Rechtliches Gehör – und die abweichende Auffassung des Gerichts

Der Anspruch auf rechtliches Gehör i.S. von Art. 103 Abs. 1 GG, § 96 Abs. 2 und § 119 Nr. 3 FGO verpflichtet das Gericht u.a., die Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen, in Erwägung zu ziehen und sich mit dem entscheidungserheblichen Kern des Vorbringens auseinanderzusetzen. Dabei ist das Gericht naturgemäß nicht verpflichtet, der tatsächlichen Würdigung oder der Rechtsansicht eines Beteiligten zu folgen.

Rechtliches Gehör – und die abweichende Auffassung des Gerichts

er Anspruch auf rechtliches Gehör i.S. von Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG), § 96 Abs. 2 und § 119 Nr. 3 FGO verpflichtet das Gericht u.a., die Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen, in Erwägung zu ziehen und sich mit dem entscheidungserheblichen Kern des Vorbringens auseinanderzusetzen. Dabei ist das Gericht naturgemäß nicht verpflichtet, der tatsächlichen Würdigung oder der Rechtsansicht eines Beteiligten zu folgen1. Art. 103 Abs. 1 GG und § 96 Abs. 2 FGO sind erst dann verletzt, wenn sich aus den besonderen Umständen des Einzelfalls ergibt, dass das Gericht Vorbringen entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei seiner Entscheidung ersichtlich nicht in Erwägung gezogen hat2.

Der Anspruch auf rechtliches Gehör umfasst das Recht der Verfahrensbeteiligten, sich vor Erlass einer Entscheidung zu den entscheidungserheblichen Tatsachen und -gegebenenfalls- Beweisergebnissen zu äußern, sowie in rechtlicher Hinsicht alles vorzutragen, was sie für wesentlich halten. Darüber hinaus gebietet es der Anspruch auf rechtliches Gehör, für die Prozessbeteiligten überraschende Entscheidungen zu unterlassen. Eine Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn das Finanzgericht sein Urteil auf einen bis dahin nicht erörterten oder nicht bekannten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Auffassungen nach dem bisherigen Verlauf der Verhandlung nicht rechnen musste. Dies kann insbesondere der Fall sein, wenn ein entscheidungserheblicher Umstand vom Finanzgericht erst mit dem Endurteil in das Verfahren eingebracht wird3.

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Im vorliegenden; vom Bundesfinanzhof entschiedenen Fall konnte sich der Kläger nicht mit Erfolg auf eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör durch das erstinstanzlich mit dem Verfahren befasste Hessische Finanzgericht4 berufen:

Im Streitfall bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass das Finanzgericht Vorbringen des Klägers nicht zur Kenntnis genommen oder bei seiner Entscheidung ersichtlich nicht in Erwägung gezogen hat. Das Finanzgericht hat sich sowohl in den beiden Terminen zur mündlichen Verhandlung als auch in der angefochtenen Entscheidung umfangreich mit dem Vorbringen des Klägers befasst. Es hat in beiden Terminen das Rechtsgespräch mit den Beteiligten gesucht und sich mit den vorgebrachten Gesichtspunkten zur Einordnung der streitigen Zahlung ausführlich auseinandergesetzt.

Eine Überraschungsentscheidung liegt ebenso wenig vor. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass das Finanzgericht nicht verpflichtet ist, den Beteiligten die einzelnen für seine Entscheidung maßgeblichen Gesichtspunkte im Voraus anzudeuten5. Ebenso wenig muss es einen Hinweis auf seine Rechtsauffassung geben6.

Selbst wenn der Kläger etwaige Äußerungen des Bundesfinanzhofs des Finanzgerichts in der mündlichen Verhandlung als Hinweis auf einen möglicherweise positiven Prozessausgang verstehen konnte, führt das Unterlassen weiteren Vorbringens nicht zu einem Gehörsverstoß. Da das Gericht grundsätzlich weder zu einem Rechtsgespräch noch zu einem Hinweis auf seine Rechtsauffassung verpflichtet ist, muss ein -zumal durch einen Rechtsanwalt und Steuerberater sachkundig vertretener- Verfahrensbeteiligter, auch wenn die Rechtslage umstritten oder problematisch ist, alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und seinen Vortrag darauf einstellen7.

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Bundesfinanzhof, Beschluss vom 20. Juli 2022 – IX B 9/21

  1. vgl. BVerfG, Beschluss vom 11.06.2008 – 2 BvR 2062/07, DVBl. 2008, 1056; BFH, Beschluss vom 11.05.2011 – V B 113/10, BFH/NV 2011, 1523, Rz 6[]
  2. vgl. u.a. BFH, Beschlüsse vom 10.09.2014 – IX S 10/14, BFH/NV 2015, 47, Rz 2; und vom 23.03.2016 – IX B 22/16, BFH/NV 2016, 1013, Rz 7[]
  3. z.B. BFH, Beschluss vom 23.02.2017 – IX B 2/17, BFH/NV 2017, 746, Rz 15[]
  4. Hess. FG, Urteil vom 07.12.2020 – 9 K 1011/19[]
  5. BFH, Urteil vom 24.04.1990 – VIII R 170/83, BFHE 160, 256, BStBl II 1990, 539, unter 1.[]
  6. BFH, Beschluss vom 09.11.2011 – II B 105/10, BFH/NV 2012, 254, Rz 13[]
  7. BVerfG, Beschluss vom 19.05.1992 – 1 BvR 986/91, BVerfGE 86, 133, unter C.III. 1.a; Gräber/Ratschow, a.a.O., § 119 Rz 15, m.w.N.[]

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