Nach § 96 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 FGO ist das Gericht an die Fassung des Klageantrags nicht gebunden, sondern hat im Wege der Auslegung den Willen der Partei anhand der erkennbaren Umstände zu ermitteln1.

Hierbei ist zu berücksichtigen, dass im Zweifel das gewollt ist, was nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und der recht verstandenen Interessenlage entspricht2. Nur eine solche Auslegung trägt dem Grundsatz der Rechtsschutz gewährenden Auslegung nach Art.19 Abs. 4 des Grundgesetzes Rechnung3.
Eine Auslegung findet ihre Grenze in dem erklärten Willen des Klägers. Ist der Klageantrag schon dem Wortlaut nach eindeutig gestellt und wird dieser Wortlaut durch die Ausführungen des Klägers im Übrigen gestützt, so ist für eine Auslegung durch das Gericht kein Raum mehr4.
llerdings unterscheidet § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO zwischen dem Klagebegehren und der „Fassung der Anträge“ und stellt dabei letztlich auf das Klagebegehren ab. Daraus folgt, dass, wenn das Finanzgericht auf die wörtliche Fassung des Klageantrags abstellt, obwohl dieser dem erkennbaren Klageziel des Klägers nicht entspricht, auch dies einen Verstoß gegen § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO begründet5.
Maßgeblich ist letztlich stets das materielle Ziel der Klage und nicht dessen Formalisierung durch einen Antrag6.
Ein Verstoß gegen § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO ist auch ohne ausdrückliche Rüge zu beachten und zwingt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils, weil dadurch die Ordnungsmäßigkeit des ganzen weiteren Verfahrens betroffen ist7.
Zu einer rechtsschutzgewährenden Auslegung des Klagebegehrens ist der Bundesfinanzhof im Revisionsverfahren ohne Bindung an die Würdigung des Finanzgericht befugt8.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 18. April 2023 – VII R 35/19
- BFH, Urteil vom 12.06.1997 – I R 70/96, BFHE 183, 465, BStBl II 1998, 38, unter II. 1., m.w.N.[↩]
- BFH, Urteil vom 29.04.2009 – X R 35/08, BFH/NV 2009, 1777, m.w.N.[↩]
- BFH, Urteil vom 27.01.2011 – III R 65/09, Rz 10, m.w.N.; BFH, Beschluss vom 21.10.2020 – VII B 121/19, Rz 24[↩]
- BFH, Urteil vom 13.12.1994 – VII R 18/93, BFH/NV 1995, 697, unter II.[↩]
- vgl. BFH, Urteile vom 14.09.2017 – IV R 34/15, Rz 16; und vom 04.09.2008 – IV R 1/07, BFHE 222, 220, BStBl II 2009, 335, unter II. 3.a, m.w.N.; BFH, Beschlüsse vom 27.06.2017 – X B 106/16, Rz 22; und vom 19.08.2015 – V B 26/15, Rz 18, jeweils m.w.N.[↩]
- vgl. BFH, Beschlüsse in vom 27.06.2017 – X B 106/16, Rz 22; und vom 19.08.2015 – V B 26/15, Rz 18; vgl. auch Lange in HHSp, § 96 FGO Rz 177; Seer in Tipke/Kruse, § 96 FGO Rz 97[↩]
- vgl. BFH, Beschluss vom 17.07.2019 – II B 31/18, Rz 10, m.w.N.[↩]
- ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH, Urteile vom 11.12.2018 – VIII R 11/16, BFHE 263, 418, Rz 30; und vom 01.03.2018 – IV R 38/15, BFHE 260, 543, BStBl II 2018, 587, Rz 30, jeweils m.w.N.[↩]
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