Eine Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn das Finanzgericht sein Urteil auf einen bis dahin nicht erörterten oder nicht bekannten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Auffassungen nach dem bisherigen Verlauf der Verhandlung nicht rechnen musste.

Dies kann insbesondere der Fall sein, wenn ein entscheidungserheblicher Umstand vom Finanzgericht erst mit dem Endurteil in das Verfahren eingebracht wird1.
Zwar muss ein -zumal durch einen Rechtsanwalt sachkundig vertretener- Verfahrensbeteiligter, auch wenn die Rechtslage umstritten oder problematisch ist, alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und seinen Vortrag darauf einstellen2. Er muss aber nicht damit rechnen, dass seine Klage aus einem Grund abgewiesen wird, den weder die Beteiligten noch das Gericht zuvor in das Verfahren eingeführt haben und wenn dies zudem mit einer rechtlich fehlerhaften Begründung geschieht3.
So liegt der hier vom Bundesfinanzhof entschiedene Streitfall jedoch nicht. Der wesentliche Streitpunkt des Klageverfahrens war die Einkünfteerzielungsabsicht bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung. Dass das Gericht diesen Punkt in seiner Entscheidung anders als die Klägerin würdigt, stellt keine Einführung eines neuen rechtlichen Gesichtspunktes dar. Ferner wird durch das Sitzungsprotokoll nicht belegt, dass das Finanzgericht eine Fremdvermietungsabsicht in der mündlichen Verhandlung annehmen würde und dies gegenüber den Beteiligten geäußert hat. Jedenfalls wäre das Finanzgericht bei seiner Entscheidungsfindung hieran nicht gebunden. Das Finanzgericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO). Deshalb sind Hinweise, denen sich eine bestimmte Rechtsauffassung beziehungsweise Einschätzung zu den Erfolgsaussichten entnehmen lässt, nicht bindend für die spätere Entscheidung4
Bundesfinanzhof, Beschluss vom 6. September 2023 – IX B 84/22
- z.B. BFH, Beschluss vom 23.02.2017 – IX B 2/17, BFH/NV 2017, 746, Rz 15[↩]
- BVerfG, Beschluss vom 19.05.1992 – 1 BvR 986/91, BVerfGE 86, 133, unter C.III. 1.a; Gräber/Ratschow, Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 119 Rz 15, m.w.N.[↩]
- BFH, Beschluss vom 12.01.2023 – IX B 29/22, BFH/NV 2023, 268, Rz 2[↩]
- vgl. BFH, Urteil vom 20.10.1981 – VIII R 152/80 unter 4.; BFH, Beschluss vom 08.06.2004 – IV B 180/02, BFH/NV 2004, 1634, unter 1.[↩]