Prozesszinsen – und die gewährte AdV

Ein Anspruch auf Prozesszinsen nach § 236 AO besteht nicht für den Zeitraum, in dem während eines Klageverfahrens die Vollziehung des Steuerbescheids aufgehoben wurde und die Finanzbehörde daraufhin den Steuerbetrag an den Steuerpflichtigen zurückgezahlt hat.

Prozesszinsen – und die gewährte AdV

Wird durch eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung oder aufgrund einer solchen Entscheidung eine festgesetzte Steuer herabgesetzt oder eine Steuervergütung gewährt, so ist gemäß § 236 Abs. 1 Satz 1 AO der zu erstattende oder zu vergütende Betrag vorbehaltlich § 236 Abs. 3 AO vom Tag der Rechtshängigkeit an bis zum Auszahlungstag zu verzinsen. Ist der zu erstattende Betrag erst nach Eintritt der Rechtshängigkeit entrichtet worden, so beginnt die Verzinsung gemäß § 236 Abs. 1 Satz 2 AO mit dem Tag der Zahlung.

Eine Verzinsungspflicht für zu erstattende Beträge aufgrund einer Aufhebung, Rücknahme oder Änderung des Bescheids oder aufgrund einer unrechtmäßigen Beitreibung war bereits in § 132 i.V.m. §§ 128, 129 der Reichsabgabenordnung (RAO) i.d.F. vom 13.12.1919 -RAO 1919- geregelt. Eine spezielle Regelung für Prozesszinsen auf Erstattungsbeträge war noch nicht vorgesehen1. § 132 RAO 1919 entsprach einem „vielfach geäußerten Bedürfnis und der Billigkeit“. In den Fällen der §§ 128 und 129 RAO 1919 sollten die Zinsen von der Entrichtung an gerechnet werden2.

Die in § 132 RAO 1919 getroffene Regelung wurde im Wesentlichen unverändert in § 155 RAO i.d.F. vom 22.05.1931 übernommen3 und durch § 21 Nr. 1 des Steueranpassungsgesetzes vom 16.10.1934 gestrichen4.

In dem Entwurf eines Steueränderungsgesetzes vom 04.03.19615, der u.a. das Steuersäumnisgesetz (StSäumG) und Änderungen zur RAO enthielt, waren Regelungen zu Prozesszinsen enthalten, die im Gesetzgebungsverfahren angenommen wurden. In § 4 StSäumG wurde lediglich allgemein geregelt, dass Erstattungsansprüche nur dann zu verzinsen sind, wenn dies in den Steuergesetzen vorgeschrieben ist -entsprechend § 233 AO-6. Allerdings wurde zugleich ein geänderter § 155 RAO eingefügt7. Die Vorschrift entsprach im Wesentlichen dem heute gültigen § 236 AO, wobei § 155 RAO die Überlegung zugrunde lag, dass eine allgemeine Verzinsung von Steuererstattungs- und Vergütungsansprüchen wegen der damit verbundenen Verwaltungserschwerung zur damaligen Zeit nicht durchführbar war. Die Einführung einer Regelung für Prozesszinsen erschien lediglich gerechtfertigt und als ohne erheblichen Verwaltungsaufwand durchführbar für Fälle, in denen sich eine Steuererstattung infolge eines vor den Gerichten schwebenden Rechtsmittelverfahrens längere Zeit hinauszog. Umgekehrt wurde auch eine Regelung für den Fall für angemessen erachtet, dass infolge eines Rechtsmittelverfahrens der geschuldete Betrag der Finanzverwaltung längere Zeit vorenthalten wurde. Durch die Einführung einer Art von Prozesszinsen sollte diesen Härten abgeholfen werden8. Die Zahlung von Prozesszinsen bezog sich auf etwaig zu viel entrichtete Steuerbeträge, wenn die Steuerschuld nach Rechtshängigkeit herabgesetzt wurde9.

Weiterlesen:
Prozesszinsen nach Klagerücknahme

§ 155 RAO wurde durch § 162 Nr. 24 FGO i.d.F. vom 06.10.1965 aufgehoben10 und anstelle dieser Vorschrift § 111 FGO geschaffen11. Eine inhaltliche Änderung erfolgte nicht.

Wenige Jahre später sollte nach § 218 des Entwurfs einer Abgabenordnung vom 08.01.1971 die materielle Vorschrift des § 111 FGO ohne sachliche Änderungen in die AO übernommen werden12. Die Gewährung von Prozesszinsen bezog sich -auch hier- auf Überzahlungen13. Die endgültige Normierung erfolgte -nach einer zwischenzeitlichen Regelung der Prozesszinsen in § 4b StSäumG (Art. 3 und Art. 4 Nr. 3 des Dritten Gesetzes zur Änderung des Steuerberatungsgesetzes, BGBl I 1975, 1509 ff., 1532, 1533)- durch § 236 AO i.d.F. vom 16.03.1976 -AO 1977-14. Mit dem Inkrafttreten der AO 1977 am 01.01.1977 wurde § 236 Abs. 1 bis 3 AO 1977 in der noch heute in § 236 Abs. 1 bis 3 AO enthaltenen Fassung eingeführt15. Für die Zeit nach dem 31.12.1976 entstehen Prozesszinsen somit nach dieser Vorschrift (vgl. Art. 97 § 15 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung vom 14.12.1976, BGBl I 1976, 3341, 3383).

Zusammenfassend ergibt sich aus den Materialien zur Entstehungsgeschichte und Entwicklung des § 236 AO, dass der Gesetzgeber von Anfang an die Verzinsung auf gezahlte Beträge beschränken und die Gewährung von Prozesszinsen als eine Billigkeitsregelung für die Fälle vorsehen wollte, in denen dem Steuerpflichtigen während eines gerichtlichen Verfahrens ein entrichteter Betrag -möglicherweise für einen längeren Zeitraum- vorenthalten bleibt, weil die Erhebung der Klage gemäß § 69 Abs. 1 FGO keinen Suspensiveffekt hat. Demzufolge besteht die Pflicht zur Verzinsung gemäß § 236 Abs. 1 Satz 1 AO bis zum Auszahlungstag.

Weiterlesen:
Gefährliches Werkzeug

Auch in der Literatur ist § 236 AO von Anfang an als eine Regelung verstanden worden, die einen geldwerten Ausgleich für den Vermögensschaden gewährt, der dem obsiegenden Kläger dadurch erwachsen ist, dass er den Anspruch des Steuergläubigers ohne Rücksicht auf die von ihm im Rechtsbehelfsverfahren gegen die Rechtmäßigkeit seiner Festsetzung erhobenen Einwendungen erfüllen muss16. Die Ursache der Verzinsung ist die Zahlung der festgesetzten Steuer, die unabhängig von der Einlegung des Rechtsbehelfs gefordert werden kann. Folgenbeseitigungs- oder Schadensersatzansprüche werden durch die Verzinsungsregelung in § 236 AO nicht ausgeschlossen17. Durch die Gewährung von Prozesszinsen sollen somit Härten ausgeglichen werden, die sich durch die Verzögerung der Erstattung bei gerichtlichen Verfahren ergeben18. Der Normzweck des § 236 AO wird darin gesehen, dem Gläubiger eines Erstattungsanspruchs für die Vorenthaltung des Kapitals und der damit verbundenen Nutzungsmöglichkeiten für die Zeit ab Rechtshängigkeit eine Entschädigung zu gewähren19.

Die Verzinsung läuft bis zum Auszahlungstag, d.h. bis zu dem Tag, an dem die Zahlungsmittel beim Steuerpflichtigen eingehen20. Ein Anspruch nach § 236 AO entsteht nur dann, wenn der Steuerpflichtige Leistungen erbracht hat, die die Erfüllung der Steuer bewirken sollten21. Da nach dem Wortlaut des § 236 Abs. 1 Satz 1 AO nur der zu erstattende Betrag zu verzinsen ist, kommt die Anwendung der Vorschrift in den Fällen nicht in Betracht, in denen die festgesetzte Steuer vor ihrer Herabsetzung aufgrund einer AdV (§ 69 Abs. 3 Satz 4 FGO, § 361 Abs. 2 Satz 4 AO) zurückgezahlt worden ist22 und aus diesem Grund nicht mehr erstattet werden kann.

Weiterlesen:
Akteneinsicht - und Rechtsschutzbedürfnis

Schließlich spricht auch die bisher zu § 236 AO ergangene Rechtsprechung dafür, die Vorschrift dahingehend einschränkend auszulegen, dass Prozesszinsen nicht für einen Zeitraum zu gewähren sind, in dem der gezahlte Steuerbetrag vorübergehend erstattet worden ist.

Denn die Rechtsprechung sieht den Zweck der Vorschrift ebenfalls darin, dem Gläubiger eines Erstattungsanspruchs für die Vorenthaltung des Kapitals und der damit verbundenen Nutzungsmöglichkeiten zumindest für die Zeit ab Rechtshängigkeit eine Entschädigung zu gewähren23. Zu § 111 FGO a.F. hatte der Bundesfinanzhof in einem obiter dictum ausgeführt, dass die Ursache einer Verzinsung die Zahlung von Abgaben ist, die unabhängig von der Einlegung eines Rechtsbehelfs gefordert werden kann24.

Die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs zu § 233a AO steht dem gefundenen Ergebnis nicht entgegen. Zwar sollen nach dem Urteil des VIII. Bundesfinanzhofs vom 19.04.2005 – VIII R 12/0425 auch Beträge, die dem Steuerpflichtigen aufgrund einer AdV erstattet worden sind, als „zu erstattende Beträge“ i.S. des § 233a Abs. 3 Satz 3 AO anzusehen sein. Doch ist diese Entscheidung zu § 233a AO ergangen und kann daher nicht ohne weiteres auf § 236 AO übertragen werden. … Vor allem aber geht der Bundesfinanzhof auch für den Anwendungsbereich des § 233a AO davon aus, dass die Zinsen nur für solche Zeiten gezahlt werden sollen, in denen der Steuergläubiger tatsächlich einen Liquiditätsvorteil erlangt hat und der Steuerschuldner tatsächlich nicht über das Geld verfügen konnte.

Weiterlesen:
Aussetzung der Vollziehung beim Bundesfinanzhof

Der Sinn und Zweck des § 236 AO besteht also darin, dem Steuerpflichtigen einen Ausgleich dafür zu gewähren, dass er über den gezahlten Betrag nicht verfügen kann, weil er diesen aufgrund des fehlenden Suspensiveffekts der Klage zu zahlen hat (vgl. § 69 Abs. 1 Satz 1 FGO). Wird dem Steuerpflichtigen der gezahlte Betrag jedoch aufgrund der AdV des Abgabenbescheids zumindest vorübergehend zurückgezahlt, wird er dadurch in die Lage versetzt, über das Geld zu verfügen und damit zu wirtschaften, weshalb sich die vorübergehende Erstattung einer Steuer positiv auf die Liquidität des Steuerpflichtigen auswirkt. Eine Verzinsung auch für diesen Zeitraum würde demnach zu einer Überkompensation führen und stünde daher im Widerspruch zum Sinn und Zweck der Regelung und zu den Motiven des Gesetzgebers. Dass der Steuerpflichtige damit rechnen muss, nach Abschluss des Klageverfahrens die Abgaben möglicherweise wieder -endgültig- zahlen zu müssen, führt zwar dazu, dass er das Geld nicht langfristig anlegen bzw. völlig frei darüber verfügen kann. Allerdings zielt § 236 AO nicht darauf ab, einen Schaden vollständig zu ersetzen, sondern aus Billigkeitsgründen Härten abzumildern. Sofern dem Steuerschuldner ein darüber hinaus gehender Schaden entsteht, muss er diesen auf dem Zivilrechtsweg geltend machen.

Dass dadurch der zu verzinsende Zeitraum im Streitfall in zwei Teile geteilt worden ist, und zweimal gemäß § 238 Abs. 1 Satz 2 AO angefangene Monate außer Ansatz geblieben sind, führt nicht zu einem anderen Ergebnis. Wie ausgeführt, dient die Gewährung von Prozesszinsen nicht einem vollständigen Ersatz des dem Steuerschuldner entstanden Schadens, sondern soll nur die Härten ausgleichen, die durch die Zahlung trotz Rechtshängigkeit der Klage entstehen. Einer Billigkeitsregel ist eine gewisse Pauschalierung immanent.

Weiterlesen:
Die von Dritten eingeholten Auskünfte des Betriebsprüfers - und das Verwertungsverbot

Schließlich kann die Steuerpflichtige auch nicht mit ihrem Einwand durchdringen, die Verkürzung des Zinslaufs stelle bei einem nichtigen Steuergesetz einen Verstoß gegen die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG dar. Die Klägerin stellt maßgeblich darauf ab, dass sie mit den aufgrund der gewährten AdV ausgekehrten Mitteln nicht in dem üblichen Maße habe wirtschaften können. Diese -behauptete- Einschränkung betrifft allerdings lediglich das Vermögen, welches an sich nicht in den Eigentumsschutz einbezogen ist26.

Bundesfinanzhof, Urteil vom 17. Mai 2022 – VII R 34/19

  1. vgl. RGBl 1919, 1993, 2021 ff.[]
  2. Begründung zum Entwurf der Reichsabgabenordnung, Drucks Nr. 759 der Deutschen Nationalversammlung, S. 110[]
  3. vgl. RGBl – I 1931, 161, 182[]
  4. vgl. RGBl – I 1934, 925, 929[]
  5. BT-Drs. III/2573[]
  6. vgl. BT-Drs. 2573, S. 11; Art. 16 des Steueränderungsgesetzes 1961 -StÄndG 1961- vom 13.07.1961, BGBl I 1961, 981, 993[]
  7. vgl. BT-Drs. III/2573, S. 12 f.; Art. 17 StÄndG 1961 vom 13.07.1961, BGBl I 1961, 981, 995[]
  8. vgl. Begründung zu Art. 11 StÄndG 1961, BT-Drs. III/2573, S. 33, 35 und 36 f.[]
  9. vgl. Begründung zu § 66 des Entwurfs einer Finanzgerichtsordnung vom 02.08.1963, BT-Drs. IV/1446, S. 51, der § 155 RAO entsprach[]
  10. vgl. BGBl I 1965, 1477, 1499[]
  11. vgl. BGBl I 1965, 1477, 1491[]
  12. BR-Drs. 23/71, S. 57 und 172; vgl. auch bereits Begründung zum Gesetzentwurf einer Abgabenordnung, BT-Drs. VI/1982, S. 172, Gesetzentwurf der Fraktionen SPD, FDP vom 25.01.1973, BT-Drs. 7/79, S. 58, und Gesetzentwurf der Bundesregierung eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Steuerberatungsgesetzes vom 27.11.1974, BT-Drs. 7/2852, S. 27, 48[]
  13. vgl. BR-Drs. 23/71, S. 171[]
  14. vgl. BR-Drs. 726/75, S. 64[]
  15. vgl. BGBl I 1976, 613, 667; vgl. auch BR-Drs. 726/75, S. 64[]
  16. Kühn/Kutter/Hofmann, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, 12. Aufl., § 236 AO, S. 622[]
  17. zu § 4b StSäumG: Hübschmann/Hepp/Spitaler -HHSp-, Kommentar zur Reichsabgabenordnung, 1.-6. Aufl., § 4b StSäumG Rz 3; Klein/Rüsken, AO, 15. Aufl., § 236 Rz 2; vgl. auch Pahlke in Schwarz/Pahlke, AO/FGO, § 236 Rz 1 f.; Heuermann in HHSp, § 236 AO Rz 5[]
  18. Koch, Deutsche Steuer-Zeitung -DStZ- 1961, 194, 200[]
  19. Koenig/Koenig, Abgabenordnung, 4. Aufl., § 236 Rz 1, m.w.N.; Schneider in eKomm [01.01.2015], § 236 AO, Rz 1, m.w.N.; Kögel in Gosch, AO § 236 Rz 5, mit Verweis auf die BFH, Urteile vom 16.05.2013 – II R 20/11, BFHE 241, 320, BStBl II 2013, 770; und vom 25.01.2007 – III R 85/06, BFHE 216, 405, BStBl II 2007, 598, m.w.N.[]
  20. zu § 4b StSäumG: HHSp, Kommentar zur Reichsabgabenordnung, 1.-6. Aufl., § 4b StSäumG Rz 12; Koch, DStZ 1961, 194, 201; Klein/Rüsken, AO, 15. Aufl., § 236 Rz 23; Schneider in eKomm [01.01.2015], § 236 AO, Rz 14; Kögel in Gosch, AO § 236 Rz 33[]
  21. Klein/Rüsken, AO, 15. Aufl., § 236 Rz 23[]
  22. Loose in Tipke/Kruse, § 236 AO Rz 23[]
  23. vgl. BFH, Urteile vom 16.11.2000 – XI R 31/00, BFHE 196, 1, BStBl II 2002, 119, unter II. 1.; in BFHE 216, 405, BStBl II 2007, 598, und in BFHE 241, 320, BStBl 2013, 770, Rz 17[]
  24. vgl. BFH, Beschluss vom 08.02.1972 – VII B 170/69, BFHE 104, 508, BStBl II 1972, 429[]
  25. BFHE 209, 409, BStBl II 2005, 683[]
  26. vgl. Papier/Shirvani in Dürig/Herzog/Scholz, Komm. z. GG, Art. 14 Rz 277[]
Weiterlesen:
Der Vorläufigkeitsvermerk im Steuerbescheid - und das Rechtsschutzbedürfnis