Wird mit der Wiederaufnahmeklage in Form der Nichtigkeitsklage der Entzug des gesetzlichen Richters gerügt, weil ein Senat des Bundesfinanzhofs entschieden habe, ohne die strittige Rechtsfrage dem Großen Senat vorzulegen, muss zugleich ein hierin liegendes willkürliches Verhalten des Gerichts substantiiert dargelegt werden.

Die Zulässigkeit einer – als Nichtigkeitsklage bezeichneten – Wiederaufnahmeklage (§ 587 ZPO) setzt nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs voraus, dass ein Wiederaufnahmegrund zumindest schlüssig behauptet wird. Auch wenn die Bezeichnung des Nichtigkeitsgrundes nicht zum gesetzlich vorgeschriebenen Mindestinhalt der Klageschrift gehört (§ 588 Abs. 1 Nr. 1 ZPO), folgt daraus nur, dass die Tatsachen, aus denen sich der Wiederaufnahmegrund ergeben soll, nicht schon innerhalb der Klagefrist vorgetragen werden müssen; sie können in einem späteren Schriftsatz bis zur mündlichen Verhandlung nachgereicht werden. Dennoch gehört die schlüssige Behauptung eines nach §§ 579, 580 ZPO erheblichen Wiederaufnahmegrundes zur Zulässigkeit der Wiederaufnahmeklage. Schlüssig ist der Vortrag grundsätzlich nur dann, wenn die vorgebrachten Tatsachen ‑ihre Richtigkeit unterstellt- den behaupteten Wiederaufnahmegrund ergeben 1.
Wird mit der Wiederaufnahmeklage in Form der Nichtigkeitsklage der Entzug des gesetzlichen Richters gerügt, weil ein Senat des Bundesfinanzhofs entschieden habe, ohne zuvor den Großen Senat des Bundesfinanzhofs angerufen zu haben, ist ein Wiederaufnahmegrund nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs nur dann schlüssig vorgetragen, wenn nicht nur die Voraussetzungen des § 11 Abs. 2 oder Abs. 3 FGO, sondern auch ein willkürliches Verhalten des Gerichts substantiiert dargelegt werden 2. Der demgegenüber vertretenen Rechtsauffassung, dass es zureiche, die Voraussetzungen des § 11 Abs. 2 oder 3 FGO (als Grundlage einer das Revisionsgericht verpflichtenden Vorlage an den Großen Senat) darzulegen, ist nach Ansicht des Bundesfinanzhofs nicht beizupflichten.
Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs reicht der Hinweis auf einen (vermeintlichen) Verfahrensfehler bei der Besetzung für die Darlegung eines Wiederaufnahmegrundes nicht aus 3. Daran ist festzuhalten. Zwar rügt die Klägerin im Streitfall nicht einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, bei dessen Prüfung das Bundesverfassungsgericht nur einen im besonderen Maße "qualifizierten" (die Zuständigkeit des Gerichts berührenden) Verfahrensfehler korrigiert, d.h. die Auslegung und Anwendung von Zuständigkeitsnormen nur beanstandet, wenn sie bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheinen und offensichtlich unhaltbar sind 4. Für die Anwendung der dem Zweck des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dienenden Regelung des § 579 Abs. 1 Nr. 1 ZPO 5 kann aber ‑und dies ist Ausgangspunkt der BFH-Rechtsprechung- nichts anderes gelten.
Dem kann auch nicht mit Erfolg den (Vorlage-)Beschluss des X. Senats des Bundesgerichtshofs an die Vereinigten Großen Senate des Bundesgerichtshofs vom 30.03.1993 6 entgegengehalten werden. Zwar heißt es dort, dass eine nicht vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts "durch die Nichtigkeitsklage gemäß § 579 Abs. 1 Nr. 1 ZPO mit Erfolg gerügt werden kann, ohne dass es darauf ankäme, ob die Regeln des § 21g Abs. 2 GVG bei der Aufstellung des Mitwirkungsplanes willkürlich oder sonst missbräuchlich nicht beachtet worden sind oder der Besetzungsmangel gleichzeitig einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG darstellt". Allerdings hat derselbe Senat des Bundesgerichtshof unter Hinweis auf den daraufhin ergangenen Beschluss der Vereinigten Großen Senate des Bundesgerichtshofs vom 05.05.1994 7 in seinem Urteil vom 22.11.1994 8 unter Hinweis auf die schwerwiegenden Folgen eines Besetzungsmangels seine früher geäußerte Auffassung "überdacht und revidiert": Ein Verfahrensverstoß müsse, um beachtlich zu sein, auf einer klar zutage tretenden Gesetzesverletzung beruhen, er müsse schwer oder "qualifiziert" sein, "also auf einer nicht mehr hinnehmbaren Rechtsansicht und damit letztlich auf objektiver Willkür" beruhen. Auch nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts muss ein "qualifizierter Mangel" vorliegen 9. Dem wird in der Literatur überwiegend zugestimmt 10.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 29. Januar 2015 – I K 1/14
- BFH, Urteil vom 12.01.2011 – I K 1/10, BFH/NV 2011, 1159, m.w.N.[↩]
- BFH, Urteil in BFH/NV 2011, 1159; vgl. auch BFH, Beschluss vom 29.01.1992 – VIII K 4/91, BFHE 165, 569, BStBl II 1992, 252; BFH, Urteil vom 05.11.1993 – VI K 2/92, BFH/NV 1994, 395[↩]
- BFH, Urteil in BFH/NV 2011, 1159, m.w.N.[↩]
- z.B. BVerfG, Beschluss vom 16.02.2005 – 2 BvR 581/03, NJW 2005, 2689[↩]
- Hartmann in Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 73. Aufl., § 579 Rz 3[↩]
- BGH, Beschluss vom 30.03.1993 – X ZR 51/92, NJW 1993, 1596[↩]
- BGH, Beschluss vom 05.05.1994 – VGS 1 – 4/93, BGHZ 126, 63, NJW 1994, 1735[↩]
- BGH, Urteil vom 22.11.1994 – X ZR 51/92, NJW 1995, 332[↩]
- z.B. BAG, Beschluss vom 09.06.2011 – 2 ABR 35/10, NJW 2011, 3053[↩]
- z.B. Zöller/Greger, ZPO, 30. Aufl., § 579 ZPO Rz 2 [s.a. dort Heßler, § 547 ZPO Rz 2 und dort Lückemann, § 16 GVG Rz 2, m.w.N.]; Hartmann, a.a.O., § 579 Rz 3[↩]