Insolvenzrechtliches Aufrechnungsverbot bei antragsabhängigem Erstattungsanspruch

Eine Aufrechnung ist nicht gemäß § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO unzulässig, wenn das Finanzamt die Erstattungen nicht erst nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens zur Insolvenzmasse schuldig geworden ist.

Insolvenzrechtliches Aufrechnungsverbot bei antragsabhängigem Erstattungsanspruch

Das Aufrechnungsverbot besteht nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs nicht, wenn die Forderung „ihrem Kern nach“ bereits vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründet ist, d.h. sämtliche materiell-rechtlichen Tatbestandsvoraussetzungen für die Entstehung des Erstattungsanspruchs im Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens erfüllt waren1.

Etwas Anders ergibt sich auch nicht aus der Entscheidung des Bundesfinanzhofs in BFHE 238, 307, BStBl II 2013, 36. Der Bundesfinanzhof hatte in jener Entscheidung über die insolvenzrechtliche Begründung des Berichtigungsanspruchs nach § 17 Abs. 2 UStG zu befinden. Für die dort geregelten Fälle -in denen das Uneinbringlichwerden der Forderung im Zeitpunkt der Entstehung der Umsatzsteuer noch ungewiss ist- gewährt das UStG einen eigenständigen Berichtigungsanspruch und bestimmt für dessen Entstehung den Voranmeldungszeitraum der Uneinbringlichkeit.

Der im Streitfall zu beurteilende Erstattungsanspruch weist eine vergleichbare Besonderheit in seiner Entstehung nicht auf. Materiell-rechtlich waren die Umsätze aus den Glücksspielautomaten bereits in den Veranlagungszeiträumen 1999 bis 2002 in unmittelbarer Anwendung des Art. 13 Teil B Buchst. f der Richtlinie 77/388/EWG steuerfrei. Denn nach der „Linneweber und Akritidis“-Entscheidung des EuGH2 hat diese Bestimmung seit ihrem Inkrafttreten3 unmittelbare Wirkung in dem Sinne, dass sich ein Veranstalter oder Betreiber von Glücksspielen oder Glücksspielgeräten vor den nationalen Gerichten auf sie berufen kann, um die Anwendung mit dieser Bestimmung unvereinbaren innerstaatlichen Rechtsvorschriften -§ 4 Nr. 9 Buchst. b Satz 1 UStG i.d.F. vom 21.02.2005, gültig bis 5.05.2006- zu verhindern. Der Umstand, dass sich der Betreiber der Geräte auf die Bestimmung „berufen kann“, sie also geltend machen muss, ändert nichts daran, dass der Rechtsanspruch auf Erstattung kraft Gesetzes ohne weitere Rechtshandlung eines Beteiligten4 in dem Zeitpunkt entstanden ist, in dem die Umsatzsteuer für diese Umsätze entrichtet worden ist. Für den insoweit vergleichbaren Fall einer erst während des Insolvenzverfahrens beantragten Investitionszulage hat der Bundesfinanzhof bereits entschieden, dass für die insolvenzrechtliche Begründung dieses Anspruchs nicht erforderlich ist, dass der Investitionszulageantrag bereits gestellt war5.

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Ein Aufrechnungsverbot des Finanzamt ergibt sich auch nicht aus § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO. Denn das Finanzamt hat die Möglichkeit der Aufrechnung nicht durch eine anfechtbare Rechtshandlung erlangt.

Die Anfechtungsmöglichkeiten nach § 130 und § 131 InsO scheitern -unbeschadet der vom Finanzgericht insoweit erörterten weiteren Voraussetzungen- bereits daran, dass Rechtshandlungen, deren Anfechtung in Betracht kommen könnte, jedenfalls nicht innerhalb des zweiten oder dritten Monats vor dem Eröffnungsantrag vorgenommen worden sind. Nach den Feststellungen des Finanzgericht erfolgte die letzte Zahlung des Schuldners A an das Finanzamt am 22.05.2003 und damit mehr als drei Monate vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens am 20.10.2004. Auch Rechtshandlungen des Finanzamt (insbesondere Vollstreckungsmaßnahmen) sind nach den Feststellungen des Finanzgericht nicht innerhalb der genannten Fristen vorgenommen worden.

Nach § 133 Abs. 1 InsO sind Rechtshandlungen des Schuldners anfechtbar, die dieser mit dem Vorsatz, seine Gläubiger zu benachteiligen, vorgenommen hat, wenn der andere Teil, hier das Finanzamt, zur Zeit der Handlung den Vorsatz des Schuldners kannte, wobei die Kenntnis der drohenden Zahlungsunfähigkeit und der Gläubigerbenachteiligung die Vermutung der Kenntnis der Gläubigerbenachteiligungsabsicht des Schuldners begründet. Nach den Feststellungen des Finanzgericht, an die der Bundesfinanzhof mangels entsprechender Verfahrensrügen gebunden ist (§ 118 Abs. 2 FGO), kann von einem Vorsatz des Insolvenzschuldners, seine Gläubiger zu benachteiligen, jedoch nicht ausgegangen werden.

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Übertragung auf den Einzelrichter - ohne Anhörung

Bundesfinanzhof, Urteil vom 18. August 2015 – VII R 29/14

  1. BFH, Urteil vom 17.04.2007 – VII R 27/06, BFHE 217, 8, BStBl II 2009, 589, m.w.N.[]
  2. EuGH, Urteil „Linneweber und Akritidis“, EU:C:2005:92[]
  3. so der EuGH in Rz 41 der Entscheidung[]
  4. vgl. dazu BFH, Urteil vom 23.02.2012 – I R 20/10, BFHE 233, 114, BStBl II 2011, 822[]
  5. BFH, Beschluss vom 21.03.2014 – VII B 214/12, BFH/NV 2014, 1088[]