspflicht der zustellenden Behörde, Anschriften im Ausland zu ermitteln, wird in der Rechtsprechung daher regelmäßig verneint, wenn ein Fall der „Auslandsflucht“ vorliegt4 oder wenn sich der Empfänger beim inländischen Melderegister „ins Ausland“ ohne Angabe einer Anschrift abmeldet5. Dem schließt sich der Bundesfinanzhof vorliegend an. Das Finanzamt ist in diesen Fällen vorrangig nur zu Ermittlungsmaßnahmen im Inland verpflichtet, z.B. durch Nachfragen beim Einwohnermeldeamt und bei Kontaktpersonen des Empfängers. Gleiches gilt, wenn sich der Zustellungsempfänger in einer Weise verhält, die auf seine Absicht schließen lässt, den Aufenthaltsort zu verheimlichen6.
Ein solcher Fall liegt aber nach Ansicht des Bundesfinanzhofs in dem jetzt vom ihm entschiedenen Verfahren nicht vor: Das Finanzamt hat trotz der fehlgeschlagenen Zustellung der Bescheide für die Jahre 1999 und 2000 an die Anschrift in M aufgrund der Auskunft des ehemaligen Steuerberaters im Jahr 2002, der Kläger lebe in Spanien, und der Abmeldung des Klägers unter Angabe der Anschrift in M, genügend Anhaltspunkte gehabt, um zumindest von einem fortbestehenden Aufenthalt des Klägers in Spanien auszugehen. Es durfte sich daher nicht wie bei Steuerpflichtigen, die sich „ins Ausland“ ohne eine neue Anschrift abmelden oder flüchtig sind, von vornherein auf inländische Ermittlungsmaßnahmen beschränken.
Im Streitfall ist somit zu entscheiden, welche konkreten Ermittlungspflichten ein Finanzamt vor einer öffentlichen Zustellung hinsichtlich der ausländischen Anschrift eines Steuerpflichtigen hat, wenn es diesen in einem bestimmten Land vermutet und durch Ermittlungsmaßnahmen bei inländischen Behörden und Kontaktpersonen keine weitere Aufklärung erreichen kann. Der Senat ist der Auffassung, dass ein Finanzamt in diesem Fall alle objektiv geeignet erscheinenden, rechtlich zulässigen und zumutbaren Ermittlungsmöglichkeiten des grenzüberschreitenden Informationsaustausches auszuschöpfen hat. Es muss insbesondere klären, ob ein solcher Informationsaustausch mit Behörden des vermuteten Aufenthaltsstaats möglich ist und an diese ein Auskunftsersuchen richten, um die dortige Anschrift des Steuerpflichtigen zu ermitteln. Das Bundesministerium der Finanzen hat für den Zeitraum vom 3. Februar 1999 bis zum 24. Januar 2006 –und somit für das hier maßgebliche Zustellungsjahr 2003– ein Merkblatt zur zwischenstaatlichen Amtshilfe durch Auskunftsaustausch in Steuersachen veröffentlicht7; in diesem fasst das Bundesfinanzministerium die wesentlichen Rechtsgrundlagen für Auskunftsersuchen deutscher Finanzämter und das zu beachtende Verfahren zusammen. In Tz. 2.2.4 weist das BMF darauf hin, im Rahmen einer Voranfrage könnten Auskünfte über „Namen, Anschrift oder andere allgemein zugängliche Angaben“ von Steuerpflichtigen in anderen Staaten eingeholt werden8; Anschlussersuchen und Richtigstellungen sind ebenfalls möglich9. Erst wenn feststeht, dass eine Anschriftenermittlung im Wege des grenzüberschreitenden Informationsaustausches entweder nicht möglich oder ein konkretes Auskunftsersuchen fehlgeschlagen ist, darf das FA demnach zur öffentlichen Zustellung übergehen.
EU-Amtshilferichtlinie
Das Finanzamt hat im Streitfall mit der Anfrage beim Einwohnermeldeamt und beim Sohn des Klägers im Vorfeld der öffentlichen Zustellung nicht alles Erforderliche getan, so der Bundesfinanzhof, weil es vor der öffentlichen Zustellung hätte versuchen müssen, die neue Anschrift des Klägers in P im Wege des grenzüberschreitenden Auskunftsaustausches zu erfahren.
Auf Grundlage der sog. Amtshilferichtlinie10 bestand im Jahr 2003 im Verhältnis zu Spanien eine Rechtsgrundlage für ein solches Auskunftsersuchen. Die Mitgliedstaaten gewähren einander gemäß Art. 1 Abs. 1 dieser Richtlinie gegenseitig alle Auskünfte, die für die zutreffende Festsetzung der Steuern vom Einkommen (und damit gemäß Art. 1 Abs. 3 dieser Richtlinie auch bei der Festsetzung der Einkommensteuer) geeignet sein können. Art. 2 dieser Richtlinie ermächtigt auch deutsche Finanzämter dazu, –nach dem im BMF-Schreiben in BStBl I 1999, 228 vorgegebenen Verfahren– ein Auskunftsersuchen an die zuständige Behörde eines anderen Mitgliedstaats zu richten. Zu den austauschbaren „Informationen“ in diesem Sinne gehören nach Auffassung des Bundesfinanzhofs grundsätzlich auch personenbezogene Informationen wie die Anschrift eines im Hoheitsbereich des anderen Mitgliedstaats lebenden Steuerpflichtigen11.
Neben dem Informationsaustausch aufgrund der Amtshilferichtlinie gibt es im Zustellungsjahr 2003 im Verhältnis zu Spanien auch einen abkommensrechtlichen Auskunftsanspruch. Das Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Spanischen Staat zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung bei den Steuern vom Einkommen und vom Vermögen vom 5. Dezember 196612 –DBA Spanien– enthält in Art. 26 Abs. 1 eine sog. „große Auskunftsklausel“, da nicht nur Informationen zur „Durchführung des Abkommens“, sondern auch zur „Durchführung des innerstaatlichen Rechts der Vertragstaaten“ im Wege einer Einzelauskunft ausgetauscht werden können13. Informationen im Sinne des Abkommensrechts sind auch die Verhältnisse einer bestimmbaren natürlichen Person14. Hierzu gehört nach Ansicht des Bundesfinanzhofs auch deren Anschrift im anderen Abkommensstaat.
Das Finanzamt hätte demnach vor der öffentlichen Zustellung über das damals zuständige Bundesamt für Finanzen an die zuständigen spanischen Behörden ein Auskunftsersuchen oder eine Voranfrage richten müssen, um die Anschrift des Klägers in Spanien zu ermitteln. Das Finanzamt hatte aufgrund der ihm vorliegenden Informationen hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass sich der Kläger tatsächlich noch in Spanien –und nicht in einem dritten Staat– aufhält. Eine Anfrage bei dem Bundesamt für Finanzen wäre im Streitfall zumutbar gewesen, da ein solches Ersuchen über den Dienstweg nach Auffassung des Senats kaum mehr Aufwand erfordert, als eine Anfrage bei einem deutschen Einwohnermeldeamt. Erst wenn das Auskunftsersuchen ergeben hätte, dass die Anschrift des Klägers auch auf diese Weise nicht zu ermitteln gewesen wäre, hätte das Finanzamt öffentlich zustellen dürfen.
Öffentlicht Zustellung statt Auslandszustellung
Die Voraussetzungen einer öffentlichen Zustellung gemäß § 15 Abs. 1 Buchst. c VwZG a.F. lagen ebenfalls nicht vor, urteilte der Bundesfinanzhof weiter:
Eine Auslandszustellung verspricht nach dieser Regelung keinen Erfolg, wenn sie an sich möglich wäre, ihre Durchführung aber etwa wegen Kriegs, Abbruchs der diplomatischen Beziehungen, Verweigerung der Rechtshilfe oder unzureichender Vornahme durch die örtlichen Behörden nicht zu erwarten ist. Im Streitfall kommt allenfalls das Merkmal in Betracht, dass es bei der Auslandszustellung in Spanien zu einer Verweigerung der Rechtshilfe oder mangelnden Unterstützung örtlicher Behörden gekommen wäre. Unter dieses Merkmal kann nach der Rechtsprechung und dem Schrifttum auch der im Streitfall vorliegende Sachverhalt subsumiert werden, dass ein Zustellungsempfänger im Ausland lebt, sein Aufenthaltsort dort aber unbekannt ist15.
Die Amtshilferichtlinie vom 19. Dezember 1977 sieht die Zustellungshilfe eines Mitgliedstaats für Steuerbescheide eines anderen Mitgliedstaats im Zustellungsjahr des Streitfalls (2003) noch nicht ausdrücklich vor. Es ist daher davon auszugehen, dass spanische Behörden keine Zustellungshilfe auf dieser Grundlage gewährt hätten. Erst mit der Richtlinie 2004/56/EG des Rates vom 21. April 2004 zur Änderung der Richtlinie 77/799/EWG über die gegenseitige Amtshilfe zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten im Bereich der direkten Steuern, bestimmter Verbrauchsteuern und der Steuern auf Versicherungsprämien ist die Amtshilferichtlinie entsprechend erweitert und Art. 8a Abs. 1 eingefügt worden, nachdem auf Antrag die ersuchte Behörde eines anderen Mitgliedstaats Steuerbescheide nach Maßgabe ihres nationalen Rechts in ihrem Hoheitsgebiet zustellt.
Auf der Grundlage des Art. 26 DBA Spanien wurde im Jahr 2003 ebenfalls keine Zustellungshilfe durch spanische Behörden gewährt, allerdings hat Spanien keine Einwände gegen Zustellungen durch ausländische Auslandsvertretungen (hier: gemäß § 14 VwZG a.F.) auf seinem Territorium erhoben16.
Demnach konnten im Jahr 2003 deutsche Steuerbescheide in Spanien nur über die deutschen Auslandsvertretungen gemäß § 14 VwZG a.F. zugestellt werden. Wenn das Aufenthaltsland des Zustellungsempfängers bekannt, die konkrete Anschrift dort aber nicht bekannt war, war eine Auslandszustellung gemäß § 14 VwZG a.F. i.S. des § 15 Abs. 1 Buchst. c VwZG a.F. unausführbar, wenn mindestens ein zeitnaher gescheiterter Zustellungsversuch vorlag17.
In dem aktuell vom Bundesfinanzhof entschiedenen Rechtsstreit hat das Finanzamt für den Einkommensteuerbescheid des Streitjahres allerding überhaupt keinen förmlichen Zustellungsversuch gemäß § 14 VwZG a.F. in Spanien unternommen.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 9. Dezember 2009 – X R 54/06
- vgl. dazu für die Streitjahre: BMF, Schreiben vom 03.02.1999, BStBl I 1999, 228; für die Zeit danach: BMF, Schreiben vom 25.01.2006, BStBl I 2006, 26[↩]
- vgl. grundlegend BVerfG, Beschluss vom 26.10.1987 – 1 BvR 198/87, NJW 1988, 2361[↩]
- vgl. z.B. BFH, Urteile vom 13.01.2005 – V R 44/03, BFH/NV 2005, 998, m.w.N.; vom 06.06.2000 – VII R 55/99, BFHE 192, 200, BStBl II 2000, 560; BVerwG, Urteil vom 18.04.1997 – 8 C 43.95, BVerwGE 104, 301; Engelhardt/App, VwVG/VwZG, 7. Aufl. 2006, § 10 VwZG Rz 3, m.w.N.[↩]
- vgl. BFH, Entscheidungen in BFH/NV 2005, 998; vom 16.01.2001 – VI S 25/00, BFH/NV 2001, 802[↩]
- vgl. z.B. FG Düsseldorf, Urteil vom 17.02.2006 – 1 K 2677/05, E,U, EFG 2006, 865; FG München, Urteil vom 17.06.2003 – 6 K 336/03; BPatG, Urteil vom 07.07.2004 – 28 W (pat) 227/03, Mitteilungen der Deutschen Patentanwälte 2005, 131; BGH, Urteil vom 08.06.1978 – IX ZR 11/74, Rechtsprechung zum Wiedergutmachungsrecht 1978, 184; und Schwarz in Hübschmann/Hepp/Spitaler –HHSp–, § 10 VwZG Rz 18[↩]
- vgl. Schwarz in HHSp, § 10 VwZG Rz 17[↩]
- BMF, Schreiben vom 03.02.1999, BStBl I 1999, 228, 974; für die Zeit danach BMF, Schreiben vom 25.01.2006, BStBl I 2006, 26[↩]
- siehe ergänzend hierzu Höppner, in: Becker/Höppner/Grotherr/Kroppen, DBA, Art. 26 OECD-MA Rz 137[↩]
- Tz. 2.2.7 des BMF-Schreibens in BStBl I 1999, 228[↩]
- Richtlinie 77/799/EWG des Rates vom 19. Dezember 1977 über die gegenseitige Amtshilfe zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten im Bereich der direkten Steuern[↩]
- siehe auch Höppner, in: Becker/Höppner/Grotherr/Kroppen, a.a.O., Art. 26 OECD-MA Rz 307[↩]
- BGBl II 1968, 9[↩]
- vgl. Eilers in Debatin/Wassermeyer MA Art. 26 Rz 24–27, Herlinghaus in Debatin/Wassermeyer Spanien Art. 26 Rz 3; ausführlich Engelschalk in Vogel/Lehner, DBA, 5. Aufl., Art. 26 Rz 64–67; Höppner, in: Becker/Höppner/Grotherr/Kroppen, a.a.O., Art. 26 DBA Spanien Rz 3 und Art. 26 OECD-MA Rz 187[↩]
- vgl. Höppner, in: Becker/Höppner/Grotherr/Kroppen, a.a.O., Art. 26 OECD-MA Rz 111[↩]
- vgl. BFH, Urteile vom 13.03.1973 – VII R 53/70, BFHE 109, 213, BStBl II 1973, 644; Sächs. FG, Beschluss vom 27.10.2005 – 3 V 248/05; Engelhardt/App, a.a.O., § 10 VwZG Rz 7[↩]
- vgl. Höppner, in: Becker/Höppner/Grotherr/Kroppen, a.a.O., Art. 26 DBA Spanien Rz 1 und Art. 26 OECD-MA Rz 31; Engelschalk in Vogel/Lehner, a.a.O., Art. 26 Rz 9[↩]
- vgl. z.B. BFH, Urteil in BFHE 109, 213, BStBl II 1973, 644; Sächs. FG, Beschluss vom 27.10.2005 – 3 V 248/05[↩]