Das Bundesfinanzministerium sieht sich desöfteren mit dem Vorwurf konfrontiert, es beschränke Entscheidungen des Bundesfinanzhofs in Steuerfragen mit so genannten Nichtanwendungserlassen auf den jeweiligen Einzelfall anstatt daraus für alle Steuerzahler gültige Regelungen abzuleiten und verletze damit rechtsstaatliche Prinzipien. Dieser Vorwurf, zuletzt prominent vorgebracht auf der letzten Jahrespressekonferenz des Bundesfinanzhofs von dessen Präsidenten, ärgert natürlich das Bundesfinanzministerium. Und das versucht sich jetzt zu rechtfertigen:

1. Argument: Beschränkung auf wenige Einzelfälle
Kommt es zu dieser Überprüfung eines Urteils, werden allerdings keinesfalls rechtsstaatlichen Prinzipien verletzt, vielmehr sind die Behörden laut Grundgesetz sogar dazu verpflichtet, diese Überprüfung vorzunehmen. Wenn der BFH ein Urteil spricht, gilt dies zunächst nur für die am Prozess Beteiligten. Das einzige Gericht in Deutschland, das Entscheidungen treffen kann, die eine allgemein bindende Wirkung haben, ist das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.
Die „wenigen Einzelfälle“ betreffen jedes Jahr ein gutes Dutzend Entscheidungen des Bundesfinanzhofs – mit steigender Tendenz. Das Bundesfinanzministerium hat natürlich formal Recht: Die Entscheidung des BFH gelten zunächst nur in dem jeweiligen Einzelfall. Gleichwohl legt der Bundesfinanzhof letzverbindlich das Steuerrecht aus. Mit jedem Nichtanwendungserlass zwingt das Bundesfinanzministerium daher seine Finanzbeamte, nicht gesetzeskonform zu entscheiden.
2. Argument: Neue Überprüfungsmöglichkeit für den Bundesfinanzhof
Ziel eines Nichtanwendungserlasses ist es dabei nicht – wie fälschlich behauptet – Steuermehreinnahmen zu erzielen, sondern dem BFH Gelegenheit zu geben, in einem neuen Verfahren seine Rechtsauffassung zu überprüfen.
Erinnert einen an die gute alte Schule: HausaufgabenRechtsstreite werden solange wiederholt, bis der SchülerRichter so schreibturteilt, wie der OberlehrerFinanzminister es will
3. Argument: Nichtanwendungserlasse sind kein Nachteil für die Bürger
Oft wird auch übersehen, dass ein Nichtanwendungserlass nicht mit einer Benachteiligung der Steuerpflichtigen gleichzusetzen ist:
So zum Beispiel im Fall des BFH-Urteils vom 18. April 2002: Der BFH wollte die Anerkennung von Aufwendungen für die krankheits- oder behinderungsbedingte Unterbringung in einem Alten(wohn)heim als außergewöhnliche Belastung nur unter sehr eingeschränkten Voraussetzungen zulassen. Die obersten Finanzbehörden des Bundes und der Länder sehen das zugunsten der Bürgerinnen und Bürger anders.
Stimmt. Hier hat das BMF Recht. Das betrifft genau einen von über 60 Nichtanwendungserlassen, die das BMF in den letzten vier Jahren erlassen hat. Aber bei den anderen hat die Finanzverwaltung sicherlich nur für diesen einen geübt.
4. Argument: Widersprüchliche Rechtsprechung
Gelegentlich ist ein Nichtanwendungserlass unumgänglich, weil sich der BFH selbst widerspricht: Ein Nichtanwendungserlass ist geboten, wenn verschiedene Senate des BFH unterschiedliche Rechtsauffassungen vertreten und keine Anrufung des großen Senats erfolgt.
Normalerweise nennt man das Änderung der Rechtsprechung…
Aber im Ernst: Die Senate des Bundesfinanzhofs sind in aller Regel Fachsenate, jeder Senat ist also für ein bestimmtes Rechtsgebiet zuständig, so dass sich verschiedene Senate im Regelfall nicht widersprechen können. Und für noch bestehende Konflikte gibt es beim Bundesfinanzhof, wie bei jedem Bundesgericht, den Großen Senat, der regelmäßig nur dann nicht angerufen wird, wenn entweder der Senat, der früher anders geurteilt hat, jetzt für dieses Rechtsgebiet nicht mehr zuständig ist, oder aber auf Anfrage des nun entscheidenden Senats erklärt, an seiner alten Rechtsprechung nicht mehr festhalten zu wollen. Also kein Widerspruch, sondern bessere Erkenntnis oder Gesetzesänderung oder Änderung der tatsächlichen Verhältnisse oder was auch immer zur Änderung der Rechtsprechung auch in anderen Rechtsgebieten führen kann.
Um es klar zu sagen: Dass die Finanzverwaltung mit der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs aus den unterschiedlichsten Gründen nicht immer einverstanden ist, ist sicherlich nachvollziehbar. Aber ihr steht es jederzeit frei, ein förmliches Gesetzgebungsverfahren anzustoßen, um die missliebige Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs gegenstandslos zu machen. Aber eine Korrektur der dritten Gewalt steht nun einmal nur dem Gesetzgeber zu, nicht der Verwaltung – lernt jeder Jurastudent bereits in der Staatsrechtsvorlesung des erstens Semesters.