Offenbare Unrichtigkeit – und der Einsatz eines Risikomanagementsystems

Sind vom Steuerpflichtigen in seiner Steuererklärung angegebene Einkünfte im Einkommensteuerbescheid nicht berücksichtigt worden, weil die Anlage S zur Einkommensteuererklärung versehentlich nicht eingescannt und die angegebenen Einkünfte somit nicht in das elektronische System übernommen wurden, liegt ein mechanisches Versehen und somit grundsätzlich eine offenbare Unrichtigkeit i.S. des § 129 Satz 1 AO vor. Ein mechanisches Versehen ist nicht mehr gegeben, sondern es liegt ein Fehler im Bereich der Sachverhaltsermittlung nach § 88 AO vor, wenn der Sachbearbeiter eine weitere Sachverhaltsermittlung unterlässt, obwohl sich ihm aufgrund der im Rahmen des Risikomanagementsystems ergangenen Prüf- und Risikohinweise eine weitere Prüfung des Falles hätte aufdrängen müssen.

Offenbare Unrichtigkeit – und der Einsatz eines Risikomanagementsystems

Nach § 129 Satz 1 AO kann die Finanzbehörde Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten, die beim Erlass des Verwaltungsakts unterlaufen sind, jederzeit berichtigen.

Ähnliche offenbare Unrichtigkeiten sind einem Schreib- oder Rechenfehler vergleichbare mechanische Versehen wie beispielsweise Eingabe- oder Übertragungsfehler, die ebenso mechanisch, d.h. ohne weitere Prüfung, erkannt und berichtigt werden können. Dagegen zählen zu offenbaren Unrichtigkeiten nicht Fehler bei der Auslegung oder Anwendung einer Rechtsnorm, eine unrichtige Tatsachenwürdigung oder die unzutreffende Annahme eines in Wirklichkeit nicht vorliegenden Sachverhalts. Dabei ist § 129 AO schon dann nicht anwendbar, wenn auch nur die ernsthafte Möglichkeit besteht, dass die Nichtbeachtung einer feststehenden Tatsache auf einer fehlerhaften Tatsachenwürdigung oder einem sonstigen sachverhaltsbezogenen Denk- oder Überlegungsfehler gründet oder auf mangelnder Sachverhaltsaufklärung beruht1.

Allerdings ist nicht jede versehentlich unberücksichtigte Tatsache mit einer unvollständigen Sachverhaltsermittlung gleichzusetzen. Eine der Berichtigung entgegenstehende unvollständige Sachverhaltsermittlung ist erst anzunehmen, wenn für die Besteuerung wesentliche Tatsachen nicht durch ein mechanisches Versehen unberücksichtigt geblieben sind. Ermittlungsfehler gehen über mechanische Versehen bei der Heranziehung des Sachverhalts zur Steuerfestsetzung hinaus, weil ein Teil des rechtserheblichen Sachverhalts wegen fehlerhaft unterlassener oder unrichtiger Tatsachenaufklärung noch nicht bekannt ist. Ist dagegen ohne weitere Prüfung erkennbar, dass ein Teil des bekannten Sachverhalts aus Unachtsamkeit bei der Steuerfestsetzung nicht erfasst worden ist, darf diese offenbare Unrichtigkeit zugunsten und zuungunsten des Steuerpflichtigen durch Berichtigung der versehentlich fehlerhaften Steuerfestsetzung korrigiert werden2.

Offenbar ist eine Unrichtigkeit, wenn sie klar auf der Hand liegt, durchschaubar, eindeutig oder augenfällig ist. Maßgebend ist deshalb, ob der Fehler bei Offenlegung des aktenkundigen Sachverhalts für jeden unvoreingenommenen (objektiven) Dritten klar und deutlich als offenbare Unrichtigkeit erkennbar ist3. Dabei genügt die Offenbarkeit der Unrichtigkeit als solche. Darauf, ob der Steuerpflichtige die Unrichtigkeit anhand des Bescheids und der ihm vorliegenden Unterlagen erkennen konnte, kommt es nicht an4.

Gemessen an diesen Grundsätzen hat das Bundesfinanzhof im hier entschiedenen Fall – anders als erstinstanzlich das Finanzgericht Düsseldorf5 – eine Berichtigung des Einkommensteuerbescheids nach § 129 Satz 1 AO abgelehnt:

Die Nichtberücksichtigung der Einkünfte aus selbständiger Arbeit des Klägers beruhte zwar darauf, dass die Anlage S zur Einkommensteuererklärung nicht eingescannt und die dort erklärten Einkünfte somit nicht in das elektronische Datenverarbeitungsprogramm des Finanzamt übernommen wurden. Dieser Fehler, der, wie das Finanzgericht im Ausgangspunkt zutreffend erkannt hat, nicht auf einem Tatsachen- oder Rechtsirrtum oder einem sonstigen Denk- oder Überlegungsfehler gründete, mithin ein rein mechanisches Versehen darstellte, konnte ebenso mechanisch, d.h. ohne weitere Prüfung berichtigt werden. Hierfür bedurfte es lediglich eines nochmaligen Einscannens oder einer anderweitigen Eingabe der in der Anlage S erklärten selbständigen Einkünfte.

Auch war die Unrichtigkeit, wie das Finanzgericht ebenfalls zutreffend angenommen hat, offenbar i.S. des § 129 Satz 1 AO.

Für jeden unvoreingenommenen (objektiven) Dritten war bei Offenlegung des Sachverhalts ohne Weiteres erkennbar, dass die im Wege des Einscannens elektronisch erfassten Daten, aus denen sich die Nichterfassung der Einkünfte aus selbständiger Arbeit des Klägers ergab, ohne erkennbaren Grund von den erklärten Angaben der Kläger abwichen. Dass es sich hierbei zunächst um einen rein elektronisch gespeicherten, nicht nach außen in Erscheinung tretenden Sachverhalt handelte, ist unbeachtlich. Zu dem Sachverhalt, der eine offenbare Unrichtigkeit begründen kann, können auch elektronisch gespeicherte Daten, wie hier die im Veranlagungsprogramm erfassten Daten, gehören, sofern sie ohne Weiteres sichtbar gemacht werden können. Mit Rücksicht auf die zunehmende EDV-technische Abwicklung von Verwaltungsvorgängen kann die Offenbarkeit eines Umstands nicht allein von seiner Erscheinung in Papierform abhängen6. Abgesehen davon ergab sich die Abweichung von den erklärten Einkünften für einen verständigen Dritten auch aus dem zeitlich nachfolgenden Einkommensteuerbescheid vom 10.01.2012, der auf der Grundlage der elektronisch erfassten Daten erlassen wurde.

Allerdings ist die Würdigung des Finanzgericht, die offenbare Unrichtigkeit sei nicht dadurch zu einem die Berichtigung nach § 129 Satz 1 AO ausschließenden Tatsachen- oder Rechtsirrtum geworden, dass auf die ergangenen Prüf- und Risikohinweise hin ein Abgleich der elektronischen Daten mit der eingereichten Steuererklärung unterlassen wurde, rechtsfehlerhaft.

Es entspricht zwar der ständigen Rechtsprechung des BFH, dass das Übersehen eines Prüfhinweises oder eine besonders oberflächliche Behandlung des Steuerfalls durch die Behörde unabhängig von Verschuldenserwägungen eine Berichtigung des Steuerbescheids nicht ausschließt, solange die diesbezügliche Überprüfung nicht zu einer neuen Willensbildung des zuständigen Veranlagungsbeamten im Tatsachen- oder Rechtsbereich geführt hat7. Bleibt etwa ein Prüfhinweis unbeachtet, perpetuiert sich lediglich der Eingabefehler des Sachbearbeiters. Entsprechendes gilt, wenn im Rahmen der Bearbeitung eines Prüfhinweises der Fehler unbemerkt bleibt, weil der Prüfhinweis einen anderen als den von der offenbaren Unrichtigkeit betroffenen Tatsachen- oder Rechtsbereich betrifft und die Prüfung daher nicht zu einer neuen Willensbildung des Sachbearbeiters führt8.

Anders ist dies jedoch, wenn sich die Unachtsamkeit bei der Bearbeitung des Falles häuft und sich dem Sachbearbeiter aufgrund ergangener Prüfhinweise Zweifel an der Richtigkeit seiner Eingabe aufdrängen müssten, und er trotz dieser Zweifel eine weitere Sachverhaltsaufklärung unterlässt9. Denn ungeachtet des Einsatzes eines Risikomanagementsystems bleibt die Finanzbehörde gemäß § 88 Abs. 1 AO zur Ermittlung des Sachverhalts sowie aller für den Einzelfall bedeutsamen Umstände verpflichtet. Daher ist jedenfalls dann kein einem Schreib- oder Rechenfehler ähnliches mechanisches Versehen mehr gegeben, sondern liegt der Fehler im Bereich der Sachverhaltsermittlung nach § 88 AO, wenn eine weitere Sachverhaltsermittlung unterbleibt, obwohl aufgrund der im Rahmen des Risikomanagementsystems ergangenen Prüf- und Risikohinweise sich eine weitere Prüfung des Falles hätte aufdrängen müssen. Ein solcher Fehler im Bereich der Sachverhaltsermittlung überlagert ein ursprünglich mechanisches Versehen. Die Beurteilung, ob ein die Berichtigung ausschließender Fehler in der Sachverhaltsermittlung oder lediglich ein mechanischer Fehler vorliegt, hat nach den Verhältnissen des Einzelfalls und insbesondere nach der Aktenlage zu erfolgen10.

Das Finanzgericht hat seine Überzeugung, dass auch nach Ergehen der Prüf- und Risikohinweise keine Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Willensbildung aufgrund unzureichender Sachverhaltsaufklärung bestanden hätten, im Wesentlichen darauf gestützt, dass im Streitfall keine ausdrücklichen Hinweise auf eine Abweichung von den im Vorjahr erfassten Einkünften aus selbständiger Arbeit oder auf die Höhe des Erstattungsbetrags ergangen seien. Ein hinreichender Anlass zur Überprüfung der erfassten Einkünfte bestand jedoch, wie das Finanzgericht selbst ausführt, bereits aufgrund des Prüfhinweises 4706, wonach für einen der Kläger Einkünfte von weniger als 4.200 € Eingang in die eingescannte Erfassung der erklärten Einkünfte gefunden hatten, sowie aufgrund des Risikohinweises 5401, wonach der Risikofilter aufgrund der erstmaligen Zusammenveranlagung der Kläger keinen Vorjahresvergleich durchführen konnte und deshalb eine personelle Prüfung der Eingaben vorsah. Unterlässt der Sachbearbeiter bewusst einen Abgleich zwischen den erklärten und den eingescannten Einkünften, obwohl die im Rahmen eines Risikomanagementsystems ergangenen Prüf- und Risikohinweise einen solchen Abgleich angesichts der sich hieraus ergebenden Zweifel an der Richtigkeit der dem Steuerbescheid zugrunde gelegten Einkünfte fordern, und führt dies zu einer unzutreffenden Erfassung der erklärten Einkünfte, liegt, wie dargelegt, keine einem Schreib- oder Rechenfehler ähnliche offenbare Unrichtigkeit und damit kein mechanisches Versehen vor. In einem solchen Fall beruht die Nichtberücksichtigung des feststehenden Sachverhalts der selbständigen Einkünfte nicht auf einem bloßen Übersehen erklärter Daten, das regelmäßig zu einer Berichtigungsmöglichkeit nach § 129 AO führt11, sondern darauf, dass die zutreffende Höhe der dem Steuerbescheid zugrunde gelegten Einkünfte nicht aufgeklärt wurde, obgleich Zweifel an der Richtigkeit dieser Einkünfte bestanden und daher eine weitere Sachaufklärung nach § 88 AO geboten gewesen wäre. Damit beruht der Fehler auf einer unzureichenden Sachverhaltsaufklärung, die eine spätere Berichtigung des Fehlers nach § 129 AO ausschließt12.

Bundesfinanzhof, Urteil vom 14. Januar 2020 – VIII R 4/17

  1. ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH, Urteil vom 17.05.2017 – X R 45/16, BFH/NV 2018, 10, Rz 25, m.w.N.[]
  2. BFH, Urteil vom 16.01.2018 – VI R 41/16, BFHE 260, 397, BStBl II 2018, 378, Rz 14, m.w.N.; vgl. zuletzt BFH, Urteil vom 22.05.2019 – XI R 9/18, BFHE 264, 393, BStBl II 2020, 37, Rz 18, m.w.N.[]
  3. vgl. z.B. BFH, Urteil vom 17.06.2004 – IV R 9/02, BFH/NV 2004, 1505[]
  4. vgl. z.B. BFH, Urteil vom 22.02.2006 – I R 125/04, BFHE 211, 424, BStBl II 2006, 400[]
  5. FG Düsseldorf, Urteil vom 16.02.2017 – 14 K 3554/14 E[]
  6. BFH, Urteil vom 06.11.2012 – VIII R 15/10, BFHE 239, 296, BStBl II 2013, 307, Rz 22[]
  7. BFH, Urteile vom 18.04.1986 – VI R 4/83, BFHE 146, 350, BStBl II 1986, 541; vom 11.07.2007 – XI R 17/05, BFH/NV 2007, 1810; BFH, Beschluss vom 28.05.2015 – VI R 63/13, BFH/NV 2015, 1078[]
  8. vgl. BFH, Urteil vom 04.11.1992 – XI R 40/91, BFH/NV 1993, 509; BFH, Beschluss vom 02.09.2002 – VI B 303/00, BFH/NV 2003, 5; vgl. hierzu auch von Wedelstädt in Gosch, AO § 129 Rz 41.3[]
  9. vgl. BFH, Urteil vom 16.01.2018 – VI R 38/16, BFH/NV 2018, 513; BFH, Beschluss in BFH/NV 2003, 5[]
  10. BFH, Urteile vom 26.10.2016 – X R 1/14, BFH/NV 2017, 257; und vom 03.08.2016 – X R 20/15, BFH/NV 2017, 438[]
  11. vgl. BFH, Urteil vom 29.03.1985 – VI R 140/81, BFHE 144, 118, BStBl II 1985, 569[]
  12. vgl. BFH, Urteile in BFH/NV 2018, 513, und in BFH/NV 1993, 509[]

Bildnachweis:

  • Steuererklärung: Falco