Keine Steuerbescheidsänderung zur nachträglichen Durchsetzung einer geänderten Rechtsansicht

§ 173 AO ist bei nachträglich erkanntem Rechtsfehler oder zwecks nachträglicher Durchsetzung einer geänderten Rechtsansicht nicht anwendbar.

Keine Steuerbescheidsänderung zur nachträglichen Durchsetzung einer geänderten Rechtsansicht

Nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen. Da § 173 AO nach seinem rechtlichen Gehalt keine Fehlerberichtigungsvorschrift ist, rechtfertigt nur das nachträgliche Bekanntwerden von Tatsachen und Beweismitteln eine Änderung nach dieser Vorschrift, nicht hingegen ein nachträglich erkannter Rechtsfehler1.

Nachträglich bekanntgewordene Tatsachen, nicht hingegen rechtliche Erwägungen, müssen für eine auf § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO gestützte Korrektur maßgeblich sein2.

Ein Steuerbescheid darf wegen nachträglich bekanntgewordener Tatsachen oder Beweismittel zugunsten des Steuerpflichtigen deshalb nur dann aufgehoben oder geändert werden, wenn das Finanzamt bei ursprünglicher Kenntnis der Tatsachen oder Beweismittel mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit anders entschieden hätte3.

Eine Änderung nach § 173 Abs. 1 AO scheidet hingegen aus, wenn die Unkenntnis der später bekanntgewordenen Tatsache für die ursprüngliche Veranlagung nicht ursächlich (rechtserheblich) gewesen ist, weil das Finanzamt auch bei rechtzeitiger Kenntnis der Tatsache mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu keiner anderen Steuer gelangt wäre4.

In Einklang damit steht der Grundsatz von Treu und Glauben einer Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO auch dann entgegen, wenn dem Finanzamt Tatsachen aufgrund einer Verletzung seiner Ermittlungspflichten unbekannt geblieben sind, der Steuerpflichtige seinerseits aber die ihm obliegenden Mitwirkungspflichten in zumutbarer Weise erfüllt hat. Im Falle einer beiderseitigen Pflichtverletzung ist nach ständiger Rechtsprechung eine Abwägung vorzunehmen5.

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Dies vorangestellt, kommt eine Änderung der ursprünglich ergangenen Steuerbescheide wegen einer geänderten Erlasslage nicht in Betracht.

Denn die rechtliche Beurteilung, welche jenen ursprünglichen Steuerfestsetzungen zugrunde lag, entsprach der seinerzeitigen Erlasslage im Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom 02.12.19946, dort unter Tz. 2.2.2. Nr. 2 Satz 4 und 5. Danach fehlt es an einer wesentlichen Vorzugsbesteuerung i.S. von § 2 Abs. 2 Nr. 2 AStG –und damit an den Voraussetzungen dafür, dass eine erweiterte beschränkte Steuerpflicht i.S. von § 2 AStG ausgelöst wird– dann, wenn nach dem Steuerrecht eines ausländischen Staates bei allen in seinem Gebiet ansässigen Personen die aus dem Ausland stammenden Einkünfte nicht der Besteuerung unterliegen (sog. Territorialitätsprinzip). Das gleiche gilt, wenn aus dem Ausland stammende Einkünfte allgemein, ohne weitere an die Ansässigkeit anknüpfende Voraussetzungen (z.B. in Großbritannien), nur besteuert werden, soweit sie in den Staat der Ansässigkeit überwiesen werden (Besteuerung auf der sog. Remittance-Basis). Genau Letzteres ist aber die Situation im Streitfall7. Da das Finanzamt behördenintern an besagte Erlasslage gebunden gewesen ist, entsprachen die ursprünglichen Steuerfestsetzungen der seinerzeitigen Verwaltungspraxis und ist folglich davon auszugehen, dass das Finanzamt auch so entscheiden wollte, wie dies tatsächlich geschehen ist8.

Allerdings schränkte das zitierte BMF-Schreiben vom 02.12.1994 unter Tz. 2.2.2. Nr. 2 in zweierlei Weise ein:

Zum einen in Satz 5, indem dort, wie schon wiedergegeben, die Nichtannahme einer Vorzugsbesteuerung durch die Besteuerung auf Remittance base-Basis konditional davon abhängig ist, dass „aus dem Ausland stammende Einkünfte allgemein, ohne weitere an die Ansässigkeit anknüpfende Voraussetzungen“ besteuert werden. Diese Einschränkung wird aber gerade für die Rechtslage in Großbritannien ausdrücklich und „glasklar“9 als nicht einschlägig angesehen und das deckt sich auch mit dem Verständnis z.B. der Oberfinanzdirektion OFD Münster in deren „Information“ vom 21.05.200210, wenn sie (im Vorgriff auf eine beabsichtigte Überarbeitung des Anwendungserlasses zum Außensteuergesetz) „entgegen der Formulierung in Rdn. 2.2.2 Nr. 2“ des BMF-Schreibens für die britische Remittance base-Besteuerung grundsätzlich eine niedrigere Besteuerung i.S. des § 2 Abs. 2 Nr. 2 AStG annehmen will.

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Zum anderen bestimmt Satz 6 der Tz. 2.2.2. Nr. 2 des BMF-Schreibens vom 02.12.1994: „Ungeachtet dessen kann jedoch auch in diesen Staaten eine gegenüber der allgemeinen Besteuerung eingeräumte Vorzugsbesteuerung nicht ausgeschlossen werden“. Dafür lässt sich erneut die besagte „Information“ der OFD Münster in DB 2002, 1192 anführen; die OFD hat darin erkennen lassen, dass sie schon zum damaligen Zeitpunkt von einer Vorzugsbesteuerung ausgehe. Das korrespondiert denn auch mit der nachfolgenden Erlasslage im BMF-Schreiben vom 14.05.200411, die ausweislich dessen Eingangssatzes grundsätzlich ab dem Veranlagungszeitraum 2002 anzuwenden ist und wonach eine beachtliche Vorzugsbesteuerung vorliegen soll, „wenn die Besteuerung nach der sog. Remittance-Basis von besonderen, an die Ansässigkeit anknüpfenden Voraussetzungen abhängig ist, z.B. bei Auslandseinkünften eines in Großbritannien ansässigen Ausländers, der zwar im Vereinigten Königreich ansässig (‚resident‘) ist, jedoch nicht über ein britisches ‚domicile‘ verfügt“. Ob diese Ergänzung in dem BMF-Schreiben allerdings als bloße Klarstellung des schon zuvor existenten Vorbehalts zu begreifen ist, nicht aber als eine gegenüber der vorangehenden nunmehr anderweitigen Sichtweise, ist eher zu bezweifeln. Dagegen spricht die bis dahin uneingeschränkte Erwähnung der Remittance base-Besteuerung im BMF-Schreiben vom 02.12.1994 als Beispiel für eine fehlende Vorzugsbesteuerung12. Vor diesem Hintergrund ist eher anzunehmen, dass das Finanzamt auch bei frühzeitiger Kenntnis von der Zahlung an die Klägerin im Zuge der Erbauseinandersetzung nicht von einer erweitert beschränkten Steuerpflicht ausgegangen wäre.

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Unabhängig davon ist genau das alles –der Vorbehalt in Nr. 2 Satz 6 der Tz. 2.2.2. des BMF-Schreibens vom 02.12.1994 ebenso wie auch die Verlautbarung der OFD Münster– der Grund, weshalb es dem Finanzamt abzuverlangen gewesen wäre, von sich aus im Rahmen der ihm obliegenden Ermittlungspflichten (vgl. § 88 AO) beizeiten kraft Amtes weitere Nachforschungen über die Regelungslage nach englischem Steuerrecht anzustellen, wenn es darauf hätte abheben wollen. Ein solcher Grund war im Streitfall gegeben, obschon das Finanzamt seinerzeit noch keine konkrete Kenntnis über die Ausgleichszahlungen hatte, welche der Klägerin im Streitjahr 2001 im Zuge der Erbauseinandersetzung zugeflossen waren und aus welchen die in Rede stehenden zusätzlichen Kapitalerträge erwirtschaftet worden waren. Dem Finanzamt war nämlich aus den vorangegangenen Veranlagungszeiträumen, in welchen die Klägerin noch unbeschränkt steuerpflichtig gewesen war, infolge der vorgelegten Steuererklärungen bekannt, dass sie über namhafte laufende Kapitalerträge im Inland verfügte, die allerdings mangels Tatbestandsmäßigkeit (vgl. § 49 Abs. 1 Nr. 5 Buchst. a EStG 1997/2002) keine beschränkte Steuerpflicht auslösten. Für diese Kapitalerträge stellte sich die Frage einer möglichen Vorzugsbesteuerung nach Maßgabe von § 2 Abs. 2 AStG aber nicht minder wie für die Zinsen aufgrund der nachlassbedingten Ausgleichszahlungen. Das Finanzamt hatte seinerzeit jedoch ausweislich der vorliegenden Aktenvermerke und im Einvernehmen mit der Klägerin bewusst darauf verzichtet, die –nicht der „einfachen“ beschränkten Steuerpflicht unterfallenden– Kapitalerträge in die Besteuerung einzubeziehen. An eine mögliche Erweiterung der beschränkten Steuerpflicht gemäß § 2 AStG wurde offenbar nicht gedacht, obwohl dessen Voraussetzungen jedenfalls in diesem Punkt aus objektiver Sicht so oder so erfüllt waren und die Klägerin auch bereits aufgrund dieser Erträge über wesentliche wirtschaftliche Interessen im Inland i.S. von § 2 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. Abs. 3 AStG verfügte. Die späteren aus der betriebsnahen Veranlagung gewonnenen Erkenntnisse änderten lediglich den Umfang der Kapitalerträge. Anders als das Finanzamt meint, „führen“ sie aber nicht zu der erweitert beschränkten Steuerpflicht und sie beruhen insoweit –und soweit nach Aktenlage erkennbar– auch nicht darauf, dass die Klägerin den ihr obliegenden Mitwirkungs- und Erklärungspflichten im Rahmen ihrer Steuererklärungen bloß unzulänglich nachgekommen wäre. Dass sie für die Streitjahre nicht ihre sämtlichen bezogenen Einkünfte deklariert hat (vgl. dazu allgemein § 25 Abs. 3 Satz 1 EStG 1997/2002), gründete erkennbar darin, dass sie dazu als beschränkt Steuerpflichtige und nach den Absprachen mit dem Finanzamt nicht verpflichtet war. Die Annahme der erweitert beschränkten Steuerpflicht entspringt infolgedessen allein einer anderweitigen rechtlichen Beurteilung des Fachprüfers.

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Hat das Finanzamt die bei dieser Sachlage hiernach notwendigen Nachforschungen aber –zunächst– unterlassen und trotzdem die ursprünglich nicht zuletzt wegen weiteren Prüfungsbedarfs angebrachten Vorbehaltsvermerke gemäß § 164 Abs. 3 AO aufgehoben, dann ist ihm dieses Unterlassen mit der Wirkung einer Änderungssperre zuzurechnen, wenn es später zu neuen, dem Steuerpflichtigen nachteiligen Erkenntnissen –hier: über den Umfang weiterer Kapitalerträge der Klägerin und in diesem Zusammenhang die Besteuerungssituation in Großbritannien– gelangt13. Das Kriterium der Rechtserheblichkeit (Kausalität) der neuen Tatsache bei der ursprünglichen Veranlagung soll es gerade ausschließen, dass die Beteiligten des Steuerschuldverhältnisses mit Hilfe eines Änderungsbescheids eine (scheinbar) neue Tatsache zum bloßen Anlass oder Vorwand nehmen, eine geläuterte Rechtsansicht nachträglich durchzusetzen14; der Gesetzgeber hat vielmehr dem Rechtsfrieden und der Rechtssicherheit in solchen Fällen Vorrang vor der materiellen Richtigkeit der ergangenen Verwaltungsentscheidung eingeräumt15. Letztlich will das Finanzamt im Streitfall aber genau solches erreichen. Lediglich die Größenordnung der nunmehr „entdeckten“ Kapitaleinkünfte hat es offenbar bewogen, den im Grundsatz schon zuvor verwirklichten Sachverhalt neu zu bewerten. Die jetzigen Erkenntnisse über die Besteuerungsgrundlagen für sog. „residents“ und damit auch die Klägerin in den Streitjahren in Großbritannien entspringen keiner „neuen Tatsache“, sondern einer neuen Rechtsbetrachtung und sind sonach ungeeignet, um die Änderungen zu rechtfertigen.

Bundesfinanzhof, Urteil vom 26. Juni 2013 – I R 4/12

  1. BFH (GrS), Beschluss vom 23.11.1987 – GrS 1/86, BFHE 151, 495, BStBl II 1988, 180[]
  2. BFH, Urteil vom 11.06.1997 – X R 117/95, BFH/NV 1997, 853[]
  3. BFH, Beschluss in BFHE 151, 495, BStBl II 1988, 180, unter C.II. am Anfang[]
  4. BFH, Beschluss in BFHE 151, 495, BStBl II 1988, 180, unter C.II.2.b[]
  5. z.B. BFH, Urteile vom 16.06.2004 – X R 56/01, BFH/NV 2004, 1502, und vom 26.02.2009 – II R 4/08, BFH/NV 2009, 1599, m.w.N.[]
  6. BMF, BStBl I 1995, Sondernummer 1/1995[]
  7. in diesem Sinne auch FG Düsseldorf, Urteil vom 20.04.2010 – 9 K 1639/06 E; Hahn, jurisPR-SteuerR 22/2012, Anm. 3; Angermann/Anger, IStR 2005, 439, 440[]
  8. ständige Rechtsprechung; vgl. im Einzelnen z.B. BFH, Urteil vom 22.04.2010 – VI R 27/08, BFH/NV 2010, 1607, m.w.N.[]
  9. so Hahn, ebenda[]
  10. OFD Münster, DB 2002, 1192[]
  11. BMF, BStBl I 2004, Sondernummer 1/2004, dort ebenfalls unter Tz. 2.2.2.[]
  12. ebenso Angermann/Anger, IStR 2005, 439[]
  13. vgl. allg. m.w.N., von Wedelstädt in Beermann/Gosch, § 173 AO Rz 66 ff.[]
  14. BFH, Beschluss in BFHE 151, 495, BStBl II 1988, 180[]
  15. BFH, Beschluss, ebenda[]
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