Die KleinbetragsVO in der ab dem Jahr 2002 geltenden Fassung ist auch insoweit durch § 156 Abs. 1 AO gedeckt, als danach nicht nur Änderungen zulasten des Steuerpflichtigen, sondern gleichermaßen Änderungen, die an sich zugunsten des Steuerpflichtigen vorzunehmen wären, unterbleiben, wenn die Abweichungen zu den bisherigen Festsetzungen oder Feststellungen bestimmte Bagatellgrenzen nicht erreichen.

Anlaß für diese Entscheidung des Bundesfinanzhofs war eine nachträglich vorgelegte Spendenquittung über 30,- €:
Nach § 10b Abs. 1 EStG können Zuwendungen zur Förderung steuerbegünstigter Zwecke unter bestimmten Umständen als Sonderausgaben geltend gemacht werden. Voraussetzung des Sonderausgabenabzugs ist nach § 50 Abs. 1 EStDV die Vorlage einer Zuwendungsbestätigung, die der Empfänger der Spende nach amtlich vorgeschriebenem Vordruck ausgestellt hat.
Einer Änderung des Einkommensteuerbescheids steht jedoch die Vorschrift des § 1 Abs. 1 KBV 2002 entgegen, da die nachträgliche Berücksichtigung der Sonderausgabe in Höhe von 30,- € nach den Feststellungen des FG lediglich zu einer Herabsetzung der Einkommensteuer um 8,- € führen würde:
§ 1 Abs. 1 Nr. 1 KBV 2002 sieht vor, dass Festsetzungen der Einkommensteuer nur geändert oder berichtigt werden, wenn die Abweichung von der bisherigen Festsetzung mindestens 10 € beträgt. Dabei ist die Vorschrift in ihrer Neufassung ab 01.01.2002, in der von „Änderung oder Berichtigung“ der Steuer gesprochen wird, dahingehend zu verstehen, dass sie sowohl bei Änderungen zugunsten als auch zulasten des Steuerpflichtigen eingreift1.
Inhalt, Zweck und Ausmaß der Ermächtigung des § 156 Abs. 1 Satz 1 AO 2002 sind hinreichend bestimmt i.S. des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG. § 156 Abs. 1 Satz 1 AO 2002 ermächtigt zum Erlass einer Rechtsverordnung, die in Bagatellfällen sowohl zugunsten als auch zulasten des Steuerpflichtigen ein Absehen von Steuerfestsetzungen anordnen darf.
Der Wortlaut des § 156 Abs. 1 Satz 1 AO 2002 ist zwar insoweit ungenau gefasst, als er die Ermächtigung für das Absehen von der Steuerfestsetzung davon abhängig macht, dass der festzusetzende Betrag eine zu bestimmende Grenze von höchstens 10 € nicht übersteigt. Damit ist nach Auffassung des erkennenden BFHs indes nicht lediglich der Fall gemeint, dass die sonst vorzunehmende Steuerfestsetzung insgesamt die zu bestimmende Betragsgrenze (von höchstens 10 €) nicht übersteigt oder im Fall einer Steueränderung lediglich eine solche zulasten des Steuerpflichtigen verbietet. Die in § 156 Abs. 1 Satz 1 AO 2002 genannte Betragsgrenze bezieht sich im Falle einer Steueränderung angesichts des Zwecks der Norm, zur Verwaltungsvereinfachung beizutragen ersichtlich auf die steuerliche Auswirkung einer ohne die Vorschrift sonst vorzunehmenden Steueränderung. Ebenso wie § 155 Abs. 1 AO differenziert § 156 Abs. 1 Satz 1 AO 2002 dabei nicht danach, ob eine Steuerfestsetzung Nachzahlungen oder Steuererstattungsansprüche auslöst.
§ 156 Abs. 1 AO 2002 gibt in hinreichendem Umfang das „Programm“ für die KBV 2002 vor. Damit wird den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt; denn die Ermächtigungsgrundlage i.S. des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG muss nicht alle Einzelheiten der zu erlassenden Rechtsverordnung enthalten2.
Der Entstehungsgeschichte des § 156 AO 2002 lässt sich zudem entnehmen, dass die Vorschrift eine Ermächtigung zum Erlass einer Rechtsverordnung enthält, die bei Kleinbeträgen das Absehen von einer Steueränderung sowohl zugunsten als auch zulasten des Steuerpflichtigen regeln kann.
§ 156 Abs. 1 Satz 1 AO 2002 ist auf § 215 der Reichsabgabenordnung i.d.F. vom 13.12.19193 (RAO 1919) zurückzuführen. § 215 RAO 1919 lautete: „Der Reichsminister der Finanzen kann anordnen, dass Nachforderungen von Steuern und Berichtigungen von Steuerfestsetzungen unterbleiben, wenn der Betrag, der nachzufordern oder zu erstatten ist, eine gewisse Grenze voraussichtlich nicht überschreitet.“
In der RAO in der Fassung vom 22.05.19314 (RAO 1931) wurde § 215 RAO 1919 in § 14 Abs. 1 RAO 1931 mit folgendem Wortlaut fortgeführt: „Der Reichsminister der Finanzen kann mit Zustimmung des Reichsrats anordnen, dass die Festsetzung, die Erstattung und die Vergütung von Steuern und anderen steuerrechtlichen Geldleistungen unterbleiben, wenn der Betrag, der festzusetzen, zu erstatten oder zu vergüten ist, eine gewisse Grenze voraussichtlich nicht übersteigt.“
Bei Schaffung der AO wurde § 14 Abs. 1 RAO 1931 letztlich zwar nicht wortgleich, jedoch inhaltsgleich in § 156 Abs. 1 AO in der ab dem 01.01.1977 geltenden Fassung übernommen.
Die AO 1977 beruht auf einem Gesetzesentwurf der Bundesregierung5, der von den Fraktionen der SPD und FDP fortgeführt und in den Bundestag eingebracht wurde6. In diesen Entwurf wurde § 14 Abs. 1 RAO 1931 in § 137 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1974 mit folgendem Wortlaut übernommen: „Der Bundesminister der Finanzen kann zur Vereinfachung der Verwaltung durch Rechtsverordnung bestimmen, dass … Steuern und steuerliche Nebenleistungen nicht festgesetzt werden, wenn der Betrag, der festzusetzen ist, einen durch diese Rechtsverordnung zu bestimmenden Betrag voraussichtlich nicht übersteigt; …“. In dem Bericht und Antrag des Finanzausschusses7 wurde § 137 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1974 dann in den Entwurf einer AO 1977 wortgleich in § 156 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 übertragen.
In der Folge wurde § 156 Abs. 1 AO 1977 durch Art. 23 Nr. 6 StEuglG mit Wirkung ab dem 01.01.2002 geändert, wobei eine neue Kleinbetragsgrenze in Höhe von 10 € aufgenommen und die Ermächtigungsgrundlage für den Erlass von Rundungsvorschriften aufgehoben wurde. Im Übrigen entspricht § 156 Abs. 1 AO 2002 dem Wortlaut des § 156 Abs. 1 AO 1977, indem er darauf abstellt, dass Steuern „nicht festgesetzt werden“.
Eine ausdrückliche Ermächtigung zum Erlass einer Rechtsverordnung, in der bei bestimmten Kleinbeträgen das Absehen einer Steueränderung zugunsten und zulasten des Steuerpflichtigen vorgesehen werden kann, war daher bereits in den Ursprungsvorschriften des § 215 RAO 1919 und § 14 Abs. 1 RAO 1931 enthalten. Zwar hat dann der Gesetzgeber den Steuererstattungsanspruch nicht mehr wörtlich in die Fassung des § 156 Abs. 1 AO 1977 aufgenommen; dies war aber auch nicht notwendig, da die RAO und die AO ein unterschiedliches Verständnis von „Steuerfestsetzung“ und „Steuererstattung“ haben. Die RAO unterschied zwischen „Steuerfestsetzung“ und „Steuererstattung“, während in der AO die „Steuererstattung“ von der „Steuerfestsetzung“ mitumfasst ist. In §§ 127 ff. RAO 1919 und §§ 150 ff. RAO 1931 waren eigene Bestimmungen für den „Steuererstattungsanspruch“ enthalten. Nach § 150 Abs. 1 RAO 1931 war für eine Steuererstattung ein Antrag notwendig. Der Antrag musste innerhalb gewisser Fristen gestellt werden (vgl. § 151 Satz 2 RAO 1931, § 152 Abs. 2 RAO 1931, § 153 RAO 1931 i.V.m. § 154 RAO 1931); ansonsten erlosch der Erstattungsanspruch. Die AO enthält im Gegensatz zur RAO keine eigenen Bestimmungen über den „Steuererstattungsanspruch“; der „Steuererstattungsanspruch“ ist vielmehr entweder Folge der Festsetzung in einem (geänderten) Steuerbescheid oder er entsteht unmittelbar kraft Gesetzes, z.B. bei einer nichtigen Steuerfestsetzung8.
Die KBV 2002 ist zwar nicht durch einen der in Art. 80 Abs. 1 Satz 1 und 4 GG genannten exekutivischen Normgeber erlassen worden, sondern im StEuglG durch den parlamentarischen Gesetzgeber selbst. Dies war im Streitfall aber zulässig, da der parlamentarische Gesetzgeber durch dasselbe Gesetz auch die Ermächtigungsgrundlage des § 156 Abs. 1 Satz 1 AO 2002 änderte9.
§ 1 Abs. 1 Satz 1 KBV 2002 dient –wie von den formell-gesetzlichen Ermächtigungsgrundlagen seit Schaffung des § 156 Abs. 1 AO 1977 vorausgesetzt– der Vereinfachung und damit der Wirtschaftlichkeit des Verwaltungsverfahrens. Die Vorschrift verfolgt das Ziel, Kosten des Veranlagungsverfahrens, die außer Verhältnis zum festgesetzten Steuerbetrag oder den betragsmäßigen Auswirkungen eines Änderungsbescheids stehen, zu vermeiden10. Im Einzelfall unterbleibende günstige Änderungen sind durch den betroffenen Steuerpflichtigen vor dem Hintergrund dieses übergeordneten Ziels hinzunehmen, da die Verwaltungskostenersparnis letztlich auch diesem Steuerpflichtigen zugute kommt11.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 16. Februar 2011 – X R 21/10
- Trzaskalik in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 156 AO Rz 6; Güroff in Beermann/Gosch, AO § 156 Rz 6; Seer in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 156 AO Rz 8; Frotscher in Schwarz, AO, § 156 Rz 6; a.A. wohl Klein/Rüsken, AO, 10. Aufl., § 156 Rz 1[↩]
- Pieroth in Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, 11. Aufl., Art. 80 Rz 11[↩]
- RGBl 1919, 1993[↩]
- RGBl I 1931, 161[↩]
- vgl. BT-Drucks. VI/1982 vom 19.03.1971[↩]
- Entwurf einer AO 1974, vgl. BT-Drucks. 7/79 vom 25.01.1973[↩]
- BT-Drucks. 7/4292 vom 07.11.1975[↩]
- Klein/ Rüsken, a.a.O., § 155 Rz 3[↩]
- zu den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts an ein solches Verfahren vgl. Beschluss vom 13.09. 2005 – 2 BvF 2/03, BVerfGE 114, 196[↩]
- vgl. Muuss, Die Kleinbetragsverordnung, DStZ 1981, 226, 227; Höllig, Die Kleinbetrags-Verordnung, DB 1981, 34, 39[↩]
- vgl. BR-Drucks. 192/00, 106[↩]